# taz.de -- Frauenrechte in Afghanistan: Hunger nach Bildung | |
> In Afghanistan haben Frauen ihre Träume noch nicht begraben, trotz der | |
> Taliban. Manche nähen, andere lernen heimlich Englisch. Aufgeben will | |
> keine. | |
Bild: Derzeit offline: Maryam* musste kürzlich ihren Instagramkanal löschen. … | |
KABUL UND HELMAND taz | In einem kleinen Lokal im Kabuler Stadtteil | |
Karte-e-Tschar (Viertel 4) sitzt Maryam*, ein Glas Mangosaft vor sich. Der | |
nur künstlich erhellte Familienbereich liegt abgeschirmt hinter einem | |
dicken schimmernden Vorhang. Der vordere Tageslichtbereich ist den Männern | |
vorbehalten. | |
Auf Maryams heller Haut hebt sich am Handgelenk dunkel ein Zeichen des | |
Widerstandes ab. Ein Schriftzug – simple girl with beautiful eyes, | |
einfaches Mädchen mit wunderschönen Augen – windet sich um ihren Arm; | |
frisch gestochen. „Ich war bei einer Frau, die das jetzt zu Hause heimlich | |
anbietet, weil ihr Beauty-Salon geschlossen wurde“, erklärt sie. | |
Seit die Taliban [1][im August 2021] die Macht ergriffen haben, wurden | |
Frauen und Mädchen schrittweise aus der Öffentlichkeit verdrängt. Doch | |
genau da, im Verborgenen, geht das weiter, was von den Machthabern | |
unerwünscht ist: Frauen arbeiten, Frauen bilden sich, Frauen klären auf. | |
Die Taliban verhängten eine Hidschabpflicht, übermalten Frauengesichter auf | |
Plakaten und in Schaufenstern, schlossen weiterführende Schulen und | |
Universitäten für Mädchen und Frauen, verboten später den Besuch von | |
Freizeitparks, öffentlichen Bädern und Fitnessstudios, nach und nach fast | |
alle Berufe und zuletzt den Betrieb von Beauty-Salons. | |
## Nur die Realität, nichts Politisches | |
Damit verschwand einer der letzten Treffpunkte und Rückzugsorte für Frauen. | |
Es bleibt Frauen in Afghanistan nur noch das private Haus oder die oft sehr | |
kleinen und meist dunklen Familienbereiche von Restaurants und Cafés, um | |
sich im Geheimen zu treffen. Und das auch nur in bestimmten Provinzen. | |
Bis vor Kurzem hat Maryam noch ihre Meinung – dass Frauen selbst über ihr | |
Leben entscheiden können sollen oder Kritik am Bildungsverbot für Frauen – | |
über ihren Instagramkanal verbreitet. Dann wurde sie vorsichtiger, hat nur | |
mehr Geschichten erzählt von Menschen, die ihr auf der Straße begegnet | |
sind; über Armut, Verzweiflung und Zwangsheirat, dazu Fotos geteilt. „Doch | |
vor Kurzem wurde mein Vater von den Taliban bedroht, sie sind zu uns nach | |
Hause gekommen und haben gesagt, er muss dafür sorgen, dass seine Tochter | |
mit ihren Aktivitäten aufhört“, schildert sie wütend. | |
„Ich habe doch gar nichts Politisches geschrieben; ich habe einfach nur die | |
Realität der Menschen hier gezeigt“, sagt sie. Sie habe daher beschlossen, | |
schnell das Land zu verlassen. In den Iran mag sie gehen und dann weiter | |
irgendwohin, wo es besser und freier für sie ist. Das Visum fürs | |
Nachbarland hat sie bereits beantragt. Doch bevor sie geht, möchte sie noch | |
eine Freundin vorstellen, denn ihre Geschichte sei wichtig. | |
Das Gespräch findet in einem anderen Lokal im selben Stadtteil statt. Hier | |
ist der Familienteil immerhin taghell. Sharifa S. spricht schnell, obwohl | |
sie nicht gewohnt ist, auf Englisch ihre Geschichte zu erzählen. Doch sie | |
möchte ihre Perspektive mit der Welt teilen. „Es ist schwer, unter den | |
Taliban zu leben“, sagt sie. | |
## „Die Frau ist ganz unten“ | |
Sie gehört der ethnischen Minderheit der Hazara an, die von der | |
De-facto-Regierung stark diskriminiert werden. Hazara sind eine | |
