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# taz.de -- Wisente in Deutschland: Riesen hinter Gittern
> In Nordrhein-Westfalen lebt eine Herde Wisente. Anfangs durften sie sich
> frei bewegen. Doch dann störten sie die Waldbauern – und wurden
> eingesperrt.
Bild: Wo die wilden Kerle wohnen: eine Herde europäischer Wisente in Nordrhein…
Wittgenstein und dem Sauerland taz | Rotbraun und rostig steht er da und
lugt aus niedrigen Bäumen hervor: ein riesiger Wisent. An der kurvigen
Landstraße zwischen den Örtchen Wingeshausen und Jagdhaus schaut das Tier
aus Eisen in die Wittgensteiner Mittelgebirgslandschaft im Südosten
Nordrhein-Westfalens. Es ist ein Werbeschild für ein Wisentgehege samt
Spielplatz und Restaurant. Um die zehn der Europäischen Bisons lebten dort,
seit 2011 ist es ein beliebtes Ausflugsziel, geöffnet von Mittwoch bis
Sonntag.
An einem sonnigen Frühlingsdienstag liegt die Wisentwildnis verwaist.
Schilder bieten Rangerführungen an und weisen darauf hin, dass der Rundweg
im Gehege nicht für Kinderwagen geeignet ist, sie können aber auf einem Weg
um das Gatter herum geschoben werden, auch von dort haben
Besucher:innen eine gute Sicht. Heute sind die Tiere nicht zu sehen,
sie verstecken sich in den Tiefen des Geheges, aber ein frühlingshaftes
Vogelgeschmetter entschädigt die Besucherin: Rotkehlchen, Zilpzalp,
Singdrossel. Hier, in der Wisentwildnis, hat sie vor 14 Jahren begonnen,
die Geschichte der frei lebenden Wisente in NRW.
Nach und nach zogen Wildrinder aus ganz Europa in das Gatter und bildeten
eine Herde. In einem 80 Hektar großen Auswilderungsgehege gewöhnten sie
sich an die Gegend und aneinander. Die Idee zu den Wildrindern mitten in
NRW hatte Richard Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg, ein Jäger und vor
allem Besitzer großer Waldgebiete. Zwar gibt es keinen Adel mehr in
Deutschland, und eigentlich ist von und zu nichts als ein Name, aber der
zählt hier noch etwas, und er ist eben mit riesigem Grundbesitz verbunden.
12.000 Hektar Forst verwaltet die Rentkammer, damit ist die Familie der
größte private Waldbesitzer Nordrhein-Westfalens.
Die Herde genoss große Aufmerksamkeit: Der grüne Landesumweltminister
Johannes Remmel qua Amt zuständig für Naturschutz – beförderte das
Schutzprojekt einer heimischen Art als „Schatz vor unserer Tür“, das
Bundesamt für Naturschutz begleitete es mit großem Interesse daran, was die
Rückkehr eines großen, in freier Wildbahn lange ausgestorbenen
Pflanzenfressers für die heimische Flora und Fauna bedeuten würde. Und
viele Tourist:innen besuchten begeistert das Rothaargebirge mit der
Aussicht, wilde Wisente zu sehen. 2013 öffneten sich für einige Tiere die
Tore des Gatters. Sie verließen das Gehege, wanderten frei durch
Wittgenstein, das Sauerland und bis hinunter nach Rheinland-Pfalz.
## Die Tore schlossen sich
Während die Herde auf rund 40 Tiere anwuchs, die durch die Wälder
streiften, bildeten die Menschen Streitparteien – pro freies Wisent und
contra. Lokalpolitiker sorgten sich um die Sicherheit von Wanderern und
Autofahrern, die Waldbauern wollten in ihren wertvollen Buchenwäldern neben
Hirschen und Rehen keinen weiteren großen Pflanzenfresser, der Bäume abfraß
und schädigte. Und dass die Rinder aus den Wittgensteiner Adelswäldern in
die Forste der Sauerländer Waldbauern einfielen, rührte an recht alten
Befindlichkeiten, erzählt man in der Gegend.
