| # taz.de -- 100 Jahre Wisent-Schutz: Das Wildrind ist noch da | |
| > Am 25. August 1923 gründete sich die „Internationale Gesellschaft zur | |
| > Erhaltung des Wisents“. Wild und frei leben können sie heute im Kaukasus. | |
| Bild: Eines der ersten ausgewilderten Wisente in Wittgenstein im Süden NRWs im… | |
| Berlin taz | Sie sind noch da. Wenn das mal keine Nachricht ist – denn vor | |
| 100 Jahren sah es um Bos Bonasus übel aus. In der Natur war der Wisent | |
| beinahe ganz verschwunden, da gründete sich in Berlin die Gesellschaft zur | |
| Erhaltung des Wisents, am 25./26. August 1923. Ihren Sitz nahm sie in | |
| Frankfurt am Main, erster Vorsitzender wurde der Direktor des dortigen | |
| Zoos, Kurt Priemel. | |
| Wie stets, stellten [1][auch hier die Anstrengungen für den Erhalt einer | |
| Tierart den Endpunkt eines Vernichtungsfeldzugs dar]: Jahrhundertelang | |
| hatte man das europäische Wildrind gejagt, es als lebende Fleischreserve | |
| der über den Kontinent ziehenden Armeen betrachtet und seinen Lebensraum – | |
| den Wald – zerstört. | |
| Etwa 800 nach Christus war der Wisent westlich des Rheins ausgerottet, 200 | |
| Jahre später westlich der Elbe; 1364 soll der letzte wilde Wisent westlich | |
| der Weichsel erlegt worden sein. In Osteuropa und im Kaukasus hielten sich | |
| die Tiere länger, doch auch hier wurden die letzten Wildrinder im Laufe der | |
| 1920er Jahre getötet. Die Art überlebte in Zoos. | |
| 1922 hatte Zoodirektor Priemel damit begonnen, die in Tiergärten lebenden | |
| Wisente zu erfassen. Er zählte insgesamt 56 Tiere, 29 Kühe, 27 Stiere und | |
| 10 Kälber. 12 von ihnen waren nicht miteinander verwandt und daher | |
| geeignet, die Basis für ein Zuchtprogramm zur Rettung des europäischen | |
| Wisents zu bilden. Inzwischen ist der Bestand des größten europäischen | |
| Landsäugetieres wieder auf rund 7.200 Tiere gewachsen. Etwa ein Viertel | |
| davon lebt in Zoos. | |
| ## Wiederansiedlung im Kaukasus | |
| Diese Wisente verfügen über lückenlose Stammbäume, auf die der langjährige | |
| Zuchtbuchleiter Douglas Richardson zurückgreift, um „fundierte | |
| Paarungsentscheidungen zu treffen, um die selteneren Gründerlinien zu | |
| betonen“. Der Biologe leitete den Highland Wildlife Park in Schottland, als | |
| ihm 2012 der Europäische Zooverband das Zuchtbuch übertrug – „das war ein | |
| sehr stolzer Tag für mich“, sagt der Schotte. | |
| Seine Aufgabe ist es, durch Zuchtauswahl die schmale genetische Basis der | |
| Wisente möglichst wieder zu verbreitern. Die Ausgangslage von nur 5 Stieren | |
| und 7 Kühen sei nicht ideal gewesen, trotzdem könne die Art heute „als | |
| relativ sicher und geschützt angesehen werden“, sagt Richardson. Es bleibe | |
| abzuwarten, ob man in Zukunft „in der Lage sein werde, mithilfe von DNA aus | |
| Museumsexemplaren“ zu arbeiten und so mehr neues Erbgut einzubringen. | |
| Als Krönung ihrer Zuchtbemühungen sehen es Zoos an, wenn sie Tiere in die | |
| Freiheit entlassen können. Im Berliner Tierpark sammeln sich derzeit 10 | |
| Zoo-Wisente aus ganz Europa, um im November im Rahmen eines | |
| Wiederansiedlungsprojekts von Zoos und den Naturschutzverbänden WWF und | |
| Berlin World Wild per Flugzeug nach Aserbeidschan zu fliegen. Nach einem | |
| Winter in einem Vorbereitungsgehege werden sie im kommenden Frühling | |
| entlassen, um in der Kernzone des Shahdag-Nationalparks im Norden des | |
| Landes zu leben. | |
| ## Ausbreitung der Wisente | |
