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# taz.de -- Harvey Weinstein und #metoo: Die Justiz braucht ein Update
> Harvey Weinstein soll am Mittwoch erneut vor Gericht. Was es bräuchte:
> Eine modernisierte Rechtsprechung für Fälle sexueller Gewalt.
Bild: Es braucht einen neuen Blick. Weinstein sieht zu Jessica Mann, die ein St…
[1][23 in New York], [2][16 in Los Angeles]. Zu so vielen Jahren hatten die
jeweiligen Gerichte Harvey Weinstein wegen Sexualdelikten verurteilt. Doch
die 23 Jahre fallen nun erstmal weg. Eine einzige Stimme war es, die am
vergangenen Freitag dafür sorgte, dass [3][das New Yorker Urteil von 2020
aufgehoben wurde].
Viele halten das für einen Rückschritt für [4][#MeToo], wo sein
Strafverfahren die Bewegung doch ausgelöst hatte. Doch das ist es nicht.
Vielmehr zeigt die Entscheidung, dass wir vor lauter gesellschaftlichem
Fortschritt vergaßen, dafür zu sorgen, dass auch das Justizsystem mitzieht.
Mit einem Verhältnis von 4 zu 3 entschieden die Richter_innen des
Berufungsgerichtes, zum Großteil Frauen, dass das ursprüngliche Urteil
unrechtmäßig gewesen sei. Im Verfahren wurden Zeuginnen (z. B.
Schauspielerin Lauren Young, Schauspielerin und Produzentin Dawn Dunning
und Model Tarale Wolff) über ihre Missbrauchserfahrungen vernommen, obwohl
diese Frauen eigentlich nicht Teil der Anklage waren.
Angeklagte dürfen aber nur nach den ihnen vorgeworfenen Taten beurteilt
werden, die im Fall Weinstein aus den Vorwürfen zweier anderer Frauen
bestanden: Produktionsassistentin [5][Mimi Haleyi soll Weinstein 2006 zum
Oralsex gezwungen] und die [6][heutige Friseurin Jessica Mann im Jahr 2013
vergewaltigt] haben.
## Muster der Manipulation
Die Aussagen der zusätzlichen Frauen dienten dazu, Muster der Manipulation
im Verhalten Weinsteins festzustellen und so zu zeigen, dass es sich wie im
Fall der Klägerinnen nicht um konsensuellen Sex handelte, wie die
Verteidigung behauptete. Dass der ursprüngliche Richter des Prozesses James
Burke zuließ, dass diese zusätzlichen Frauen vernommen wurden, soll ein
Fehler gewesen sein. So sahen es nun auch die Richter_innen, nachdem
Weinsteins Verteidiger in Berufung gegangen waren. Das New Yorker
Berufungsgericht hat die Hoheit über alle anderen Gerichte New Yorks.
Aus verschiedenen Gründen bestand die Basis des Prozesses nur aus den
Erfahrungen zweier Frauen. Andere mutmaßliche Opfer kamen aus anderen
Staaten, erfuhren „nur“ sexuelle Belästigung, was so nicht strafbar ist.
Oder ihr Fall war verjährt. Wiederum andere sahen sich aus psychischen
Gründen nicht dazu imstande. Deshalb benötigte die Staatsanwaltschaft die
zusätzlichen Zeuginnen. Die Präsenz von Zeug_innen, die über frühere
schlechte Handlungen des Angeklagten Auskunft geben sollen, sogenannte
„[7][Molineux-Zeug_innen]“, sollen beweisen, dass es sich um
Verhaltensmuster handelt. Weinstein konnte dies aber, laut vier der sieben
Richter_innen, nicht nachgewiesen werden.
Ist die Welt, in der wir seit dem Urteil am Freitag leben, nun wieder
schlechter geworden? Anhänger der Rechtsprechung dürften sagen: Nein. Einer
von Weinsteins Anwälten sagte nach dem gekippten Urteil: „Man kann jemanden
nicht aufgrund seines gesamten Lebens verurteilen.“ Im Vakuum eines
Gerichtsaals mag das gerecht erscheinen.
## Gesetze müssen lebendig sein
Gesetze aber sind immer ein Einblick in die Zeit, in der wir gerade leben.
[8][Professor David Strauss von der University of Chicago schreibt], dass
auch die Verfassung lebendig ist. „Eine unveränderliche Verfassung würde
schlecht zu unserer Gesellschaft passen. Entweder würde sie ignoriert oder,
schlimmer noch, sie wäre ein Hindernis, ein Relikt, das uns am Fortschritt
hindert (…).“
Sicher, wer Gesetze, gar die Verfassungen ändern will, sollte mehr als ein
Mal darüber schlafen. Doch nicht erst die jetzige Aufhebung des
Weinstein-Urteils zeigt, dass die Justiz in Sachen sexueller Gewalt ein
dringendes Update braucht.
