| # taz.de -- Mirrianne Mahn über Aktivismus: „Ich sehe mich auch als Täterin… | |
| > Die Schriftstellerin Mirrianne Mahn schildert in ihrem Debütroman „Issa“ | |
| > die Erfahrung von Deutsch-Kamerunerinnen mit rassistischen Fragen. | |
| Bild: „Vergangenheit anschauen, um Gegenwart zu verstehen und Zukunft gestalt… | |
| wochentaz: Frau Mahn, Sie sind 2021 mit Ihrem Auftritt während der | |
| [1][Friedenspreisverleihung an Tsitsi Dangarembga] überregional bekannt | |
| geworden. Sie sprachen damals vom Paradox, einer Schwarzen Frau diesen | |
| Preis ausgerechnet am letzten Tag einer Buchmesse zu verleihen, zu der sich | |
| Schwarze Frauen nicht eingeladen fühlten, weil rechtsextreme Verlage | |
| zugelassen waren. War das eine geplante Aktion? | |
| Mirrianne Mahn: Ich wusste vorher nicht, dass ich das machen würde. Es war | |
| spontan, aber es war klar, dass ich irgendetwas sagen würde an dem Tag. | |
| Meine Kritik an Nazis auf der Buchmesse hat aber früher angefangen. 2017, | |
| als Björn Höcke dort für Tumulte gesorgt hat. Was mich vier Jahre später | |
| dazu brachte, in der Paulskirche das Wort zu ergreifen, war die Heuchelei | |
| von Politiker:innen. | |
| Heuchelei? | |
| Für mich persönlich war diese Veranstaltung ein historischer Moment: Eine | |
| Schwarze Frau, in Afrika lebend, eine Aktivistin von einem solchen Kaliber | |
| bekommt endlich diesen Preis. Als der damalige Oberbürgermeister Peter | |
| Feldmann dann sagte: „In Frankfurt ist kein Platz für Rassismus“, habe ich | |
| das Kotzen gekriegt. Das ist so eine Floskel! Ich werde schon wieder sauer. | |
| Wieso? | |
| Weil das genau der Kern des Problems ist. Der Vorwurf des Rassismus ist | |
| schlimmer als der Rassismus selbst. Dangarembga wurde während der Messe von | |
| Rechten auf Twitter verarscht. Das ist dieser Frau in Deutschland passiert. | |
| Und jetzt gebt ihr ihr einen Preis und denkt, ihr habt eure Arbeit gemacht. | |
| Nein, habt ihr nicht! | |
| Sie waren Catering-Unternehmerin, sind Theatermacherin, Aktivistin und seit | |
| einigen Jahren [2][Stadtverordnete für die Grünen] in Frankfurt am Main. | |
| Jetzt haben Sie Ihren ersten Roman geschrieben, wie kam es dazu? | |
| Ich finde das total naheliegend. Ich habe viel Theater gemacht, fürs | |
| Theater geschrieben, Regie geführt, Dramaturgie gemacht. Das Ding ist, ich | |
| rede gerne und viel und glaube, dass es ein Problem ist, dass wir immer | |
| versuchen, komplizierte Sachen zu vereinfachen. Alle Menschen wollen | |
| einfache Antworten auf komplizierte Fragen. Das Theater ist ein schönes | |
| Medium, um Aufmerksamkeit und Empathie zu erzeugen. Und genau das sehe ich | |
| auch als meine Aufgabe. So verstehe ich meinen Aktivismus und meine | |
| Politik. | |
| Für was wollen Sie mit Ihrem Roman Aufmerksamkeit erregen? | |
| Dafür, dass man in Deutschland immer noch Deutschsein mit Weißsein | |
| verbindet. Das ist in anderen europäischen Ländern nämlich nicht so, in | |
| Frankreich nicht, in Großbritannien nicht, noch nicht einmal in Portugal. | |
| Deutschland ist da wirklich hart hinterher. Deswegen habe ich diesen Roman | |
| geschrieben. Es ist ein sehr deutscher Roman, obwohl das Cover eine | |
| Schwarze Frau zeigt. | |
| Das Cover ist so ziemlich das coolste dieses Frühjahrs. | |
| Das finde ich auch! | |
| Darauf eine Frau mit sehr dunkler Haut, sehr vollen Lippen, zwei | |
| Schmucknarben und üppigem Afro. Ihr Wunsch-Cover? | |
| Ja! Ein Porträt von Oluwole Omofemi. Er malt wunderschöne Frauen. Und diese | |
| ist meine Mona Lisa. Je länger man sie anschaut, umso unterschiedlicher | |
| werden ihre Gesichtsausdrücke. Mal guckt sie arrogant, mal traurig, mal | |
| auch wütend von oben herab. | |
| Trügt der Eindruck, oder ist Ihre Protagonistin Issa nah an Ihren eigenen | |
| Gefühlslagen? | |
| Issa und ich leben in der gleichen Welt und teilen dieselbe | |
| Lebenserfahrung. Ich bin auch als Kind nach Deutschland gekommen, und ich | |
| bin auch im Hunsrück aufgewachsen. Da gibt es natürlich Parallelen. | |
| Trotzdem ist mir die deutsch-kamerunische Geschichte das Wichtigste an dem | |
| Roman. Ich sehe mich da auch als Täterin, weil ich mich als Deutsche sehe. | |
| Ich habe kaum Verbindungen nach Kamerun, war zum letzten Mal vor 18 Jahren | |
| dort. Ich bin durch und durch deutsch. | |
| Der Roman erzählt vor dem Hintergrund der deutsch-kamerunischen Geschichte | |
| von fünf verschiedenen Frauen. Issa erzählt als einzige in Ich-Form. Gibt | |
| es eine Frage, auf die Ihr Roman die Antwort gibt? | |
