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# taz.de -- Natur versus Wirtschaft: Wildnis in Wittgenstein
> Einer Herde Wisente im Rothaargebirge droht das Aus. Denn die wilden
> Rinder halten sich nicht an Grundstücksgrenzen.
Bild: Wisente in Brandenburg
Bad Berleburg/Schmallenberg taz | Die Baumkronen sind noch kahl und der
Boden leuchtet rot im Buchenforst in Wittgenstein. Die Winter hier im
Südosten von Nordrhein-Westfalen sind lang, noch im späten Frühling
schrumpelt der Schnee an den Hängen. Behutsam steuert Kaja Heising ihren
Pick-up über den Waldweg. Sie will Kameras an einer Futterstelle für
Wildtiere kontrollieren. Mitten im Wald des Fürsten zu Sayn-Wittgenstein
fährt sie durch ein altes Holzgatter. Nur der Rahmen steht noch, ein Tor
ohne Flügel und ohne Zaun links und rechts. Es ist wie eine Erinnerung an
ein Tor, an eine Grenze: Was für ein schönes Bild für diese Geschichte.
In Wittgenstein, mitten im waldreichen Rothaargebirge, lebt seit vier
Jahren wild eine Herde Wisente. 18 Wildrinder, bis zu zwei Meter hoch und
drei Meter lang. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es nur noch 12 Tiere
dieser Art, aus Mitteleuropa verschwanden sie schon im Mittelalter. Durch
ein Rückzüchtungsprogramm leben in Europa jetzt wieder rund 4.000 Wisente
halbwild in Naturschutzgebieten oder großen Gehegen, vor allem in Polen und
Rumänien.
Die wilde Wisentherde, die durch den Fichten-, Misch- und Buchenwald
streift wie ein Rudel Hirsche, ist deshalb ein einzigartiges
Artenschutzprojekt, sagen die einen. Es ist die überflüssige Marotte eines
Großgrundbesitzers und verstößt gegen alles, was Recht und Ordnung ist, die
anderen.
Die Wisente sind nicht von selbst nach Nordrhein-Westfalen zurückgekehrt,
wie der Wolf, der das Bundesland durchstreift. Der kürzlich gestorbene
Richard zu Sayn-Wittgenstein, mit unglaublichen 13.100 Hektar der größte
Privatwaldbesitzer in NRW, hatte eine kleine Wisent-Herde in seinen Wald
bei Bad Berleburg geholt und schließlich freigelassen, in Verantwortung des
Trägervereins Wisent-Welt-Wittgenstein, begleitet und unterstützt unter
anderem vom Bundesamt für Naturschutz und dem Umweltministerium NRW.
## Satte Hirsche, satte Rinder
Der alte Fürst liebte Wald und vor allem das Wild. Gut genährte
Wildschweine und Hirsche mit mächtigen Geweihen ziehen durch seinen Forst,
im Winter gefüttert mit nahrhafter Silage, Walzhafer, Biertreber und
Rübenmelasse. Die Fütterung sei Waldschutz, sagen Jäger und Förster des
fürstlichen Forstbetriebes, satte Hirsche nagten nicht an Bäumen. Außerdem
garantieren sie gute Umsätze, denn Jagdtouristen können im fürstlichen Wald
Abschussrechte für die Tiere erwerben.
Auch satte Wisente verschonen Bäume. Für das Projekt könnte das
überlebenswichtig sein. Weil die riesigen Tiere im Winter immer wieder in
Forste im benachbarten Sauerland ziehen und dort die saftige Rinde von
Buchen abfressen, bekämpfen die dortigen Waldbesitzer seit Jahren vehement
das Projekt.
Unter anderem deswegen kurvt nun Kaja Heising durch den Forst. Nach Vorbild
der Wolfsmanger soll sie beispielsweise erforschen, wie Wisente sich in die
bestehende Kulturlandschaft einfügen lassen. Dafür hat sie Fotofallen an
den Futterstellen aufgebaut, um sehen zu können, „wie Hirsche und Wisente
kooperieren“, erzählt sie. Außerdem sucht sie europaweit ein neues
Vatertier für die Herde, weil die ersten, in Freiheit geborenen Töchter des
Bullen Egnar geschlechtsreif werden und Inzucht droht.