[1][Stand jetzt hat die Contra-Partei gewonnen]. Nach Jahren voller
öffentlicher Auseinandersetzungen und etlicher Gerichtsprozesse schlossen
sich im Frühjahr 2024 die Tore wieder. Knapp 9 Kilometer Luftlinie von der
Wisentwildnis entfernt entstand ein neues Gatter, mitten im Wald, in der
Nähe von Kühhude. Das Land NRW, der Kreis Siegen-Wittgenstein und der Sohn
des inzwischen verstorbenen Prinzen Richard richteten es ein: Der adelige
Waldbesitzer stellte die Fläche zur Verfügung, das Land zahlte für die
Errichtung, der Kreisveterinär übernahm die Aufsicht. Verantwortlich sein
aber will keiner für das gescheiterte Projekt.
Das Bundesamt für Naturschutz bittet, da das Vorhaben abgeschlossen sei und
der zuständige Mitarbeiter auch gar nicht mehr am BfN tätig, sich an das
Land NRW zu wenden. Das dortige Umweltministerium, zwar immer noch grün
geführt, an politisch wenig attraktiven Naturschutzfragen aber nicht mehr
sonderlich interessiert, verweist an den Verein und den Kreis
Siegen-Wittgenstein. Der Verein besteht nur noch als „Insolvenzverein“ und
damit im Grunde nur noch auf dem Papier.
Der Kreis betont zudem, dass ihm die Tiere nicht gehörten, kümmert sich de
facto aber um sie; so ließ er sie gegen die grassierende
Blauzungenkrankheit impfen und Bullen und Kühe trennen, um Nachwuchs zu
verhindern. „Der Ernährungs- und Gesundheitszustand der Herde ist weiterhin
gut, zur Gesundheitsüberwachung werden regelmäßig Proben entnommen“, teilt
der Kreissprecher mit. Unter tierschutzrechtlichen Gesichtspunkten sei das
Gatter bei der derzeitigen Herdengröße auch für einen zeitlich unbegrenzten
Aufenthalt geeignet. „Dies wird aber nicht angestrebt.“ Aber was dann?
## Stürme, Dürren, Borkenkäfer – jetzt auch noch Wisente
Die Fahrt von der Wisentwildnis nach Kühhude dauert eine halbe Stunde, denn
die Straße macht einen weiten Umweg, durch Forste, Wiesen, winzige Dörfer
und entwaldete Hügel, auch in Wittgenstein und dem Sauerland haben Stürme,
Dürren und Borkenkäfer in den vergangenen Jahren gewütet. Das Autoradio
vermeldet, [2][nach dem wärmsten März] seit den Aufzeichnungen warnten die
Wasserwerke Nordrhein-Westfalens nun vor Wassermangel im Sommer und bäten
um einen sparsamen Umgang mit Wasser.
Das Dörfchen Kühhude besteht nur aus wenigen Häusern, bekannt ist es für
eine Hängebrücke und vor allem für einen Parkplatz, von dem aus man sich
auf einen Wanderweg einfädeln kann. Auf dem Parkplatz warten Fred Josef
Hansen, 68, ehemals Förster im Landesbetrieb Wald und Holz NRW und heute
noch Vorsitzender des Bundes Deutscher Forstleute, und Susanne Bald, 65,
pensionierte Polizistin und für die Grünen im Rat der Stadt Bad Berleburg.
Hansen trägt Jeans zu grüner Funktionsjacke, Brille, grauer Bart. Bald
braune Jeans, Daunenweste, kastanienbraune Haare. Hansen begleitet das
Wisentprojekt seit Langem, Bald ist vor einiger Zeit dazu gestoßen. Die
freien Tiere hinter Gittern halten beide für ein Unding.
Der Wanderweg führt direkt am Parkplatz vorbei, als Teil des Rothaarsteigs,
einem bekannten Wanderweg. Er verbindet die Mittelgebirgslandschaft des
Hessischen über das Siegerländische und Wittgensteinische mit dem
Sauerländischen. Das Rothaargebirge ist nicht etwa nach Rehen oder Hirschen
benannt, sondern verweist auf ein Rod Hardt Gebirge, ein gerodetes
Waldgebirge, auf eine ehemalige Waldwirtschaft. Das Wilde, Einsame, dünn
Besiedelte täuscht. Wer über den Rothaarsteig durch Fichten- und
Buchenforste wandert, der läuft durch eine intensiv genutzte und gestaltete
Landschaft.
