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# taz.de -- Aufklärung in Portugal: Die erste Schule für Feminismus
> Über Frauenrechte. Ungleichheit und Machtmissbrauch lernt man in Portugal
> wenig. Zwei Freundinnen wollen das ändern und haben eine Schule
> gegründet.
Bild: Demo zum Frauentag 2017 in Lissabon
Lissabon taz | „Die Freundinnen meiner 16-jährigen Tochter beschweren sich
darüber, dass ihre Eltern sie zwingen, das Haus zu putzen, während ihre
Brüder sich ausruhen können. Das sind so Dinge, wo man denkt: Oh Gott, wenn
das heutzutage passiert, dann muss sich noch einiges ändern. Denn was
bedeutet für diese Kinder Gleichberechtigung?“, fragt Valquiria Porto da
Rosa.
Sie ist Brasilianerin, BWL-erin und Feministin. „Mit meiner Tochter spreche
ich zu Hause über feministische Themen. Doch sie hat mich letztens gefragt,
was der Unterschied zwischen [1][Sexismus] und Machismus sei. Da frag ich
mich: Wie kann es sein, dass sie nichts darüber weiß, obwohl sie in
Lissabon zur Schule geht?“ Valquirias Muschelkette klappert, während sie
heftig gestikuliert; ihre schmalen Augen blitzen.
Taynara Nascimento wundert sich. Leider habe sie keine Antwort, sie habe
sich das noch nie gefragt, es sei einfach so: „Im portugiesischen Lehrplan
hat das Thema Feminismus keinen Platz.“ Taynara ist 30 Jahre alt und
Lehrerin für Portugiesisch als Fremdsprache an der Algarve. Etwas
umständlich rückt sie ihre große Brille mit dem schmalen Silberrand
zurecht. „Dabei gibt es ja das Fach Gesellschaftslehre, wo Feminismus super
reinpassen würde, aber ich kenne keine Kollegin und keinen Kollegen, die in
diesem Fach über Feminismus sprechen.“
2022 lag Portugal [2][im Gleichstellungsindex] des Europäischen Instituts
für Gleichstellungsfragen auf Platz 15, mit 62,8 Prozent von 100. Und damit
unter dem EU-Durchschnitt, auch was den Pay Gap betrifft. 2023 hat sich das
Land auf 67,4 Punkte verbessert. Das zeigt: Es tut sich etwas, wenn auch
sehr langsam.
„Für portugiesische Verhältnisse sind viele Gesetze wirklich
fortschrittlich. Sex ohne Einwilligung wird als Vergewaltigung definiert.
Frauen dürfen seit 2007 ohne Begründung bis zur 10. Schwangerschaftswoche
abtreiben. Mir reicht das nicht, aber wir müssen es im Kontext sehen: Erst
in den 1980er Jahren war in Portugal eine Abtreibung überhaupt erlaubt –
unter sehr strengen Vorschriften. Erst 1976 durften Frauen wählen“, erklärt
Marta Martins. Sie hat trägt ihre langen glatten rötlichen Haare mit Pony,
liebt Blümchenkleider und arbeitet als Kulturmanagerin. Trotz progressiver
Gesetze seien Gewohnheiten und Denkweisen in der portugiesischen
Gesellschaft häufig konservativ und veraltet.
## Stereotype überwinden
„Unterdrückung der Frauen, Machtmissbrauch, Gewalt, Ungleichheit. Dies wird
hier alles einfach geleugnet. Wir haben 48 Jahre in einer Diktatur gelebt,
in der Frauen zum Schweigen gebracht und ihnen beigebracht wurde, alles zu
akzeptieren. Das tun viele immer noch. Obwohl wir seit 50 Jahren in einer
Demokratie leben.“ Auch Marta selbst, die viel hinterfrage, ertappe sich
manchmal dabei, Denkmuster zu übernehmen: „Wir haben uns alle an die
stereotype Rolle der Frau gewöhnt.“ Der einzige Ausweg führe über Austausch
und Bildung.
Das Bildungsministerium schweigt zu diesem Thema. Auch auf mehrere Anfragen
der taz. Auch portugiesische Geschichte ist nur geringfügig im Lehrplan
vorgesehen, besonders, was die koloniale Vergangenheit angeht.
Valquiria und Marta wurde dieses Schweigen zu laut. Also haben sie selbst
eine Schule gegründet, eine feministische: „Manamiga“. Der Name ist eine
Verbindung der umgangssprachlichen Wörter mana (Schwester) und miga
(Freundin). Seit einem Jahr bieten sie Workshops an zu Themen wie
Transidentität, Frauenrechte im Alltag, Cis-Gender, Gender Pay Gap.
