# taz.de -- Wisente in Nordrhein-Westfalen: Eine Herde hinter Gittern | |
> Letzte Eskalation eines langen Streits: Der Umweltverband BUND will den | |
> Kreis Siegen-Wittgenstein verklagen. Er hat freie Wisente eingesperrt. | |
Bild: Gehen sich auch mal gerne aus dem Weg: Wisente in Wittgenstein | |
BERLIN taz | Naturschützer wollen eine eingesperrte Wisent-Herde in | |
Nordrhein-Westfalen befreien. Dafür will der Bund für Umwelt und | |
Naturschutz (BUND) NRW vor dem Verwaltungsgericht Arnsberg gegen den Kreis | |
Siegen-Wittgenstein klagen, damit dieser 40 Wildrinder aus einem Gatter | |
wieder in die Freiheit entlässt – und zwar schnell. Ihr Argument vor | |
Gericht: Die Wisente sind nach der Europäischen FFH-Richtlinie eine streng | |
geschützte Art. Sie dürfen demnach nicht eingefangen und festgehalten | |
werden. | |
Eile sieht der BUND geboten, weil in dem rund 24 Hektar großen Gehege sechs | |
fortpflanzungsfähige Bullen zusammen mit Kühen und Kälbern lebten, sagt | |
Holger Sticht, Landesvorsitzender des Bund NRW. Das seien viel zu viele | |
Tiere auf zu engem Raum. „24 Hektar mag viel klingen – ein Fußballplatz hat | |
etwa 0,7 Hektar“, rechnet Sticht. Doch in der Natur blieben Wisentbullen | |
immer nur phasenweise bei der Herde. Der unnatürliche Zustand im zu kleinen | |
Gatter könnte zu gefährlichen Revierkämpfen führen, befürchtet Sticht. | |
Die Klage ist die neueste Wendung in einem jahrelangen Streit um die bis zu | |
900 Kilogramm schweren Tiere, die seit 2013 im Rothaargebirge | |
umherstreifen. Begonnen hatte alles mit einem Freisetzungsversuch von acht | |
Wisenten, die der inzwischen verstorbene Waldbesitzer Richard zu | |
Sayn-Wittgenstein in seinem riesigen Forst im Südosten Nordrhein-Westfalens | |
unternommen hatte. Ein Trägerverein sollte das Projekt managen. Von Anfang | |
an hatte es viele Gegner, vor allem unter den Waldbesitzern in Wittgenstein | |
und im angrenzenden Sauerland. | |
Sie sahen die rindenfressenden Wildrinder als Schädlinge ihrer | |
Forstbetriebe und überzogen den Trägerverein mit Klagen. Mal gewann die | |
eine Seite, mal die andere, am Ende allerdings verfügten die Gerichte: Der | |
Trägerverein muss für Schäden haften, die die Wisente an den Eichen und | |
Buchen der Waldbauern verursachen. Das wollte und konnte der Verein nicht | |
tragen. Er stieg aus dem Projekt aus, erklärte die Wisentherde für | |
herrenlos und beantragte schließlich Insolvenz. | |
## Fördern Wisente die Biodiversität? | |
[1][Während sich Verwaltungen, Forstbesitzer und Naturschützer stritten, | |
gediehen die Tiere in der Freiheit und vermehrten sich.] Aus acht wurden im | |
Laufe der Jahre 40, die auf alten Wanderrouten von Wildtieren durch das | |
Rothaargebirge und benachbarte Gebiete streiften. Ein Runder Tisch sollte | |
im vergangenen Jahr schließlich Frieden bringen. | |
Nach einem Dreivierteljahr Gesprächsrunden empfahl das Gremium im Herbst | |
zahlreiche Maßnahmen: Die Zahl der Tiere sollte reduziert werden, zudem | |
sollten mehrere Tiere mit Sendern versehen, die Herde von Rangern betreut | |
und wissenschaftlich erforscht werden. Es gibt nämlich zahlreiche offene | |
Fragen zu den Wisenten: Welchen Einfluss haben die Wildrinder auf das | |
Ökosystem Wald? Vermehren sie die Biodiversität? Und vor allem: Wie breit | |
ist ihre genetische Basis? Gibt es Inzucht? | |
[2][Der einst in Europa weit verbreitete Wisent war Anfang des 20. | |