ursprünglich buddhistische Volksgruppe – Zeugnis davon sind die übergroßen | |
Buddhastatuen in der Provinz Bamyian aus vorislamischer Zeit, die [2][die | |
Taliban 2001 in die Luft gesprengt] haben. Amnesty International berichtete | |
vor Kurzem über gezielte Tötungen von Hazara. | |
Sharifa versteht die Ablehnung nicht, auch wenn sie weiß, dass ihre | |
Volksgruppe einer anderen muslimischen Strömung angehört. „Wir glauben alle | |
an Allah, das sollte doch reichen“, sagt sie. Ihre Freundin Maryam nickt | |
bekräftigend. Im Alltag spüre sie allerdings vor allem die Unterdrückung | |
als Frau: „Wir sind in der Gesellschaft ganz unten, die Frau ist ganz | |
unten.“ Wann immer sie das Haus verlasse, schlage ihr der Hass gegen Frauen | |
entgegen. Allein dass sie überhaupt das Haus verlasse, stelle für viele ein | |
Problem dar: „Sie finden, dass ich als Frau zu Hause bleiben, mich um den | |
Haushalt kümmern und auch dass ich heiraten sollte.“ | |
Doch die 22-Jährige möchte nicht heiraten, sie möchte ihr eigenes Leben | |
gestalten. Aktuell ist ihr das kaum möglich. Doch zumindest hat sie einen | |
Weg gefunden, ihre kranke Mutter und ihre Schwester zu ernähren: „Ich habe | |
keinen Vater und keinen Bruder, ich bin wie der Mann.“ Viele berufliche | |
Möglichkeiten blieben aktuell allerdings nicht. „Ich putze die Häuser | |
anderer Leute“, erklärt sie. Reichere Familien bezahlten sie dafür. | |
Das Geld sei sehr knapp, aber immerhin könnten sie sich die Miete und die | |
Medikamente leisten, die ihre Mutter benötige – meistens jedenfalls. „Es | |
ist wirklich hart, weil es niemanden gibt, der uns unterstützt“, sagt sie. | |
Sie hofft auf eine bessere Zukunft in Afghanistan. Ein Land, in dem sie | |
selbst entscheiden kann, wie sie ihr Leben führt, in dem Frauen jeder | |
Arbeit nachgehen und alles studieren können, liegt nach ihrer Vorstellung | |
ganz weit entfernt. Doch sie gibt nicht auf: „Ich möchte daran arbeiten, | |
dass die Situation für mich und meine Mutter und meine Schwester besser | |
wird.“ | |
## Billiger und sicherer: Digitale Kunst | |
Ein anderes Café in Kabul, diesmal im immer noch belebten, wenn auch im | |
Vergleich zu Republikzeiten deutlich ruhigeren Stadtteil Shareh Naw; hier | |
ist der Familienbereich ein Garten, hell und angenehm. Das Treffen findet | |
zur Sicherheit jedoch in einer Ecke statt, damit es nicht zu viele Mithörer | |
geben kann. | |
Kimia – so lautet ihr Künstlerinnenname – ist etwas vorsichtiger geworden, | |
was die Inhalte auf ihren Socialmedia-Kanälen angeeht; zumindest zeitweise. | |
Denn online gibt es zwar mehr Freiheit als im analogen Alltag, aber auch | |
hier wird der Geheimdienst der Taliban immer aktiver und ordnet mehr und | |
mehr der Profile realen Personen zu. Wie lange also mehr Freiheiten | |
virtuell bestehen bleiben, ist derzeit unklar. Doch analoge Kunst mit | |
Leinwänden und Farbe ist nicht nur kostspielig, sondern auch enorm | |
gefährlich. | |
Wenige Tage nach dem Gespräch lädt Kimia ein Werk hoch, das das Schulverbot | |
für Mädchen explizit kritisiert. Immer wieder wurde sie für ihre Arbeit | |
angefeindet und bedroht. „Die Taliban haben mich kontaktiert und mir | |
gesagt, dass ich keine Gesichter malen darf. Ich soll Landschaften malen | |
oder Kalligrafie machen“, schildert sie. Gesichter seien Gottes Werk, man | |
dürfe sie daher nicht malen. | |
„Aber ich mag Gesichter malen, sie sind wichtig für meine Bilder“, sagt sie | |
mit erhobener Stimme und leuchtenden Augen. „Wenn ich male, kann ich der | |