Valquiria erklärt: „In Portugal wird, wenn überhaupt, im akademischen
Bereich über feministische Themen gesprochen. Da gibt es tolle
feministische Initiativen, Veranstaltungen und Buchclubs. Die sind jedoch
für viele nicht zugänglich. Unsere Schule aber ist für alle offen, es gibt
keine Berührungsängste. Einfach vorbeikommen, hinsetzen, mitreden.“
Damit sie möglichst viele unterschiedliche Menschen erreichen, gibt es kein
festes Schulgebäude: Jeder Kurs findet woanders statt. Hauptsächlich in
Bibliotheken und Kulturzentren. Tatsache ist, dass der Großteil der
Teilnehmenden Frauen sind, um die 30, weiß, Akademikerinnen. Viele Kurse
haben ein hohes Niveau. Es gibt viel Arbeit an theoretischen Konzepten und
mit philosophischen Texten.
Wie der Abend zum Thema „Strukturelle Unterdrückung“ in dem weißen
Besprechungsraum mit Stuckdecke und großen Fenstern in der
Stadtteilbibliothek von Belém. 20 Menschen sitzen hier und schauen auf die
Leinwand, 20 sind digital zugeschaltet, hauptsächlich aus Brasilien. Sie
sind zwischen 25 und 66 Jahre alt. Im Raum sind die meisten weiße hetero
Akademiker-Portugiesinnen. Aber digital zugeschaltet sind unter anderem
eine Frau aus Angola, fünf Cis-Männer, drei Brasilianerinnen, zwei
lesbische Spanierinnen und drei Teilnehmerinnen, die angaben, sie hätten
keine Uni besucht.
Eine davon ist Paula, 38, aus Lissabon. Sie hält sich zurück, beobachtet
und notiert viel. Nachher sagt sie auf dem Gang: „Vor allem die praktischen
Übungen haben mir gefallen, weil wir uns gegenseitig viel austauschen
konnten. Sie haben mir eine ganz neue Perspektive eröffnet. Ich bin weiß,
hetero, habe keinen Migrationshintergrund. Mir war nicht bewusst, wie sehr
es eine Rolle spielt, welche Erfahrungen man macht, je nachdem, wer man in
der Gesellschaft ist. Wie sehr andere in unserer Gesellschaft unterdrückt
und ausgegrenzt werden.“
Raquell nickt heftig. Sie ist 20 Jahre alt, hat türkische und
portugiesische Wurzeln. Feminismus sei kein völlig fremdes Thema in ihrem
Leben, sie war sich der Geschlechterungerechtigkeit „mehr oder weniger“
bewusst, und dann gab es einen Missbrauchsskandal an ihrer Uni, dessen
Verantwortlicher nicht zur Rechenschaft gezogen wurde. „Es gibt so viele
Situationen, die ich einfach hab durchgehen lassen. Sexistische Witze,
Bemerkungen auf der Straße, Beleidigungen oder die Tatsache, dass ich in
meinem Nebenjob weniger verdiene als meine Kollegen, obwohl ich dasselbe
mache.“
Sie merkte, dass ihr ein richtiger Austausch fehlte. „Es tut mir fast weh,
es zu sagen, aber es gibt kaum Orte, an denen diese Themen besprochen
werden. In der Schule und an der Uni haben wir nie über Feminismus geredet.
Selbst meine Freundinnen winken ab, sie finde es übertrieben und wollen auf
keinen Fall als Feministinnen bezeichnet werden.“ Raquell seufzt. „Es wäre
wirklich wichtig, dass das Thema ins Bildungssystem aufgenommen wird.“
Diese Lücke im Bildungssystem würden Valquiria und Marta mit ihrer Schule
gern füllen und mit Schulen und Universitäten kooperieren. „Es muss darüber
nachgedacht werden, wo in Unterrichtsmaterialien stereotype Rollen sind.
Gerade im Geschichts-, Portugiesisch- und Kunstunterricht. Aktuell spielen
Frauen im Unterricht immer noch Nebenrollen.
Wie viel würde sich ändern, wenn wir Kindern beibrächten, zu hinterfragen
und diskutieren! Und endlich anderen eine Stimme gäben. Denjenigen, die im
Laufe der Geschichte unsichtbar waren.“ Damit meint Marta Portugiesinnen
und Portugiesen mit afrikanischen Wurzeln, Transpersonen oder auch Frauen,
die während der 48-jährigen Diktatur aufwuchsen.
Um diese Menschen mehr einzubinden, bieten sie ein Stipendienprogramm an.