In einer [9][Stellungnahme] kritisierten die drei unterlegenen Richter des
Berufungsgerichts, dass ihre Kolleg_innen einen gefährlichen Trend
fortsetzen würden: Schuldsprechungen in Fällen sexueller Gewalt aufzuheben.
War der Weinstein-Fall vor nicht allzu langer Zeit noch ein Lichtblick, ein
Meilenstein der Rechtsgeschichte, eine Hoffnung für Opfer von sexueller
Gewalt, zeigt die Aufhebung jetzt, dass die rechtlichen Grundlagen dem
Wandel dringend folgen müssen. Denn auch wenn #MeToo einen
gesellschaftlichen Wandel mit sich brachte – wie viel ist der Wert, wenn es
an solch entscheidenden Stellen wie der Verurteilung scheitert?
## Kalifornisches Urteil wird auch angefochten
Ob das New Yorker Verfahren erneut aufgenommen wird, muss nun die
Staatsanwaltschaft entscheiden. [10][Expert_innen halten das für eher
unwahrscheinlich.] Und weil die Ausgangssituation ohnehin schon
unübersichtlich war (lediglich zwei der Opfer waren Teil der Klage und die
hatten zudem zu anderen Zeitpunkten auch konsensuellen Sex mit Weinstein
gehabt), werden seine Chancen vermutlich nicht schlecht stehen, sollte das
Verfahren erneut aufgenommen werden. Genau deswegen hatte die
Staatsanwaltschaft ursprünglich überhaupt erst das Risiko auf sich
genommen, die Molineux-Zeuginnen zu vernehmen.
Eine grundlegende Veränderung ist jetzt gefragt. Das Recht muss sich der
Realität anpassen. Sonst dürfen die [11][Steven Tylers], [12][Kobe
Bryants], [13][Till Lindemanns], [14][Russel Brands], [15][P. Diddys],
[16][Prinz Andrews], [17][Kevin Spaceys], [18][Jaime Foxxs], [19][Louis
C.Ks] und deren Gleichen in alle Ewigkeit mit weißen Westen und süffisantem
Lächeln durch die Welt marschieren. Vielleicht auch Weinstein. Denn selbst
wenn die 16 Jahre in Los Angeles noch stehen, auch die möchten seine
Anwält_innen kommenden Monat anfechten. In diesem Prozess gab es ebenfalls
Molineux-Zeuginnen.
Allerdings sehe das Kalifornische Gesetz deren Aussagen als beweiskräftiger
an, als es in New York der Fall ist, wie Gloria Allred, eine Anwältin der
drei Frauen im Kalifornischen Prozess, [20][der New York Times sagte]. Mit
dabei im Weinstein-Team für die kommende Anfechtung: [21][Jennifer Bonjean,
die Anwältin, die auch Bill Cosby erfolgreich aus dem Gefängnis verhalf].
30 Apr 2024
## LINKS
[1] /Strafmass-fuer-Harvey-Weinstein-verkuendet/!5671337
[2] /MeToo-Prozess/!5918063
[3] /MeToo-Prozess-gegen-Harvey-Weinstein/!6007105
[4] /5-Jahre-metoo/!5885447
[5] https://www.nytimes.com/2020/01/27/nyregion/harvey-weinstein-trial-mimi-hal…
[6] https://www.nytimes.com/2020/02/03/nyregion/harvey-weinstein-trial-jessica-…
[7] https://en.wikipedia.org/wiki/People_v._Molineux
[8] https://www.law.uchicago.edu/news/living-constitution
[9] https://www.nycourts.gov/ctapps/Decisions/2024/Apr24/24opn24-Decision.pdf
[10] https://www.business-standard.com/world-news/retrial-of-harvey-weinstein-u…
[11] https://www.theguardian.com/music/2024/feb/23/steven-tyler-sexual-assault-…
[12] https://www.nytimes.com/2020/01/27/sports/basketball/kobe-bryant-rape-case…
[13] /Ermittlungen-gegen-Lindemann-eingestellt/!5954836
[14] /Vorwuerfe-gegen-Russell-Brand/!5958458
[15] https://www.independent.co.uk/news/world/americas/allegations-against-didd…
[16] /Einigung-im-Missbrauchsprozess/!5831599
[17] /Vorwuerfe-von-sexuellen-Uebergriffen/!5951463
[18] https://www.cbsnews.com/news/lawsuit-accuses-actor-jamie-foxx-new-york-cit…
[19] /Belaestigungsvorwuerfe-gegen-Comedian/!5461815
[20] https://www.nytimes.com/2024/04/26/nyregion/weinstein-conviction-appeal-ca…
[21] https://www.nytimes.com/2022/09/19/arts/music/jennifer-bonjean-r-kelly-bil…
## AUTOREN
Valérie Catil
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