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# taz.de -- Frauenrechte in Afghanistan: Die heimlichen Unternehmerinnen
> Offiziell haben die Taliban Frauen in Afghanistan angewiesen, nicht zu
> arbeiten. In der Realität tun sie es doch – mit Erfolg.
Bild: Das Geschäft läuft, wenn auch im Geheimen
Masar-i-Scharif taz | Hinter einem ersten Eisentor folgt ein zweites,
dahinter eine schmale, steile Treppe. Sie wackelt ein wenig. Von unten
dringt ein blechernes Geräusch an die Oberfläche, wie tropfendes Wasser.
Doch es ist kein Wasser. Es sind Nähmaschinen. Zieht man, unten an der
Treppe angekommen, einen roten Vorhang beiseite, findet man: sechs
Schneiderinnen – eine geheime Fabrik, in einem Keller in Masar-i-Scharif im
Norden Afghanistans.
Als die Taliban [1][im Sommer 2021 wieder an die Macht] kommen, schließt
Najma Abeel, Modedesignerin und Schneiderin, ihr Atelier in der Innenstadt
von Masar-i-Scharif und zieht vorsichtshalber in den Keller eines
unscheinbaren Wohnblocks am Stadtrand. Vor zehn Jahren hat sie mit hundert
Dollar Startkapital angefangen, heute beschäftigt sie 16 Mitarbeiter,
erzählt sie. Und ihre schicken Kleider sind immer noch begehrt: „Ich
verkaufe online, nicht in meinem Atelier, sondern über Instagram.“ Aber:
„Es ist nicht dasselbe. Es ist nicht einfach.“
Das Internet erfordert Marketingkenntnisse, die sie nicht hat. Um online zu
verkaufen, braucht sie Zeit und Ressourcen. Seitdem die Taliban Afghanistan
wieder beherrschen, hat sie die Hälfte ihrer Einnahmen verloren. „Es wird
so viel über afghanische Frauen geredet, über Solidarität, aber in der
Praxis ist die einzige Unterstützung, die man bekommt, ein Schengen-Visum
zur Ausreise. Und was soll das bringen? Ich habe hier meinen eigenen Raum
geschaffen. Was würde ich in Europa tun? Afghanische Kleider nähen, die
niemand haben will“, sagt sie. „Ich werde nach Europa kommen: aber als
Designerin. Nicht als Flüchtende.“
Draußen, oberhalb des Kellers, sieht Masar-i-Scharif aus wie immer. Der
Name bedeutet „Schrein des Edlen“, die Blaue Moschee – ein Wahrzeichen der
nordafghanischen Stadt – gilt als Grabstätte von Imam Ali, dem Begründer
des schiitischen Islams. Ein endloser Strom von Pilgern besucht sie, den
ganzen Tag. Es dauert eine Weile, bis man merkt: Auf den Straßen sind nur
Männer unterwegs. Doch nicht alle Frauen sind zu Hause: Sie sind im
Untergrund, in den Kellern, in den Hinterhöfen, den Hinterzimmern.
## Bankensystem wichtiger als Burka
Islamic Relief, eine britisch-muslimische Zivilorganisation, hat im Herbst
ein Programm aufgelegt, das 400 afghanische Unternehmerinnen mit je 1.000
Dollar unterstützt. Genug, um die Lager mit Textilien und Düngemitteln
wieder aufzufüllen, Webstühle zu erneuern, ein Stück Land in einen
Gemüsegarten zu verwandeln, eine Goldschmiedewerkstatt auszustatten.
Die Taliban sind für die Frauen nicht das einzige Problem. „Für die
internationalen Medien ist das Thema hier die Burka. Ich trage nur meinen
Hidschab, so wie früher, so wie die meisten von uns. Und wenn du eine Jeans
trägst, wird dich niemand aufhalten. Mein Hauptproblem ist das
Bankensystem, die Sanktionen“, sagt Mahbouba Zamani, Tochter, Enkelin und
Urenkelin von Teppichknüpfern. Im Iran hat sie ihr Handwerk perfektioniert,
ihre Kunden sitzen in der ganzen Welt.