Viele könnten sich bei den niedrigen portugiesischen Gehältern die 55 Euro
pro Workshop nicht leisten. Es soll niedrigschwelligere Kurse geben zu
„Feminismus im Alltag“ und Workshops wie mit Kindern über Feminismus und
Machismus gesprochen werden könne. Außerdem wollen sie Kampagnen
organisieren, um die portugiesische Gesellschaft aufzurütteln, in der es
keine Protestkultur gibt und es nicht gern gesehen werde, wenn Veränderung
eingefordert werde.
„Wir wurden nicht von den Wellen der internationalen Frauenbewegungen
erfasst. Nicht nur, weil jeder Versuch, Frauenrechte zu fordern, im Keim
erstickt wurde, sondern auch, weil Frauen zu beschäftigt waren. Sie wurden
schnell in den Arbeitsmarkt integriert, als ihre Männer in den 1960er und
70er Jahren im Kolonialkrieg waren. Da wurden sie wie Männer behandelt und
vergessen, dass sie zu Hause auch noch Kinder, Haushalt, Pflege haben“,
sagt Marta.
Darum käme die portugiesische feministische Bewegung auch nur so schleppend
voran. So gibt es keine Demos, Proteste oder anhaltenden Aufschrei in der
Bevölkerung, wenn die krassen Missbrauchszahlen in der katholischen Kirche
bekannt werden oder die häuslicher Gewalt. Das ist in Portugal die
Straftat, die am meisten tötet. Rund 15.000 Anzeigen gab es im ersten
Halbjahr 2023, die Dunkelziffer sei riesig. Getan wird wenig.
„Häusliche Gewalt hat nichts damit zu tun, ob ein Volk generell gewalttätig
ist oder friedlich. Gewalt auf der Straße ist Gewalt gegen Fremde, Gewalt
in den eigenen vier Wänden ist Gewalt gegen Menschen, die wir kennen. Sie
hat mit Kontrolle zu tun. Mit Strukturen, mit Politik“, sagt die
Brasilianerin Valquiria.
Und mit dem Alter der Bevölkerung, findet Taynara, die Lehrerin von der
Algarve. „Die Bevölkerung ist sehr alt, denn die Jungen verlassen das Land,
weil sie keine Zukunftsaussichten haben. Doch Veränderung, gerade bei der
Gleichberechtigung, geht ausschließlich von den Jungen aus.“ Taynara
unterrichtet hauptsächlich Kinder und Jugendliche mit
Migrationshintergrund. „Meine Schülerinnen und auch Schüler haben
unglaublich wenige Infos dazu. Zugang hätten sie schon, durch das Internet.
Aber sie kommen gar nicht auf die Idee, sich dort zu informieren.“
Raquell hat genau das getan. In den sozialen Netzwerken stieß sie auf
Manamiga. „Es ist eine große Bereicherung. Ich habe mich schon zu weiteren
Kursen angemeldet. Großartig ist, dass ich hier andere Leute treffe, die
sich für die gleichen Themen interessieren. Ich hab hier erfahren, dass ich
nicht verrückt bin“, sagt sie lachend und wirft ihre langen Locken zurück.
## Privatschulen werden beliebter
Doch wie sieht [3][das portugiesische Bildungssystem] überhaupt aus? Mit
drei Jahren gehen portugiesische Kinder in die Vorschule. Mit sechs kommen
sie in die Grundschule, die bis zum 15. Lebensjahr dauert und drei Zyklen
durchläuft. Daran schließt sich die weiterführende Schule an, die drei
Jahre dauert. Der Großteil der portugiesischen Schülerinnen und Schüler
besucht öffentliche Schulen, die kostenlos sind. Aber gerade in den
Großstädten werden die privaten Schulen beliebter, da es im öffentlichen
Schulsystem an Lehrkräften mangelt und die Schulgebäude und
Unterrichtsmaterialien oft veraltet sind. Ein bekanntes Problem.
Seit über einem Jahr streiken und demonstrieren Lehrkräfte der öffentlichen
Schulen regelmäßig. Sie fordern mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen.
Lehrpersonen in der untersten Gehaltsstufe verdienen in Portugal etwa 1.100
Euro, in höheren Gehaltsstufen sind es oft weniger als 2.000 Euro.
Dienstjahre werden nicht angerechnet, Beförderungen verschleppt und viele
ständig an andere Orte im Land versetzt. Es gibt viel zu tun.
8 Mar 2024
## LINKS
[1] /Sexismus/!t5009352
[2] /Gleichstellung-von-Mann-und-Frau/!5939092
[3] /Bildungssystem-in-Portugal/!5734169
## AUTOREN
Christina Weise
## TAGS
Portugal
Ungleichheit
Feminismus
Bildungssystem
Rechtsextremismus
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