| # taz.de -- Kriminalisierung von Flucht: 37 Minuten im Gericht, 46 Jahre Knast | |
| > Die Kriminalisierung von Migrant:innen und Helfer:innen in der EU | |
| > nimmt zu. Das Steuern eines Boots kann Jahrzehnte im Gefängnis nach sich | |
| > ziehen. | |
| Bild: Könnte schon strafbar sein: Segler helfen an der Küste von Lampedusa Mi… | |
| Seenotrettung, Unterbringung oder bloße Verteilung von Lebensmitteln: 2023 | |
| standen in der EU mindestens 117 Personen vor Gericht, weil sie sich mit | |
| Migrant:innen solidarisiert hatten. Das ergab eine Auswertung der NGO | |
| Picum [1][(pdf)]. Die meisten wurden demnach wegen Beihilfe zur illegalen | |
| Einreise oder zum Aufenthalt oder wegen der Schleusung von Migrant:innen | |
| angeklagt. | |
| Die Zahlen steigen der Untersuchung zufolge seit Jahren an, seien aber „nur | |
| die Spitze des Eisbergs“, sagte Picum-Direktorin Michele LeVoy. Die | |
| Dunkelziffer sei hoch, offizielle Statistiken gebe es nicht. LeVoy | |
| kritisierte, dass die EU bei der Bekämpfung des Menschenschmuggels auch | |
| weiterhin humanitäre Handlungen nicht von einer möglichen Kriminalisierung | |
| ausnehmen will. Die meisten der registrierten Fälle gab es der Untersuchung | |
| zufolge in Italien (74), gefolgt von Griechenland (31). In Lettland wurden | |
| zwei Bürger:innen wegen Beihilfe zur illegalen Einreise angeklagt, weil | |
| sie Migrant:innen, die an der Grenze zu Weißrussland gestrandet waren, | |
| Lebensmittel und Wasser gaben. | |
| „Die Kriminalisierung der Solidarität mit Migranten ist eng mit der | |
| Kriminalisierung der Migration selbst verknüpft“, sagte LeVoy. Es handele | |
| sich um „ein Kontinuum restriktiver Migrationspolitiken, die den | |
| Grenzübertritt unsicher machen und ein feindliches Umfeld für diejenigen | |
| schaffen, die als irregulär eingereist gelten“. | |
| Seit 2020 [2][regelt etwa in Griechenland ein Gesetz den Straftatbestand | |
| der Beihilfe] zur illegalen Einreise neu. Seither kann praktisch jede Form | |
| der Unterstützung – medizinische Versorgung, Transport, Seenotrettung | |
| innerhalb der Hoheitsgewässer oder die Ausgabe von Lebensmitteln – | |
| strafrechtlich verfolgt werden, wenn die Personen noch nicht behördlich | |
| registriert, also gerade angekommen sind. Hilfeleistung ist zwar | |
| theoretisch erlaubt, Helfer:innen müssen sich aber zuvor mit den | |
| Behörden, etwa der Küstenwache, koordinieren. Diese kann die Unterstützung | |
| ablehnen. Werden die Helfer:innen trotzdem aktiv, droht ihnen | |
| Strafverfolgung. | |
| Mitarbeiter:innen von Ärzte ohne Grenzen (MSF) in Griechenland | |
| berichten der taz, dass sie in Notfällen nicht einmal Schwangere oder | |
| Menschen mit Knochenbrüchen, die an den Küsten der Ägäis-Inseln ankommen, | |
| versorgen können, ohne juristische Folgen befürchten zu müssen. Würde man | |
| sich bei Hilfseinsätzen mit anderen NGOs koordinieren, könnte dies als | |
| „organisiertes Verbrechen“ ausgelegt werden. | |
| Beihilfe zur illegalen Einreise wird in Griechenland mit zehn Jahren Haft | |
| geahndet – pro Person. Zwar sei es bisher nicht zu Gerichtsverfahren gegen | |
| Europäer:innen gekommen, „aber es ist ein sehr schmaler Grat, auf dem | |
| wir uns hier bewegen“, sagt ein Koordinator von MSF. Umso mehr Verfahren | |
| gibt es gegen Geflüchtete, die wegen Schlepperei angeklagt werden, weil sie | |
| Boote gesteuert haben. In Griechenland würden Ankommende von der Polizei | |
| unter Druck gesetzt, um Mitfahrende zu beschuldigen. „Sie versuchen, einen | |
| pro Boot dranzukriegen“, sagte eine Sprecherin der NGO [3][Border Violence | |
| Monitoring Network] in Griechenland. | |
| Nach einer Zählung der NGO Borderline Europe saßen schon 2022 über 2.000 | |
| Migrant:innen nach solchen Verfahren in griechischen Gefängnissen. 2022 | |
| wurden laut Borderline Europe mindestens 1.374 Personen wegen Schmuggels | |
| verhaftet, in Italien waren es 2022 und 2023 insgesamt 550. [4][Eine | |
| Auswertung von 81 Verfahren in Griechenland] aus 2022 und 2023 ergab, dass | |
| die Verhandlungen im Schnitt 37 Minuten dauerten. Am Ende stand eine | |
| durchschnittliche Haftstrafe von 46 Jahren. | |
| Derweil bekamen am vergangenen Samstag in Valetta Abdalla Bari, Amarah | |
| Kroma und Abdul Kader den Preis für Menschenrechtsverteidiger der | |
| Universität Malta von Maltas Ex-Präsidentin Marie-Louise Coleiro Preca | |
| überreicht. Die drei sind seit Dezember 2023 auf Malta wegen Terrorismus | |
| angeklagt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, den Öltanker „El Hiblu | |
| 1“ entführt zu haben, nachdem sie 2019 mit über 100 weiteren Geflüchteten | |
| von der Besatzung aus Seenot gerettet worden waren. Ihnen drohen 30 Jahre | |
| Haft, obwohl die damals Minderjährigen nach Zeugenaussagen zwischen dem | |
| Kapitän und aufgebrachten Migrant:innen vermittelt hatten. Coleiro Preca | |
| nannte den Prozess gegen die jungen Männer eine „Farce.“ | |
| 19 Apr 2024 | |
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| [2] /Kriminalisierung-von-Seenotrettung/!5972053 | |
| [3] /Innenministerin-zu-Migration-in-die-EU/!5889758 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
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