Im Fichtenwald riecht es schon im Frühling nach Sommer, harzig und gut. Der
Lehmboden auf dem Wanderweg staubt bei jedem Schritt. Immer wieder geben
die Bäume Flächen voller Ginster oder Brombeerranken frei, dazwischen
silbergraue Baumstümfe, die von den Dürren, Stürmen und Borkenkäferplagen
der vergangenen Jahre übrig geblieben sind.
## 24 Hektar, drumherum Elektrozaun
Der Wanderweg führt ein wenig bergauf, dann macht er einen kleinen Bogen.
Wer jetzt nicht nach rechts abbiegt, sondern nach links, der läuft auf
einmal über Schotter, und steht plötzlich vor einem Schild: „Wald gesperrt.
Landesbetrieb Wald und Forst NRW“. Laut dem nordrhein-westfälischen
Landesforstgesetz darf ein Waldbesitzer mit Genehmigung der Forstbehörden
den Zutritt zu einem Wald sperren. Was nun?
Das öffentliche Interesse überwiegt, findet die kleine Wandergruppe und
geht weiter, denn am Ende des Weges liegt das Gehege. Der Buchenwald wird
lichter, Baumstümpfe abgestorbener Nadelbäume mischen sich darunter. Hin
und wieder junge, knapp übermannsgroße Fichten, saftig grün, etwa acht bis
zehn Jahre alt, schätzt Hansen. „Wenn wir nicht gegensteuern, bekommen wir
hier wieder Fichtenwälder durch Naturverjüngung.“
Der Weg führt jetzt abwärts, ins Tal, in dem die Litzige fließt, ein
kleiner Bach. Und dann endet das Dickicht und das Gatter beginnt. Außen ein
solider, hoher Drahtzaun, dahinter ein Bretterzaun aus hellem Holz, und
dahinter ein Elektrozaun. Die massive Anlage umschließt ein 24 Hektar
großes Stück Forst.
Die Fläche ist etwas mehr als halb so groß wie die Theresienwiese, auf der
jährlich das Oktoberfest stattfindet, aber anders als der Münchner
Festplatz ist das Gehege nicht geschottert oder gepflastert. Stattdessen
vereinzelte Bäume, eine große, sandige Freifläche, „das war mal eine
Wiese“, sagt Hansen. Dort, in der Nähe der Futterraufe voll Heu, stehen die
Wisente, etwa 20 Kühe und ältere Jungtiere, keine Kälber, wie in dieser
Jahreszeit zu erwarten wäre. Sie stehen und schauen, ab und zu wedeln sie
mit den Ohren.
## Empfehlungen werden nicht umgesetzt
Eigentlich sollte das Gatter den Tieren die Freiheit garantieren: Im
Winter, wenn das Futter knapp wird und die Rinder deshalb damit beginnen,
Rinde von Buchen zu schälen, sollen sie eingefangen und gefüttert werden.
Im Frühling sollten sie wieder freigelassen werden und sich über den Sommer
und den Herbst frei bewegen können.
Die Idee folgte einem Vorschlag des runden Tisches, der sich laut Beschluss
des Kreistages Siegen-Wittgenstein traf, um eine „konsensorientierte
Problemlösung“ der Wisent-Angelegenheit zu erreichen. Moderiert von den
ehemaligen NRW-Umweltministern Ursula Heinen-Esser (CDU) und Johannes
Remmel trafen sich Politiker, Experten und Betroffene 2023 und erarbeiteten
einen Zehn-Punkte-Plan. Enthalten in diesen „Empfehlungen an den Kreistag“
war ausdrücklich der Bau eines Gatters.
Allerdings hielten sie fest, das Gatter sei „nicht für einen dauerhaften
Aufenthalt der Wisentherde geeignet, es setzt eine Gewöhnung durch
dauerhaft offene Tore voraus und sollte die Öffnungen in Richtung der im
FFH-Gebiet liegenden Wasserstellen vorsehen.“
Doch wie die anderen Empfehlungen des Runden Tisches wurde auch diese nicht
umgesetzt. Nachdem die Wisente in das Gatter getrottet waren, schlossen
sich die Tore hinter ihnen – und zwar dauerhaft. „Die Tiere sehen nicht
heruntergekommen oder krank aus“, sagt Hansen. „Aber apathisch, wie
Zootiere halt, das Lebendige ist weg“, sagt Bald.