In Köln aufgewachsen, hat Heising Wildtiermanagement studiert und zuletzt
mit Affen in Südafrika gearbeitet. Nun, mit 29, ist sie ins wilde
Wittgenstein gezogen. „Wir haben hier so viel Potential“, sagt sie, „hier
leben Wildkatzen, vermutlich Luchse, da ist es doch großartig, den größten
Landsäuger Europas wieder hier anzusiedeln.“ Es sei bemerkenswert: „Bevor
die Wisente ausgewildert wurden, hat es viele Ängste gegeben“, sagt sie,
„vor Krankheiten, die sie mitbrächten, vor Gefahren für Wanderer.“
Seitdem eine Wisentkuh im vergangenen Jahr ihr frisch geborenes Kalb gegen
den Hund einer Spaziergängerin verteidigte, indem sie beide mit breitem
Schädel vom Wanderweg schob, steht die Aufklärung von Waldbesuchern weit
oben auf Heisings To-do-Liste. Die Urrinder haben keine natürlichen Feinde
und darum eine kurze Fluchtdistanz. Bis auf 50 Meter lassen sie Menschen an
sich herankommen, ehe sie beiseite treten – wenn sie nicht erwarten, dass
der Mensch geht. Allerdings seien die zehn in der Wildnis geborenen Tiere
schon ängstlicher, als ihre an Menschen gewöhnten Eltern, sagt Heising, und
„Wildschweine und Zecken sind für Wanderer gefährlicher“.
Von den erwarteten Problemen sei keines ernsthaft eingetreten, außer den
Schälschäden am Buchenwald der Waldbauern. Die Landschaft des
Rothaargebierges, riesige, zusammenhängende Forste und Wiesentäler, sei als
Lebensraum für die Rinder ideal. Wo, wenn nicht hier, könne man einen
Kompromiss zwischen Menschen und Wildtieren suchen.
Georg Feldmann-Schütte sitzt in seinem Arbeitszimmer unter einer Landschaft
in Öl und einem imposanten Hirschgeweih. Den Hirsch hat sein Vater erlegt,
den Waldbauernhof im sauerländischen Schmallenberg-Oberkirchen
bewirtschaftet seine Familie in der 19. Generation. „Wildnis?“ fragt er,
und schüttelt den Kopf, „das hier sind Wirtschaftswälder.“ Einen Kompromi…
zwischen der Natur und dem Menschen, den suchen sie hier seit jeher, so
sieht er das.
## Klagen von fünf Waldbauern
Gegen Wisente habe er nichts, sagt Feldmann-Schütte, „sie sollen nur nicht
in meinen Wald kommen“. Natürlich, Hirsche und Rehe verursachten ebenfalls
Schäden an den Bäumen. „Aber diese Tiere kann ich dezimieren“, sagt der
Jäger. Die Haftungsfragen für solche „herrenlosen“ Tiere seien präzise
geregelt, genau wie für Haus- oder Nutztiere, die, juristisch Sachen, dem
Bürgerlichen Gesetzbuch unterliegen. Die wilden Wisente des Fürsten fielen
aus allen Kategorien, sagt Feldmann-Schütte, und das könne nicht angehen in
einem Rechtsstaat.
Noch gehören die Wisente dem Trägerverein, der darum durch sie verursachte
Schäden begleichen muss. Rund 20.000 Euro hat Feldmann-Schütte seit 2013
für Schälschäden an seinen Buchen bekommen. Doch die Tiere sollen nicht nur
rein praktisch in die Freiheit entlassen werden, sondern auch rechtlich.
Für die Befürworter ein logischer Schritt: Die Wisente wären dann auch
juristisch Hirsch und Reh gleichgestellt.
„Der Trägerverein will sich aus seiner Verantwortung stehlen“, meint
dagegen Feldmann-Schütte. Denn bekämen die Wisente einen Status als
grundsätzlich jagdbare, aber ganzjährig streng geschützte Wildtiere, würde
nicht mehr der Verein für durch die Tiere verursachte Schäden aufkommen,
sondern derjenige, der das Jagdrecht im angefressenen Wald ausübe – „also
beispielsweise ich“, sagt Feldmann-Schütte.