restlichen Welt zeigen, wie schwer das Leben hier als Mädchen und Frau | |
ist“, sagt sie, wieder erhebt sie ihre Stimme. Es sei wichtig, Menschen zu | |
erreichen, und mit Kunst sei das möglich: „Wenn ein Künstler malt, dann | |
teilt er ein Stück seiner Seele mit anderen.“ Daher habe sie auch immer | |
neue Wege gefunden, ihre Arbeit fortzusetzen. Inzwischen zeichne sie | |
digital am Bildschirm. | |
## Nicht so schlimm wie früher | |
Bereits die Kunst war für sie ein Plan B. Kimia hat eigentlich Journalismus | |
studiert, sie graduierte gerade, als die Taliban die Macht an sich rissen. | |
„Daher musste ich einen anderen Beruf für mich finden.“ Als | |
Nachrichtensprecherin und Reporterin hätte sie nicht frei arbeiten können. | |
Ihr großer Traum ist es, internationale Reichweite als Künstlerin zu | |
bekommen, ihre Bilder ausstellen zu können, und zwar physisch und analog. | |
„Dann würde ich am liebsten an einer Universität Kunst und Kultur | |
vermitteln“, sagt sie, ihre Schwester Atifa* lächelt und ergreift das Wort: | |
„Bildung ist sehr wichtig!“ | |
Sie ist zwei Jahre älter und brennt ebenso wie die jüngere für | |
Frauenrechte. Beide tragen beim Gespräch keinen Hidschab, sondern nur ein | |
Tuch, das die Haare mehr schlecht als recht bedeckt – so wurden Kopftücher | |
mehrheitlich auch zu Republikzeiten getragen – und dazu weit fallende, | |
lockere Kleidung, aber keine schwarze Abaya oder gar blaue Burka, wie die | |
Taliban sie bevorzugen. | |
„Es gibt nichts Wichtigeres, als sich immerzu fortzubilden und | |
weiterzuentwickeln“, sagt sie. Daher rate sie Frauen, denen derzeit Schulen | |
und Universitäten verschlossen sind, zu Hause Bücher zu lesen und das | |
Internet zu nutzen, auch wenn das in einem Land, in dem die Mehrheit der | |
Bevölkerung nur über mobiles Netz verfügt, das je nach Provinz sehr | |
instabil ist, nicht einfach ist. | |
„Ja, es gibt viele Schwierigkeiten in unserem Land, aber wir haben zum | |
Glück die moderne Technik“, sagt Atifa* optimistisch. „Es ist nicht mehr so | |
wie damals, als die Taliban zum ersten Mal Bildung für Frauen verboten | |
haben.“ Es sei leicht, online Bildungsangebote zu finden. | |
Sie selbst steht – ebenfalls mit modernen Messengersystemen – in Kontakt | |
mit ihren ehemaligen Schülerinnen. Die 27-Jährige ist nämlich eigentlich | |
Lehrerin von Beruf, darf aber auch diesen Beruf nicht mehr ausüben. „Mein | |
größter Traum ist wirklich, Lehrerin zu sein oder Dozentin. Wenn ich alles | |
machen könnte, was ich machen wollte, dann wäre es eben genau das: zu | |
unterrichten“, sagt sie. | |
Vor einigen Monaten habe sie noch versucht, Unterricht online abzuhalten, | |
doch das Projekt sei inzwischen eingestellt. „Die Schülerinnen hatten | |
leider keine Möglichkeit, richtig teilzunehmen, das Internet war zu | |
instabil“, sagt sie, „daher wurde das beendet.“ Immer wieder gebe sie | |
Privatunterricht, räumt sie dann ein. „Wenn eine meiner ehemaligen | |
Schülerinnen Fragen hat, versuche ich es über Whatsapp zu erklären oder ich | |
lade sie zu mir nach Hause ein“, sagt sie. Auch Lerngruppen hätte sie so | |
eingerichtet, etwa für Mathe und Englisch. „Es ist wichtig, dass man immer | |
weitermacht, immer an sich selbst arbeitet“, betont sie. | |
Ramin Sangin möchte vor allem über seine Schwestern sprechen. Der Arzt und | |
Leiter einer Schule, die von einer NGO betrieben wird, ist selbst | |
vielseitig engagiert, doch er lenkt immer wieder das Thema auf die beiden | |
Frauen in seinem Leben. | |