## Wilde Geschöpfe oder Zootiere?
Sie ärgert sich über die Haltungsbedingungen der eingesperrten Tiere, über
zu wenig Bäume, die den Tieren Schatten spenden könnten, über den fehlenden
Zugang zu frischem Wasser. „Warum ist das Gatter so gebaut, dass die Tiere
keinen Zugang zu dem Bach haben?“, fragt sie, „der fließt doch genau neben
dem Gehege“. In der Vergangenheit hätten die Wisente durchaus aus diesem
Bach saufen dürfen.
Mit dem Versuch, den Kreis zu zwingen, die Tiere wieder freizulassen, ist
der Umweltverband BUND Nordrhein-Westfalen [3][Ende Februar dieses Jahres]
gescheitert. Und erst vor Kurzem scheiterte dann auch das, was vom
Trägerverein noch übrig ist, wieder einmal vor dem Verwaltungsgericht
Arnsberg. Diesmal damit, sich gegen eine Anordnung des Kreises
Siegen-Wittgenstein zu wehren. Der Kreis hatte den Verein angewiesen, die
eingesperrten Wisente zu füttern und für ihr Wohlergehen zu sorgen. Das
Gericht entschied jetzt: Zu Recht, der Verein bleibt für die Tiere
verantwortlich.
Das Verfahren trifft den Kern des Konflikts: Der Verein betrachtet die elf
Jahre lang frei lebenden Wisente als Wildtiere, die herrenlos seien wie
Rehe oder Wildschweine. Die Waldbauern, aber auch der Kreis, betrachten die
Wisente aber als Zootiere im Eigentum des Trägervereins. Laut Gericht wäre
der Trägerverein, wäre unter anderem Hansen dafür verantwortlich, die Tiere
zu versorgen. Er und Bald stehen am Gatter und betrachten stumm die
Wisente. Die schauen ruhig zurück.
War der Trägerverein mit dem Projekt überfordert? „Am Anfang nicht“, sagt
Hansen, „aber als die Gerichtsprozesse begannen, haben sie viele Kräfte des
ehrenamtlichen Vereins gebunden“. In den Wald hat er eine prall gefüllte
Kladde mitgebracht, Gerichtsakten, Karten, amtliche Schreiben,
Briefwechsel.
## Lost in Interpretation
Einen Prozess nach dem anderen hat der Trägerverein verloren, den Überblick
über die zuständigen Gerichte und Behörde zu behalten, fällt schwer. Mal
fallen die Wisente unter das Tierschutz-, mal unter das Artenschutzrecht –
das eine will Tiere vor Quälerei schützen, das andere Arten erhalten, es
gelten ganz andere Gesetze und Richtlinien. Mal gelten die
Hygienevorschriften der Landwirtschaft, mal das Jagd- und Forstrecht. „Mit
Wildtieren kann unsere Gesellschaft nicht umgehen“, sagt Hansen.
Die letzte verbleibende Möglichkeit, den Wisenten die Freiheit zurück zu
erkämpfen, sehen Hansen und Bald in Brüssel, in der Europäischen
FFH-Richtlinie. Nach der gelten Wisente nämlich als streng geschützte Art,
die auch in Deutschland einen natürlichen Verbreitungsraum hat. In einem
Schreiben hat die Kommission dem Verein bestätigt, dass es sich beim Wisent
um eine schützenswerte Art handelt. Doch in Brüssel winkt man ab. Die
FFH-Richtlinie schützt zwar Wildtiere, erlaubt den Behörden aber auch,
„geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Schäden zu verhindern, zu mildern
oder zu entschädigen“. Das bietet weiten Interpretationsspielraum.
In dem Gehege mitten im Wald geraten die Tiere etwas in Bewegung. Knatternd
kommt ein Traktor aus dem Tal herangefahren, er bringt frisches Heu. Als
der Fahrer die Besucher am Zaun stehen sieht, bleibt er stehen und zückt
das Handy. Bald und Hansen schlagen vor, zu gehen und murmeln etwas von
keinen Ärger und Aufsehen verursachen. Sie befinden sich, so muss man es
wohl sehen, auf dem Rückzug.
21 May 2025
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## AUTOREN
Heike Holdinghausen
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Wisente in Nordrhein-Westfalen: Eine Herde hinter Gittern
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