Jahrhunderts nämlich beinahe ausgestorben.] Die Art konnte nur mit zwölf in | |
Zoos lebenden Tieren erhalten werden. Inzwischen sorgt ein europaweites | |
Erhaltungszuchtprogramm dafür, dass sich die schmale genetische Basis der | |
Tiere verbreitet. 7.200 Wisente gibt es derzeit wieder, sorgfältig | |
verzeichnet in einem Zuchtbuch. Für den Erhalt der Tiere ist ein | |
vielfältiges Erbgut eine wichtige Voraussetzung. | |
Auch die Zukunft der Wittgensteiner Wisente hängt von ihrer Genetik ab. | |
„Tierparks oder Freilandprojekte werden genau wissen wollen, wie der | |
Genpool der Herde aussieht“, sagt Moritz Klose, Geschäftsführer der | |
NABU-Naturschutzstiftung International. Er meint, die Wisente seien zu | |
stark von Inzucht betroffen und eigneten sich nicht für Zuchtprogramme. | |
Andere Projekte würden sie deshalb nicht haben wollen. Es habe von Anfang | |
an Probleme beim Management der Herde und des Projektes gegeben. „Aber nun | |
sind die Tiere da“, sagt Klose, „jetzt werden alle Beteiligten eine gute | |
Lösung finden müssen.“ | |
Die Umweltverbände vor Ort hatten das Wisent-Projekt des örtlichen Fürsten | |
zunächst als Marotte eines adeligen Jagdliebhabers betrachtet, im Laufe der | |
Zeit aber Interesse daran gefunden. Im Zuge des klimabedingten notwendigen | |
Waldumbaus sei es ein interessantes Experiment, welche Rolle große | |
Grasfresser im Wald der Zukunft spielen könnten, argumentieren sie. Zudem | |
sei „die erfolgreiche Wiederansiedlung des Wisents in Zeiten der sich | |
zuspitzenden Biodiversitätskrise ein Meilenstein für die Restauration | |
unserer Ökosysteme“, sagt Bund-Landeschef Sticht. | |
## Naturschützer fordern Krischer zum Handeln auf | |
Der BUND hält es für einen Rechtsverstoß, dass der Kreis die Wisente in dem | |
Gatter gefangen und eingesperrt hat, da es sich bei den Tieren um eine | |
„streng geschützte Art handelt, keine Ausnahme von den Verboten vorliegt | |
und mangels Vorliegen der Voraussetzungen auch nicht erteilt werden darf“. | |
Besonders enttäuscht zeigt sich Sticht vom Landesumweltminister Oliver | |
Krischer. Beobachter des Projektes, die namentlich nicht genannt werden | |
wollen, kritisieren, der Grünen-Politiker interessiere sich zu wenig für | |
das Artenschutzprojekt. Krischer ducke sich weg. Zuletzt finanzierte das | |
Landesumweltministerium mit 400.000 Euro aus dem Naturschutzhaushalt das | |
Gatter, in das die Wisente nun eingesperrt sind. | |
Dabei habe NRW im Laufe der Jahre nicht nur drei Millionen Euro in das | |
Freisetzungsprojekt investiert, um es jetzt auf diese Art zu beenden, sagt | |
Sticht. Das damals CDU-geführte Umweltministerium des Landes hatte die | |
Herde noch 2019 als frei lebende Population einer streng geschützten Art an | |
das Bundesumweltministerium gemeldet. Seitdem gilt die Herde als geschützt | |
nach dem EU-Naturschutzrecht. Diese Meldung könnte die rechtliche Grundlage | |
dafür sein, die Wisente wieder freizulassen. | |
Fragen zur Zukunft der Wisente in NRW beantwortet Krischer nicht. Sticht | |
sieht ihn gleichwohl in der Verantwortung: Der Minister sei „zweifelsfrei | |
für den Schutz der wilden Wisentpopulation verantwortlich und könnte hier | |
nach fast zwei Jahren Ambitionslosigkeit endlich einmal liefern“, so | |
Sticht. | |
4 Apr 2024 | |
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## AUTOREN | |
Heike Holdinghausen | |
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