| # taz.de -- Misshandlung im Gefängnis: Der falsche Angeklagte | |
| > Ein Häftling wird in der Untersuchungshaft mutmaßlich von einem Wärter | |
| > misshandelt. Doch die Staatsanwaltschaft klagt den Häftling an. | |
| Bild: Unbeliebt unter Häftlingen: Hamburger Untersuchungshaftanstalt | |
| Hamburg taz | Die Hamburger [1][Untersuchungshaftanstalt hat unter den | |
| Häftlingen einen schlechten Ruf]. Der Ton der Mitarbeitenden gegenüber den | |
| Inhaftierten ist unhöflich bis aggressiv, es herrscht ein unangenehmes | |
| Klima, viele Häftlinge fühlen sich gegängelt – so berichten es | |
| Anwält*innen und Mitarbeiter*innen anderer Einrichtungen. Wer aus | |
| einer anderen Hafteinrichtung dorthin muss, tut alles dafür, dass es nicht | |
| an einem Freitag passiert – denn dann läuft man Gefahr, das ganze | |
| Wochenende dort bleiben zu müssen. Der letzte Gefangenentransport zurück zu | |
| den anderen Anstalten fährt um 13 Uhr ab. | |
| Auch Karvan P. wollte nicht an einem Freitag [2][von seiner | |
| Hafteinrichtung] in Ochsenzoll zur Untersuchungshaftanstalt am | |
| Holstenglacis gebracht werden, aber er musste. Für einen Arzttermin wurde | |
| er an einem Freitag im April 2023 zum Justizvollzugskrankenhaus in der | |
| U-Haft gebracht. Es kam schlimmer als befürchtet: P. geriet mit einem | |
| Wärter aneinander, es gab einen verbalen Schlagabtausch, Schläge und | |
| Tritte, am Ende hatte P. Hämatome am Oberkörper und in der Leistengegend. | |
| P. wurde in einen besonders gesicherten Haftraum gebracht, musste sich | |
| nackt ausziehen und das Wochenende dort ausharren, bis er am Montag zurück | |
| in seine Einrichtung konnte. „Er stand am Montagmorgen völlig aufgelöst bei | |
| mir im Büro und weinte“, sagt der Justizvollzugsbeamte. | |
| Mitte Juni steht P. wegen des Vorfalls vor Gericht – als Angeklagter, nicht | |
| als Geschädigter. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm tätlichen Angriff, | |
| Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Körperverletzung vor. Dem Wärter | |
| wird nichts vorgeworfen, er ist lediglich als Zeuge geladen. | |
| ## Die Staatsanwaltschaft habe einseitig ermittelt | |
| „Dieses Verfahren muss sofort eingestellt werden“, fordert P.s Anwalt, | |
| Matthias Wisbar. „Es liegen grobe Rechtsverstöße vor.“ Die | |
| Staatsanwaltschaft habe sich bei ihren Ermittlungen nicht dafür | |
| interessiert, was P. zu dem Vorfall zu Protokoll gegeben habe. Sie habe | |
| einseitig ermittelt und gegen das Legalitätsprinzip verstoßen. Das | |
| Legalitätsprinzip besagt, dass Strafverfolgungsbehörden tätig werden | |
| müssen, wenn sie einen [3][Anfangsverdacht für eine Straftat] sehen. | |
| In diesem Fall, so Wisbar, hätten die Hämatome sowie der Bericht von P. | |
| gegenüber seiner Haftanstalt Hinweise für einen Anfangsverdacht geliefert. | |
| „Die Staatsanwaltschaft hätte auf die Idee kommen müssen, dass es eine | |
| Straftat ist, wenn ein Wärter einen Häftling misshandelt“, sagt Wisbar. | |
| „Sie haben in vielen Punkten Recht“, gibt die Richterin beim Prozessauftakt | |
| zu und räumt Versäumnisse ein. Und nun? Verfahren einstellen? Dazu wäre sie | |
| bereit, gibt sie zu erkennen. Aber die Staatsanwaltschaft nicht. | |
| Also verhandelt das Gericht, ein neuer Termin wird angesetzt, Zeug*innen | |
| werden vernommen. Die Staatsanwaltschaft soll parallel das | |
| Ermittlungsverfahren gegen den Wärter einleiten. Der Wärter selbst, | |
| Christoph O., sagt aus, sich an nichts mehr erinnern zu können. In dem | |
| Bericht, den er nach dem Vorfall verfasst hat, hatte er ausgeführt, bei der | |
| Essensausgabe mit P. aneinandergeraten zu sein. | |
| P. habe Klopapier in Haftraum verteilt. O. habe ihn aufgefordert, dieses | |
| aufzuräumen. Daraufhin habe P. ihn angegriffen, geschlagen und getreten. | |
| O.s Kollegin betätigte den Alarmknopf, mehrere Wärter kamen und fixierten | |
| P. auf dem Boden. An all das habe O. aber keine Erinnerungen mehr. O.s | |
