# taz.de -- Kommunalwahlen in Israel: Kandidatin für politisches Neuland | |
> Trotz Krieg finden in Israel Kommunalwahlen statt. Mit dabei: Sondos | |
> Alhoot, die Jerusalems erste palästinensische Stadtratsabgeordnete werden | |
> will. | |
Bild: Die Spitzenkandidatin der einzigen jüdisch-arabischen Liste, Sondos Alho… | |
JERUSALEM taz | Wer die vielleicht erste palästinensische | |
Stadtratsabgeordnete Jerusalems kennenlernen will, muss in den jüdischen | |
Westen der Stadt fahren. In einem Wohnzimmer im Mittelklasseviertel Baka | |
drängen sich eine Woche vor den israelischen Kommunalwahlen rund 70 | |
Menschen, um Sondos Alhoot zu treffen, die Spitzenkandidatin der einzigen | |
jüdisch-arabischen Liste. Die Wahlkampfveranstaltung findet in der Wohnung | |
der Familie statt, an den Wänden hängen Bilder der Kinder in Armeeuniform. | |
Trotz des Gazakrieges sind am Dienstag in Israel rund sieben Millionen | |
Menschen aufgerufen, Bürgermeister und Stadträte zu wählen. Die Wahlen | |
hätten ursprünglich am 31. Oktober stattfinden sollen, wurden aber nach dem | |
Überfall der Hamas zweimal verschoben. Mit dem Einzug ins Stadtparlament | |
würde Alhoot in Israels größter jüdisch-arabischer Stadt politisches | |
Neuland betreten – ausgerechnet in einer der dunkelsten Phasen [1][des | |
Nahostkonflikts.] | |
„Ich möchte etwas über Sprache erzählen“, beginnt die 33-jährige | |
Arabischlehrerin auf Hebräisch ihre Vorstellung. Sie sei vor 15 Jahren | |
aus Nazareth nach Jerusalem gekommen und habe an jüdischen Schulen | |
unterrichtet. An einer hätten sich die Kinder geweigert, sie als | |
Terroristin bezeichnet. Sie habe an diesem Tag fast beschlossen | |
zurückzugehen. Dann habe sie ihren Mut zusammengenommen und sei auf die | |
Kinder zugegangen. „Ich weiß noch heute den Namen von dem Schüler, der am | |
lautesten geschrien hat“, erzählt Alhoot. Sie habe ihm erklärt, wenn er die | |
Sprache lerne, würde er feststellen, dass die Menschen in der Straßenbahn | |
auf Arabisch über alltägliche Dinge sprechen und er keine Angst haben | |
brauche. „Am Ende blieb ich an der Schule und das Kind wurde eines meiner | |
treuesten Begleiter dort.“ | |
Mit Sprache hat sie bereits im Sommer für Aufsehen gesorgt. Als eine der | |
wenigen arabischen Israelis erklomm sie bei den wöchentlichen | |
Massenprotesten gegen den Justizumbau der Regierung die Bühne in Tel Aviv – | |
und gab Zehntausenden Demonstrierenden einen Schnellkurs: „Das Volk will | |
Demokratie“, rief sie, auf Arabisch. | |
## Breiter Boykott seit Israels Besetzung 1967 | |
Am Abend in Baka verspricht ein älterer jüdischer Zuhörer Alhoot, für sie | |
zu stimmen. „Aber wie willst du Wähler aus der arabischen Bevölkerung | |
gewinnen?“, fragt er. Der überwiegende Teil der mehr als 350.000 | |
Palästinenser in Ostjerusalem, rund ein Drittel der Stadtbevölkerung, | |
beteiligt sich seit der israelischen Besetzung 1967 nicht an den | |
Kommunalwahlen. Die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO rief am | |
Sonntag zu einem Boykott von Alhoots Liste auf. Auf der Straße in | |
Ostjerusalem kennt kaum jemand ihren Namen. | |
Die meisten palästinensischen Jerusalemer haben eine | |
Aufenthaltsgenehmigung, sind jedoch keine Staatsbürger. Viele sehen in | |
einer Teilnahme an den Wahlen eine Legitimation der Besatzung. Die stetige | |
Ausweitung völkerrechtswidriger israelischer Siedlungen auch in | |
Ostjerusalem hat viele in ihrer Haltung bestätigt. | |
Außerhalb Jerusalems, in arabisch-palästinensischen Städten wie Alhoots | |
Heimat Nazareth, ist die Ausgangssituation ganz anders: Hier liegt die | |
Wahlbeteiligung der arabischen Bevölkerung bei Kommunalwahlen regelmäßig | |
bei mehr als 80 Prozent. Viele hier gehen zur Wahl, weil sie deren Folgen | |
für ihr tägliches Leben sehen. Alhoot hat das zum Kern ihrer Kampagne | |
gemacht. | |
„Ich möchte mich auf die alltäglichen Probleme konzentrieren: Verkehr, | |
Schulen, die Wasserversorgung“, sagt die Kandidatin. Sie habe Zweifel | |
gehabt, ihre Kandidatur nach dem 7. Oktober fortzusetzen. „Leute haben mich | |
eine Verräterin genannt“, sagt die 33-Jährige. „Aber ich glaube, dass | |
Repräsentation uns weiter bringt als Boykott.“ Sie wolle den rechten | |
Parteien nicht das Feld überlassen. Rassismus gegen arabische Menschen habe | |
es schon vorher gegeben. „Aber mit dem Krieg haben sie ihre Masken fallen | |
lassen“, sagt Alhoot. Sie redeten nun offen davon, alle Araber rauswerfen | |
zu wollen. | |
Nur etwa zehn Prozent des Budgets der Stadt werden für Ostjerusalem | |
ausgegeben, obwohl hier rund 40 Prozent der Bevölkerung leben. Die Zahl der | |
Schulen, Kindergärten und anderer öffentlicher Einrichtungen ist niedriger | |
als im Westen. Zudem ließ die Gemeinde allein im vergangenen Jahr 140 | |
palästinensische Wohnungen abreißen, während es für die arabische | |
Bevölkerung kaum möglich ist, Baugenehmigungen zu erhalten. | |
Die Kommunalwahlen haben nur begrenzte Bedeutung für [2][die nationale | |
Politik in Israel]. Zudem gibt es für den rechtsnationalen amtierenden | |
Jerusalemer Bürgermeister Mosche Lion keine ernste Konkurrenz. Am Abend in | |
Baka erhält Alhoot dennoch viel Beifall. Eine Frau mit grauen Locken | |
erzählt noch: „Mein Sohn hat mich gefragt, warum Juden für arabische | |
Kandidaten stimmen sollten, was wir davon hätten.“ Ihre Antwort: „Weil es | |
nur gemeinsam eine Zukunft gibt.“ | |
27 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Felix Wellisch | |
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