Laut einem öffentlich-rechtlichen Vertrag zwischen verschiedenen
staatlichen Stellen, dem Trägerverein und der Wittgenstein-Berleburgischen
Rentkammer – dem zuständigen Forstbetrieb – ist vorgesehen, dass die Tiere
zunächst Eigentum des Vereins bleiben – und irgendwann „in die
Herrenlosigkeit“ entlassen werden, wenn die Vertragsparteien das Projekt
nicht für gescheitert erklären.
Genau das droht nun. Am 8. Mai verhandelt das Oberlandesgericht Hamm die
Klagen von fünf Waldbauern. Ob es eine Entscheidung gibt, ist offen.
Bislang haben die Waldbauern alle Prozesse gegen den Trägerverein gewonnen.
Dieser muss, urteilten die Richter, das Eigentumsrecht der Sauerländer
Waldbauern achten. Das gelänge nur durch einen Zaun. „Für Zucht und Erhalt
des Wisents ist es doch egal, ob die Tiere frei laufen, oder in einem
Tausende Hektar großen Gehege“, findet Feldmann-Schütte.
„Wir dürfen nicht alles zubauen und verriegeln“, sagt Helga Düben. Sie ist
Mitglied in der breit besetzten Steuerungsgruppe, ein Gremium, das das
Auswilderungsprojekt begleitet – und im Zweifel beenden kann.
Umweltschützer, Jäger, Behörden und die Tourismuswirtschaft der Region
sitzen in der Gruppe. Düben ist für den Umweltverband Naturschutzbund
(Nabu) dabei.
„Wenn wir versucht hätten, Wisente wieder anzusiedeln“, sagt Düben, und
fängt an zu lachen. Ihr Mann lacht mit. Niemals wäre das was geworden, soll
das heißen – aber wenn das Fürstenhaus zu Sayn-Wittgenstein seine Hände im
Spiel habe, dann sei in Bad Berleburg noch immer viel möglich. Seit
Jahrzehnten sind die Buchhalterin und der Apotheker in Wittgenstein im
Naturschutz aktiv, sie als Vorsitzende des Nabu Siegen-Wittgenstein, er als
der Naturschutzreferent des Verbandes. Sie zählen die Brutpaare von
Braunkehlchen, Sperlingskautz und Schwarzstorch, kämpfen gegen
Gewerbegebiete in Unkenbiotopen und ärgern sich schwarz über den
ausufernden amtlichen Naturschutz in Deutschland, der Papier und Bürokratie
in Massen produziert und zulässt, das in NRW jede zweite Vogelart auf der
roten Liste steht.
## Die Idee von Natur
Die beiden schauen aus ihrem schiefergedeckten Bauernhaus am Hang über dem
Dörfchen Rinthe weit in die Wittgensteiner Berglandschaft. Die
interessanten Fragen seien doch: Schafft sich der Wisent ein eigenes
Biotop? Sorgt er für offene Wiesentäler, von denen es zu wenige in der
Region gebe? Wälzt er sich an Wasserläufen, und schafft so neuen Lebensraum
für Insekten, Vögel oder andere Tiere? Oder ist das Ganze doch nur eine
Spielerei? „Das müssen wir klären, und dazu brauchen wir Zeit“, sagt Helga
Düben. Interessant sei auch, dass die Herde bei einem von der örtlichen
Bevölkerung leidenschaftlich verfolgten Wanderausflug nach Südwesten, weit
aus dem Wittgensteiner Land heraus, offenbar einen Wildwanderweg benutzt
habe. „Der Staat arbeitet mit einem riesen Aufwand an einem Biotopverbund“,
sagt Düben, „und wenn das funktioniert, ist es auch nicht richtig“. Damit
Arten überleben, müssten sie wandern können.
Kaja Heising sagt, sie nehme die Anliegen der Waldbauern ernst .„Ich will
unbedingt eine Lösung finden, wie beides geht, ein Wirtschaftswald und
Wildtiere“, sagt sie. Aber das Gatter im Buchenwald wieder herzustellen,
das will sie sich nicht vorstellen. Es gehe ihr auch um eine Idee von
Natur, sagt sie. „Hinter einem Zaun sind die Wisente nicht frei.“
4 May 2017
## AUTOREN
Heike Holdinghausen
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