Das Gespräch findet während einer Autofahrt statt, mehr Zeit findet sich in | |
diesen Tagen nicht in seinem Kalender. Die ältere Schwester ist Chirurgin | |
und weiterhin als solche tätig. Die jüngere Schwester Sana*, selbst vom | |
Schulverbot betroffen, unterrichtet seit Kurzem Englisch. „Ja, ich bin eine | |
kleine Lehrerin“, kommentiert Sana stolz auf Whatsapp. | |
Im Vorjahr hatte sie ihrer Verzweiflung im Gespräch mit der Reporterin Luft | |
gemacht. „Ich will die Bomben wieder“, sagte sie damals wütend, „wenn ich | |
dann auch wieder zur Schule gehen kann.“ Damals besuchte sie gerade zum | |
zweiten Mal die sechste Klasse, weil die siebte Klassenstufe für Mädchen | |
bereits verboten war. Wenige Wochen später hatte sie sich dann gemeldet, | |
weinend, ebenfalls per Whatsapp. Ihr Schulrektor hatte sie zu sich ins Büro | |
zitiert, das Mädchen darüber belehrt, dass sie nicht wiederkommen dürfe. | |
Eine Wiederholung der sechsten Klasse sei ebenfalls verboten. | |
## Kein Abschluss, aber wenigstens lernen | |
In diesen Tagen klingt Sana ein klein wenig positiver. Der Schulbesuch ist | |
ihr nun wieder möglich, wenn auch auf eine etwas andere Art, als sie sich | |
das vorgestellt hatte. Ihre teils in der Schule, teils in Selbststudium | |
erworbenen Englischkenntnisse teilt sie nun selbstbewusst mit anderen. | |
Stolz zeigt ihr Bruder Videos vom Unterricht, die als Dokumentation | |
regelmäßig nach Österreich gesendet werden; dort unterstützt ein Verein das | |
heimliche Schulprojekt, in dem Frauen und Mädchen ohne Altersgrenze noch | |
lernen dürfen – solange die Taliban ihren Unterrichtsort nicht entdecken. | |
Einen Abschluss können sie freilich nicht ablegen, schon im Vorjahr war der | |
Zugang zum Konkur-Examen, dem Pendant zum deutschen Abitur als | |
Hochschulzulassung, den Mädchen und Frauen untersagt. In den Videos wird | |
auch deutlich, wie groß die Nachfrage ist. Alle Stühle sind voll besetzt, | |
auf Fußboden und Treppenstufen drängen sich weitere Schülerinnen zusammen. | |
Einige Distrikte entfernt, ganz in der Nähe des Cafés, in dem zuvor Maryam | |
saß, rattern Nähmaschinen. In einer ruhigen Gegend hinter hohen Mauern | |
findet sich eine kleine Oase mit schön gestaltetem Innenhof. In einem | |
sonnenlichtdurchfluteten Raum des angrenzenden Gebäudes nähen Frauen pinke | |
Stoffstreifen zu nachhaltigen Binden zusammen. | |
Arezo Osmani hat das Konzept aus Dänemark hierhergebracht und gemeinsam mit | |
ihrer Schwester ein kleines soziales und nachhaltiges Unternehmen mit | |
gemeinnützigem Ansatz gegründet, das in dieser besonderen Zeit nicht nur | |
dem Umweltschutz dient: [3][Safe Path Prosperity]. „Hier arbeiten Frauen, | |
die nicht mehr das tun dürfen, was sie eigentlich machen wollen“, erklärt | |
sie, während sie durch den kleinen Betrieb führt. | |
## Früher Neurowissenschaften, heute Nähunternehmen | |
Sie führt kurze Gespräche mit ihren Mitarbeiterinnen, prüft da ein Stück | |
Stoff, lächelt einer anderen zu und nickt. Da sind Studentinnen, die nicht | |
mehr die Universität besuchen dürfen, und Frauen, denen die Ausübung ihres | |
eigentlichen Berufs untersagt wurde. Denn selbst die Tätigkeit für | |
internationale Nichtregierungsorganisationen ist Frauen in Afghanistan | |
inzwischen verboten. Einer der letzten Bereiche, in dem Frauen fast | |
uneingeschränkt tätig sein dürfen, ist das Gesundheitswesen, und genau dazu | |
zählt das kleine frauengeführte Unternehmen. | |
Die Geschichte von „Safe Path“ beginnt jedoch schon vor der Machtübernahme | |
der Taliban; damals hatte Osmani keine Vorstellung davon, wie wichtig | |