| Inzwischen grasen dort wieder 48 Wisente, 7 Kälber wurden in diesem Jahr in | |
| Freiheit geboren. „Unsere regelmäßigen Monitoringmaßnahmen, die etwa den | |
| Gesundheitszustand und die Bestandentwicklung umfassen, zeigen, dass sich | |
| die Tiere sehr gut an den Lebensraum im Nationalpark gewöhnt haben“, sagt | |
| Aurel Heidelberg, Referent Ökoregion Kaukasus beim WWF. Bis 2028 sollen | |
| mindestens 100 Wisente im Nationalpark leben. | |
| Während die Zoos auch in Westeuropa die Wisente als Art mit großem Aufwand | |
| erhalten und auswildern, ist die Skepsis groß, wenn sich die Tiere von | |
| allein auf den Weg machen – und zwar in umgekehrte Richtung. In Polen hat | |
| sich der Bestand der Wildrinder dank intensiver und langjähriger | |
| Schutzbemühungen inzwischen nämlich so weit erholt, dass sie sich nach | |
| Westen ausbreiten und alte Lebensräume wieder besiedeln – nach dem Vorbild | |
| des Wolfs, gemeinsam mit dem Elch. | |
| Rund 2.000 Wisente lebten wild und ohne nennenswerte Probleme mit der | |
| Bevölkerung in ganz Polen, berichtet Aleksandra Smaga von der | |
| Westpommerschen Naturgesellschaft in Jabłonowo. Etwa 350 Tiere haben sich | |
| auf den Weg nach Westen gemacht und streifen in kleinen Herden durch das | |
| Land, bis etwa 35 Kilometer vor die Grenzstadt Stettin sind sie inzwischen | |
| gekommen. „Eine Herde besteht aus wenigen, meist drei Tieren“, sagt Smaga, | |
| „es ist eine Frage von einigen Jahren, bis sie nach Deutschland wandern“. | |
| ## Immer Ärger in Wittgenstein | |
| Ein junger Bulle, der sich vor 5 Jahren über die Oder traute, wurde nach | |
| wenigen Tagen in Brandenburg geschossen. Die Vorbehalte gegen die großen | |
| Wiederkäuer kann Smaga nicht nachvollziehen. „Wisente sind in Polen | |
| Staatseigentum; wenn sie Schäden etwa auf Äckern anrichten, entschädigt der | |
| Staat die Landwirte.“ Außerdem tragen die Rinder Halsbänder und können | |
| geortet werden. „Wenn sie sich Siedlungen nähern, vertreiben wir sie von | |
| dort, das funktioniert gut“, sagt Smaga. | |
| Auch in Deutschland und anderen mitteleuropäischen Ländern wäre Platz für | |
| wilde Wisente, das haben Lebensraumstudien etwa des Geographischen | |
| Instituts der Berliner Humboldt-Universität gezeigt. Eine „realistische und | |
| dauerhafte Rückkehr“ hänge aber primär davon ab, „ob wir es schaffen, die | |
| Akzeptanz in der breiten Gesellschaft, aber vor allem bei Waldbesitzern und | |
| anderen Landnutzern, zu gewinnen“, sagt Aurel Heidelberg. | |
| Dort, wo seit zehn Jahren eine Wisentherde wild lebt, ist diese Akzeptanz | |
| ausbaufähig. Im Kreis Siegen-Wittgenstein in Nordrhein-Westfalen steht das | |
| vielbeachtete Freisetzungsprojekt des Vereins „Wisent-Welt“ [2][nach | |
| heftigem Streit mit Waldbauern und jahrelangen Gerichtsprozessen vor einem | |
| Scherbenhaufen]. | |
| Eigentlich sollte ein Dialogverfahren, das von den ehemaligen | |
| NRW-Umweltminister:innen Ursula Heinen-Esser (CDU) und Johannes Remmel | |
| (Grüne) moderiert wird, im September Lösungen für die verfahrene Situation | |
| vorstellen. Mitte August stellte der Trägerverein allerdings einen | |
| Insolvenzantrag. Was das für das Dialogverfahren bedeutet, ist unklar. | |
| Dabei – wäre das nicht schön? Dass die Wisente in Europa vor 100 Jahren | |
| gerettet worden wären, um zu bleiben. | |
| 25 Aug 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Heike Holdinghausen | |
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