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# taz.de -- Daphne Hahn zum Stigma der Abtreibung: „Alle Frauen fühlten sich…
> Wissenschaftler*innen haben Erfahrungen ungewollt Schwangerer in
> Deutschland untersucht. Die Studienleiterin über mangelnde Versorgung und
> sozialen Druck.
Bild: Die Versorgung von ungewollt Schwangeren ist schwierig: medizinischer Rau…
taz: Frau Hahn, Sie haben zum ersten Mal in Deutschland Erfahrungen und
Lebenslagen ungewollt Schwangerer untersucht. Jetzt liegen erste Ergebnisse
vor. Was haben Sie herausgefunden?
Daphne Hahn: Mehr als die Hälfte der befragten Frauen fand es schwierig,
ausreichende und gute Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen zu finden.
Von denen wiederum hatte die Hälfte Angst, dass schlecht über sie gedacht
wird, wenn sie einen Abbruch wollen. Fast die Hälfte wollte oder musste den
Abbruch geheim halten. Beides spiegelt Stigma wider.
Konnten denn alle ungewollt Schwangeren einen Abbruch bekommen?
Ja. Aber fast ein Drittel konnte den Abbruch nicht mit der Methode
vornehmen lassen, die sie bevorzugt hätten, einer Absaugung beispielsweise
oder einen medikamentösen Abbruch. Es gibt allerdings regionale
Unterschiede.
Wie sehen die aus?
Unsere Daten zeigen sehr unterschiedliche Versorgungslagen innerhalb
Deutschlands. In 85 von 400 untersuchten Landkreisen werden die Kriterien
für eine angemessene Erreichbarkeit nicht erfüllt. Das heißt, ungewollt
Schwangere können dort innerhalb von 40 Minuten keine Einrichtung
erreichen, die einen Abbruch macht.
Können Sie sagen, wo die Versorgungslage hierzulande besser oder schlechter
ist?
Länder mit geringerem Versorgungsgrad sind etwa Baden-Württemberg, das
Saarland und Rheinland-Pfalz. Mittleren Grad haben etwa Hessen, NRW und
Niedersachsen. Recht gut versorgt sind neben den Stadtstaaten auch Sachsen,
Thüringen und Sachsen-Anhalt.
Wie sind Sie zu den Daten gekommen? Ein Problem ist doch, dass es viel zu
wenig Daten zur Versorgungslage bei Abbrüchen gibt.
Wir können die Zahl der Einrichtungen, die Abbrüche machen, tatsächlich
nicht konkret benennen. Was wir aber sagen können: Es gibt sogenannte
Meldestellen, also Praxen und Kliniken. Dort müssen Ärzt*innen melden,
wenn sie Abbrüche durchführen. Die Anzahl der Meldestellen lässt allerdings
keinen eindeutigen Rückschluss auf die Anzahl der Einrichtungen zu, die
Abbrüche machen – da mehrere Ärzt*innen über eine Meldestelle melden
können und eine Ärzt*in auch über mehrere Meldestellen melden kann.
Sind Ihre Schlussfolgerungen dann überhaupt valide?
Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Meldungen zwischen den
Bundesländern signifikant unterschiedlich gehandhabt werden, weshalb
vergleichende Analysen zwischen den Bundesländern Aussagekraft haben.
Zusätzlich gibt es erstmals die Aussagen der Frauen über ihre Erfahrungen.
Wenn die sagen, wir mussten mehrere Einrichtungen anfragen, bis wir einen
Termin bekommen haben, und unsere Daten einen geringen Versorgungsgrad
zeigen, ist klar: Das hängt zusammen. Also ja, unsere Daten sind valide.
Was ist das Problem dabei, dass die Datenlage bisher so schlecht war?
Die Länder erheben die medizinischen Einrichtungen, in denen Frauen
Schwangerschaften abbrechen können, nicht systematisch. Das heißt aber
auch: Sie können ihren gesetzlichen Versorgungsauftrag nicht systematisch
erfüllen. Frauen, die in Regionen mit geringerem Versorgungsgrad leben,
berichten über viel mehr Barrieren beim Zugang, haben weitere Wege zu den
Praxen und zugleich höhere Kosten für den Abbruch selbst, die Wege oder
auch für Kinderbetreuung. Allerdings sollte es letztlich nicht nur um die
Anzahl der Versorgungseinrichtungen, sondern auch um die Qualität der
Versorgung gehen.
Was macht gute Versorgung aus?
Versorgung wird oft reduziert auf die direkte Situation eines Abbruchs.
Aber sie beginnt mit der Feststellung der Schwangerschaft in der
gynäkologischen Praxis und endet mit der Nachsorge. Gute Versorgung muss
sich an Evidenz orientieren, was einschließt, dass der Abbruch mit Methoden
durchgeführt wird, die die Frauen wünschen und die höchster medizinischer
Standard sind. Fast 20 Prozent der Frauen bekamen aber schon bei der
Feststellung der Schwangerschaft unerwünschte Informationen: Von diesen
wiederum gab fast die Hälfte an, dass ihnen ungefragt ein Ultraschallbild
des Fötus gezeigt wurde. Ebenso viele erhielten ungefragt Informationen
über Verhütung.
Was ist das Problem dabei?
Dass die Frauen nicht selbst entschieden haben, ob sie gerade zu diesem
Zeitpunkt Informationen über Verhütung haben möchten oder ob sie das
Ultraschallbild überhaupt sehen wollen. Sie nehmen das je nachdem als sehr
unpassend wahr.