dieser Ort einmal für die Beschäftigten werden würde. „2020 haben meine | |
Schwester und ich überlegt, was wir tun könnten, um Frauen zu unterstützen. | |
Schließlich sind wir auf das dänische Konzept der nachhaltigen Binden | |
aufmerksam geworden“, erinnert sie sich. | |
Im Februar 2021 war ihr kleines Unternehmen registriert und nahm offiziell | |
seinen Betrieb auf. Damals sei das für sie allerdings eher eine | |
Nebentätigkeit gewesen, sagt sie: „Ich habe an der Kabuler Universität | |
Psychologie und Philosophie studiert, später meinen Master in | |
Neurowissenschaften in China gemacht. Eigentlich ist das auch mein Fokus: | |
das Lehren.“ | |
Inzwischen ist das Unternehmen ihr Hauptberuf. Sie schaut nachdenklich aus | |
dem Fenster, nimmt eine Packung der nachhaltigen Binden, die auf ihrem | |
Schreibtisch steht, in die Hand und stellt sie wieder hin. „Ich bin jetzt | |
vor allem Arbeitgeberin von 35 Frauen“, sagt sie. Als Dozentin darf sie | |
unter dem Talibanregime nämlich nicht mehr tätig sein. Ob sie das mit ihren | |
Mitarbeiterinnen verbindet? Sie nickt, sie teilten im Grunde dasselbe | |
Schicksal. | |
## Die Periode ist keine Sünde | |
Doch die kleine Produktionsstätte bedeutet nicht nur Arbeitsplätze für | |
Frauen, sondern übernimmt noch eine weitere wichtige Funktion. „Wir klären | |
über die Periode auf“, sagt sie. Denn da gebe es noch viel Nachholbedarf. | |
„Jede Frau in diesem Land hat ihre eigene Geschichte zu ihrer | |
Menstruation“, ist sie überzeugt, meist handle es sich um eine sehr | |
negative oder eine traurige. | |
Sie erinnert sich an ein Mädchen, das von der eigenen Mutter verprügelt | |
wurde, als sie zum ersten Mal blutete. „Sie sagte, solange ihre Tochter | |
nicht verheiratet sei, mache sie nun ihre Eltern jeden Monat zu Sündern, | |
solange sie mit ihr zusammenlebten“, sagt sie. Viele solcher negativen | |
Vorurteile kursierten im Land, ihr Aufklärungsangebot richte sich daher an | |
die ganze Familie, nicht nur die Frauen und Mädchen selbst: „Wir sagen | |
ihnen, dass es normal und gesund ist, wenn ihre Tochter ihre Periode | |
bekommt. Es ist eine gute Sache und sie sollten froh darüber sein.“ | |
Sie ist froh, dass sie in einem Bereich arbeitet, den die Taliban für | |
Frauen noch nicht eingeschränkt haben. Dennoch steht sie vor großen | |
Herausforderungen. „Durch die vielen Stromausfälle benötigen wir | |
Generatoren, um den Betrieb am Laufen zu halten; das Öl ist sehr teuer“, | |
sagt sie. | |
Auch die Aufträge seien stark zurückgegangen; sie hätten schon mehr als 80 | |
Frauen beschäftigen können, nun seien es noch etwas mehr als 30. Das liege | |
vor allem daran, dass internationale NGOs sich zurückgezogen hätten, seit | |
die Taliban die Macht im Land übernommen hätten. „Für diese bieten wir | |
nämlich Hygiene-Kits an, die sie dann weiterverteilen“, schildert sie. | |
## Versteckte Schulen | |
Auch sonst trifft das kleine Unternehmen die politische Lage hart: | |
Transportwege über Pakistan sind unsicher und nehmen viel Zeit in Anspruch: | |
„Manchmal dauert es zwei oder drei Monate, bis wir alle Materialien für die | |
Produktion haben.“ Osmani hofft, dass sie bald wieder mehr Abnehmer haben | |
und so viele Frauen im Land mit Hygieneprodukten versorgen können. „Wir | |
erreichen die Frauen am besten durch NGOs“, sagt sie, während sie selbst | |
beim Abpacken der Binden hilft, routiniert faltet sie diese zusammen und | |
steckt sie mit einem Tütchen zusammen in eine Box. | |
Doch nicht nur in der Hauptstadt Kabul gibt es Menschen, die auf ihre Weise | |