| Kollegin bestätigt O.s Geschichte, kann aber ebenfalls keine Details | |
| nennen. | |
| P. selbst hatte in einem Bericht, der der Gerichtsakte beiliegt, die | |
| Ereignisse folgendermaßen geschildert: „Ich kam in der U-Haft in eine Zelle | |
| und wartete auf den Arzttermin. Niemand sagte mir, wann der stattfinden | |
| würde.“ Zwei Mal habe er über die Gegensprechanlage Kontakt mit den | |
| Beamt*innen aufgenommen, um Auskunft zu erhalten. Ein Beamter sei | |
| gekommen und habe harsch gefragt, warum er den Notknopf gedrückt habe. Er | |
| sei sehr respektlos gewesen und habe P. nicht zugehört. Eine Weile später | |
| habe der Arzttermin stattgefunden. P. habe sich auf die Liege gelegt um zu | |
| dösen, bis der Gefangenentransport ihn mit zurücknähme – allerdings nicht, | |
| ohne vorher Toilettenpapier auf die Liege zu legen, weil diese, wie der | |
| ganze Raum, sehr verdreckt gewesen sei. | |
| ## Die sozialtherapeutische Anstalt glaubt P. | |
| Als zwei Beamt*innen ihm Mittagessen angeboten hätten, habe er | |
| abgelehnt. Der aggressive Beamte von vorher habe gesagt, er solle das | |
| Papier wegräumen. Als P. aufgestanden sei, habe der Beamte ihn geschubst, | |
| als P. schützend seine Arme vor sich gehalten habe, habe O. ihn geschlagen. | |
| „Ich schrie um Hilfe, es kam eine andere Beamtin und hielt meine Beine | |
| fest. Ich hatte große Angst und dachte, ich muss sterben“, sagt P. | |
| Am zweiten Verhandlungstag sagt eine Abteilungsleiterin der | |
| sozialtherapeutischen Anstalt aus, in der P. inhaftiert war. „Als er aus | |
| der U-Haft zurück kam, wirkte er sehr belastet. Er war instabil und weinte | |
| viel“, sagt sie dem Gericht. Die Mitarbeiter*innen hätten sich große | |
| Sorgen gemacht. Sie hätten seine Verletzungen dokumentiert und bei der | |
| U-Haftanstalt gefragt, was los gewesen sei. „Es war sehr ungewöhnlich, dass | |
| wir keine Meldung von der U-Haftanstalt bekommen hatten“, sagt die | |
| Abteilungsleiterin. Erst nach und nach sei ihnen berichtet worden, dass P. | |
| angeblich ausgerastet sei. Die Abteilungsleiterin kenne P. hingegen als | |
| ruhigen und freundlichen Menschen, der anderen gegenüber nie aggressiv | |
| auftrete. | |
| Nach ihrer Aussage zweifelt auch die Staatsanwältin am Sinn des Verfahrens | |
| und plädiert auf Freispruch. P.s Verteidiger fasst die Verhandlung bis | |
| hierhin zusammen: „Wir wissen, dass P. in der U-Haft verletzt wurde, dass | |
| die Staatsanwaltschaft Kenntnis davon hatte und es sie nicht interessiert | |
| hat.“ Des Weiteren habe das Gericht einen Zeugen gesehen, der sich ein | |
| Jahr, nachdem er angeblich angegriffen wurde, nicht daran erinnern könne, | |
| eine Zeugin, die Quatsch erzähle – und das alles werde von der | |
| U-Haftanstaltsleitung gedeckt. „Und von all diesen Personen sitzt hier Herr | |
| P. als Angeklagter“, sagt Wisbar. „Das finde ich, gelinde gesagt, eine | |
| Sauerei.“ Mit Rechtsstaatlichkeit habe das Verfahren nichts zu tun. | |
| Das letzte Wort gehört am Mittwoch Karvan P. „Im Iran habe ich viel Gewalt | |
| erlebt“, sagt er. „So etwas in Deutschland zu erleben, hätte ich in meinen | |
| schlimmsten Träumen nicht gedacht.“ Nach dem Vorfall sei es ihm sehr | |
| schlecht gegangen, er habe nächtelang nicht schlafen können. Doch er sei in | |
| Therapie und lerne, damit umzugehen. „Deshalb verzeihe ich den Beamten“, | |
| sagt P. „Ich möchte nur gerecht behandelt werden. Gerechtigkeit ist ein | |
| Bedürfnis der Menschheit.“ | |
| Die Richterin spricht P. frei. Der bedankt sich, verabschiedet sich von | |
| seinem Anwalt und wird von zwei Justizbeamten wieder in die Haft gebracht. | |
| Er hat noch ein paar Jahre abzusitzen. | |
| Apropos Gerechtigkeit: Die Staatsanwaltschaft hat bislang kein Verfahren | |
| gegen den Wärter O. eingeleitet. | |
| 3 Jul 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katharina Schipkowski | |
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