| Eigentlich ist der Roman die Antwort auf die Frage „Woher kommst du?“, eine | |
| Frage, die Issa in der Fußgängerzone, in der S-Bahn oder sonst wo dauernd | |
| gestellt bekommt. | |
| Eine falsche Frage? | |
| Schwarze Menschen reagieren extrem genervt auf die Frage, weil die | |
| Fragenden in 90 Prozent aller Fälle Afrika oder ein afrikanisches Land | |
| hören wollen, um dann zu sagen: „Da waren ich oder meine Nachbarn schon | |
| mal.“ | |
| Vielleicht sind sie nur neugierig oder suchen einen Gesprächsanfang. | |
| Ich habe schon zahlreiche Vorträge darüber gehalten, warum die Frage | |
| rassistisch ist und was daran rassistisch ist. Die Leute fühlen sich dann | |
| immer angegriffen. Aber wenn man Issa fragen würde, woher kommst du, müsste | |
| sie weit ausholen. | |
| Oder den Leuten einfach Ihren Roman in die Hand drücken. | |
| Genau. | |
| Dient Ihr Roman also auch der Aufklärung? | |
| Das Buch ist nicht da, um zu belehren, es soll unterhalten. Ich lese extrem | |
| gerne und schreibe gerne alle möglichen Texte. Ich finde die deutsche | |
| Sprache wunderschön, obwohl sie nicht meine Muttersprache ist. Ich liebe, | |
| wie präzise sie ist, wie genau man sich darin ausdrücken kann. | |
| Es ist ein unterhaltsames Buch geworden, aber auch ein sehr lehrreiches. | |
| Manchmal bin ich über Formulierungen gestolpert. Etwa wenn Issa ihre eigene | |
| Hautfarbe als „Schokobraunton“ kategorisiert. | |
| Ich habe das mit Absicht geschrieben, weil ich früher so meine Haut selbst | |
| beschrieben hätte. Der Roman spielt 2006. Damals waren wir alle noch nicht | |
| so sensibilisiert, auch Schwarze deutsche Menschen nicht. | |
| Verstehe. An anderer Stelle heißt es von einer Frau, sie bewege sich grazil | |
| wie eine Antilope? | |
| Ja, das sagt die auktoriale Erzählerin aus Kamerun. Anderes ist auch | |
| rausgefallen, etwa das Bild des Gorillas in Bezug auf einen Mann, der seine | |
| Familie schützt wie ein Silberrücken. | |
| Menschen mit Tieren zu vergleichen ist für viele ja ein No-go. | |
| Mir war es wichtig, die Bilder in meinem Kopf aufzuschreiben. In meinem | |
| Kopf reproduziere ich keine rassistischen Klischees wie „Schwarze Menschen | |
| sind wie Affen“, sondern ich sehe einen majestätisch stolzen Silberrücken, | |
| der seine Familie beschützt. | |
| An einer Stelle des Romans sagt die Urgroßmutter Mbambah „Vergangenheit | |
| anschauen, um Gegenwart zu verstehen und Zukunft gestalten zu können“. Ist | |
| das der Kern Ihres Romans? | |
| Ja! Das ist auch der Kernsatz, den meine Uroma tatsächlich gesagt hat. Ich | |
| hatte mit dem Gedanken gespielt, den Roman „Sankofa“ zu nennen, weil es | |
| genau das bedeutet. Dieses Schriftzeichen stellt einen Vogel dar, der nach | |
| hinten schaut und ein Ei mit seinem Rücken auffängt (sie eilt in die Küche | |
| und holt eine Tasse mit dem Sankofa-Vogel darauf). | |
| Dieser Vogel hat eine besondere Bedeutung für Sie? | |
| Das Wort gibt es in fast allen westafrikanischen Sprachen. Es ist die | |
| Tradition des Storytellings und der Grund, warum ich überhaupt einen Roman | |
| schreiben wollte. Ich glaube, wenn wir die Gegenwart nicht verstehen, | |
| brauchen wir uns keine Gedanken um die Zukunft zu machen. Wir als | |
| Deutschland müssen verstehen, dass die deutsche Kolonialgeschichte Teil | |
| von all dem ist, was uns heute ausmacht. | |
| Es geht im Roman nicht nur um Kolonialismus, sondern auch um Mutterschaft | |
| und Mütterlichkeit. Warum sind Ihnen diese Themen, abgesehen davon, dass | |
| Sie selbst zwei Kinder haben, wichtig? | |
| Für mich ist es ein extrem feministischer Roman, weil er fünf Feministinnen | |
| begleitet, auch wenn sie das Wort vielleicht gar nicht kennen. Ich wollte | |
| über Frauen und Frauengemeinschaft schreiben. Was ist Sisterhood? Was | |
| bedeutet Solidarität unter Frauen? Ich konnte nicht darüber schreiben, ohne | |
| übers Muttersein zu sprechen. Die Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern | |
| sind komplex, egal welche Hautfarbe man hat. | |
| Sie erzählen Ihren Roman matrilinear, nur über die Frauen der Familie. | |
| Mir war’s wichtig, Männern keinen Raum zu geben, ich glaube, das fällt auf | |
| (lacht). Ich wollte ganz bewusst Frauen in den Mittelpunkt stellen. Keine | |
| Astronautinnen oder Frauen, die etwas Krasses erfunden haben, sondern | |
| Alltagsheldinnen. | |
| 23 Mar 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Shirin Sojitrawalla | |
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