Widerstand leisten. Mitten in Helmand, der Provinz, die vor allem durch | |
Krieg, dort hausende Taliban und striktere Geschlechtertrennung als in | |
anderen Provinzen von sich reden macht, gibt es versteckt einen Ort, an dem | |
Frauen weiter die Schulbank drücken. | |
Shah* führt in das abgelegene Gebäude und dort in einen kleinen, etwas | |
dunklen Unterrichtsraum. Ein Fenster an der Rückseite des Raums ist die | |
einzige Lichtquelle. An einem Whiteboard stehen Übungssätze auf Englisch, | |
drei junge Frauen kauern sich an den Schulbänken zusammen. Sie haben Angst, | |
dass jemand erfahren könnte, dass sie heute hier sind. Mit der Presse | |
möchten sie daher auch auf gar keinen Fall sprechen. | |
Vermutlich sind auch deshalb nur so wenige Frauen überhaupt zum Unterricht | |
gekommen, die Journalisten aus Deutschland waren angekündigt. Normalerweise | |
werden hier bis zu 20 Frauen unterrichtet. Shah erklärt das Konzept des | |
Orts. „Wir haben eigentlich ein Onlineangebot, aber damit erreichen wir | |
viele Frauen nicht. Die Infrastruktur ist schlecht, vielen fehlt zu Hause | |
stabiles Internet“. | |
## Darüber sprechen oder schweigen? | |
Darum hätten sie sich entschieden, trotz des großen Risikos, weiterhin auch | |
analog vor Ort Unterrichtseinheiten anzubieten. Shah erhielt bereits vor | |
mehreren Jahren einen Drohbrief der Taliban, in dem stand, dass sie ihn | |
umbringen würden, wenn er nicht seine Aktivitäten einstelle. Sie sind ein | |
kleines Team; vier Lehrerinnen und drei Lehrer. Die Schülerinnen an diesem | |
Tag sind zwischen 16 und 21 Jahre alt, ihnen ist nach Talibangesetzen | |
keinerlei Zugang zu Bildung möglich. | |
Schon vor der Machtübernahme durch die Taliban war Bildung vielen Frauen in | |
Helmand vorenthalten; oft schlichtweg wegen mangelnder Angebote, teilweise | |
durch konservative Rollenbilder innerhalb der Familien. Doch damals konnte | |
Shah seine Computer- und Englischkurse zumindest öffentlich anbieten und | |
bewerben, die Frauen daran teilnehmen, ohne staatliche Repressionen zu | |
fürchten. | |
Er hofft, dass zumindest die Onlineangebote irgendwann wieder mehr Mädchen | |
und Frauen erreichen: „Leider fehlt uns die finanzielle Unterstützung; es | |
ist so teuer, die notwendige Technologie zu beschaffen.“ Es brauche | |
Internet und teilweise auch die passenden Endgeräte, Tablets am besten. | |
Über Sach- und Geldspenden würde sich die kleine Gruppe sehr freuen. | |
Ein großer Zwiespalt derer, die im Land noch aktiv sind ist, dass sie | |
einerseits über ihre Aktivitäten sprechen müssen, um notwendige Mittel zu | |
erhalten und Bedürftige zu erreichen. Gleichzeitig begeben sie sich damit | |
in Gefahr. Es ist daher auch schwierig zu erfassen, wie viele solcher | |
untergründigen Aktivitäten weiterlaufen. | |
Offen bleibt auch, wie lang Projekte dieser Art, die dem Frauenbild der | |
Taliban widersprechen, noch Bestand haben können. Sie können jederzeit | |
durch neue Gesetze oder eine ausgebufftere Geheimdienstarbeit unterbunden | |
werden. Doch die Hoffnung bleibt, dass die letzten kleinen Freiräume der | |
Frauen entgegen allen Widerständen erhalten oder sogar erweitert werden | |
können. | |
*Namen von der Redaktion geändert | |
15 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Ein-Jahr-Afghanistan-unter-den-Taliban/!5871472 | |
[2] /Buddha-Statuen-in-Afghanistan/!5125831 | |
[3] https://www.safepathafghanistan.com | |
## AUTOREN | |
Lena Reiner | |
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