Hat Sie irgendetwas von Ihren Ergebnissen überrascht?
Was mich wirklich überrascht hat, ist, dass doch recht viele Frauen
alternative Wege zu einem Schwangerschaftsabbruch in der gynäkologischen
Praxis suchen. Von den Frauen, die einen Abbruch hatten, suchten mehr als
zehn Prozent nach Informationen, um ihn außerhalb der regulären Angebote zu
bekommen. Das kann sein, dass sie sich im Internet Medikamente für den
Abbruch besorgen oder Angebote wie die der kanadischen NGO Women on Web
nutzen, die in Deutschland den telemedizinisch durchgeführten
medikamentösen Schwangerschaftsabbruch anbietet. Das ist schon recht
deutlich.
Was noch?
Sehr deutlich war die Schuldfrage. Alle von uns interviewten Frauen mit
Schwangerschaftsabbruch fühlten sich schuldig, dass bei ihnen die Verhütung
versagt hat. Diese Verantwortung wird ihnen gesellschaftlich zugeschrieben
– und sie nehmen sie an. In früheren Studien zur Jugendsexualität hat sich
gezeigt, dass in den ersten Jahren der sexuellen Erfahrung die
Verantwortung noch von beiden Partner*innen übernommen wird und sich
erst später auf die Frauen verlagert. Aber das Thema Verhütung muss
gesamtgesellschaftlich diskutiert werden und Männer müssen hier stärker in
die Verantwortung genommen werden.
Neben den Erfahrungen der Frauen ging es in Ihrer Studie auch um die
Erfahrungen [1][von Ärzt*innen, die Abbrüche machen]. Gibt es auch dafür
erste Ergebnisse?
Wie für die Frauen ist auch für die Ärzt*innen Stigmatisierung ein
wichtiges Thema. 65 Prozent der befragten Ärzt*innen, die Abbrüche
vornehmen, sagen, sie haben sowohl im privaten wie beruflichen Umfeld
Erfahrungen von Stigmatisierung gemacht. Ihre Arbeit wird nicht als gute,
wichtige medizinische Arbeit wahrgenommen, sondern als etwas Schmuddeliges,
Schlechtes. Ganze 24 Prozent der Ärzt*innen wurden schon einmal bedroht.
Was muss passieren, damit die Situation besser wird?
Zentral ist, dass die Stigmatisierung sowohl von ungewollt Schwangeren als
auch von Ärzt*innen abgebaut wird. Es braucht eine gesellschaftliche
Haltung, die Abbrüche als medizinische Grundversorgung anerkennt. Das würde
natürlich leichter, wenn Paragraf 218 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen
würde. Der führt mit dazu, dass die Versorgungssituation hierzulande
deutlich hinter dem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlenen
Standard herhinkt.
Wegen der Entfernung?
Nicht nur. In Deutschland werden noch viele Ausschabungen gemacht, obwohl
sie von der WHO nicht empfohlen werden. Sie sind mit höheren
gesundheitlichen Risiken verknüpft als zum Beispiel medikamentöse Abbrüche.
Aber es braucht auch eine gesellschaftliche Haltung, die Abbrüche als
medizinische Grundversorgung anerkennt. Und schließlich ist zentral, dass
das Informationsdefizit abgebaut wird.
Paragraf 219a, der es Ärzt*innen verboten hat, auf ihren Webseiten über
Schwangerschaftsabbrüche zu informieren, [2][wurde doch schon gestrichen.]
Für unsere Befragung hat der Paragraf keine große Rolle mehr gespielt, das
stimmt. Aber viele Ärzt*innen fürchten, angegriffen zu werden, weil sie
etwa auf ihrer Webseite schreiben, dass sie Abbrüche durchführen. Diese
Situation dürfte sich kaum verändert haben. Was dabei auch interessant ist:
Seit 2019 gibt es eine Liste der Bundesärztekammer, auf der Adressen
mancher Ärzt*innen stehen, die Abbrüche vornehmen. Der generelle Zugang
zu einer Einrichtung über diese Liste funktioniert nicht: Von den Frauen,
die danach suchten, kamen nur 3,4 Prozent über diese Liste an eine Adresse.
Ihre Studie ist im deutschen Kontext einmalig. Welchen Stellenwert hat sie
international?
Eine Studie, die den Schwangerschaftsabbruch aus so verschiedenen
Perspektiven empirisch untersucht, ist auch international meines Wissens
einmalig. Besonders ist, dass wir die Ergebnisse der Befragungen
gegenüberstellen können. Das heißt, wir verstehen, wie Frauen die Situation
rund um den Schwangerschaftsabbruch erleben, aber auch, wie Ärzt*innen, die
Abbrüche durchführen, sie erleben und welche Gründe es gibt, dass
Ärzt*innen keine Abbrüche machen.
Die Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung der Bundesregierung
empfiehlt die Legalisierung von Abbrüchen in den ersten drei Monaten
[3][(die taz berichtete)]. Würden Sie sagen, in die Debatte um den
Paragrafen 218 kommt gerade Bewegung?
Für uns als Studienautorinnen kommt es letztlich darauf an, ob es den
politischen Willen gibt, mit unseren Ergebnissen zu arbeiten. Ich wünsche
mir das sehr. Das ist ja genau das Ziel: Schlussfolgerungen zu ziehen, um
die Versorgung ungewollt schwangerer Frauen zu verbessern und ihre
reproduktive Gesundheit zu sichern.
10 Apr 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Patricia Hecht
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