Dass das Bankensystem für Afghanen und Afghaninnen blockiert ist, sagt sie,
sei eine Katastrophe. An ihren Teppichen, die Tausende von Dollar wert
sind, arbeitet Zamani nun in einem Heizraum. Die Wolle wird mit Blättern
gefärbt, gemäß der Tradition. Nur so erhalte man einzigartige Farbtöne. Um
einen Teppich zu knüpfen braucht sie Monate – und Jahre an Erfahrung. Die
westliche Politik gegenüber Afghanistan frustriert sie: „Experten empfehlen
Mikrokredite für Kunsthandwerker, die Schals und Anhänger an Ausländer hier
verkaufen. Und ich muss meine ganze Zeit dafür aufwenden, die Sanktionen zu
umgehen.“
Mit dem Zuschuss der Hilfsorganisation hat Laila Alizada das
Bewässerungssystem der Gewächshäuser verbessert, in denen sie Gemüse
anbaut. Inzwischen, sagt sie, stehen alle Männer ihrer Familie auf ihrer
Gehaltsliste.
## Strengere Sanktionen – oder gar keine
So geht es auch Nazia Hidari. Mit 100 US-Dollar hatte sie einmal ihr
Geschäft aufgezogen, Islamic Relief hat sie bei ihrem Neuanfang
unterstützt. Mittlerweile beschäftigt sie 60 Menschen, arbeitet zusammen
mit einem Geschäftspartner in Übersee. Ihre Firma stellt Kleidung her,
hauptsächlich für den Export.
Eins ihrer Probleme: „Dass man jetzt mit einem Mahram reisen muss“ – ein
Begriff der islamischen Rechtsprechung für einen Mann, entweder enger
Verwandter oder Ehemann, der eine Frau außer Haus begleitet. Für jede
Reise, die weiter als 48 Meilen (rund 77 Kilometer) entfernt ist, ist das
nun obligatorisch. Einkäufer und Lieferanten zu treffen, Musterbücher für
Stoffe durchzusehen, an Messen teilzunehmen – alles ist kompliziert.
Und: „Dass es kein Bankensystem gibt, macht alles noch schwieriger, auch
innerhalb von 48 Meilen“, sagt sie. Denn die einzige Zahlungsmöglichkeit
sei in Naturalien oder bar, erzählt sie, über das Hawala-System, ein auf
Bargeld und Vertrauen auf Zwischenposten vertrauendes altes
Überweisungssystem. Am Ende, sagt sie, umgehe man so zwar die Schranken,
doch es gebe zu viele Zwischenhändler, und letztlich mache sie so ein
Nullgeschäft. Sanktionen müssten entweder strenger sein oder eben
unwirksam, sagt sie. So machten sie keinen Sinn.
Nicht nur an den Sanktionen kommt man vorbei. Auch die Hilfen fließen
weiter nach Afghanistan: Für 2023 haben die Vereinten Nationen eine
Rekordsumme von 4,6 Milliarden Dollar bei den Geberländern angefragt. Das
ist der größte Appell, den es je für ein einzelnes Land gegeben hat.
## Heimlich Fahrrad
Theoretisch dürfte auch das Projekt von Islamic Relief nicht existieren.
Denn nur humanitäre Hilfe ist erlaubt, Lebensmittel, Decken, Medikamente –
aber keine Entwicklungshilfe, um die Taliban nicht zu ermächtigen. Aber das
seien die Hilfen, die wirklich etwas brächten, sagt Fereshta Yusufi, die
für das Projekt verantwortliche Ökonomin bei Islamic Relief. „In den
letzten Jahren zogen Hilfsgelder 75 Prozent des Staatshaushalts ab. Unser
Ziel ist es, dass die Afghaninnen und Afghanen von niemandem mehr abhängig
sind. Das ist auch Freiheit“, erklärt sie.
Ende des vergangenen Jahres hatten die Taliban Zivilorganisationen
verboten, weiter Frauen zu beschäftigen, eine Ausnahme gilt für
Gesundheits- und Bildungsprogramme. Und nun? „Ich komme trotzdem ins Büro“,
sagt Yusufi. Die andere Ausnahmeregelung gilt für die Büros der Vereinten
Nationen und ihrer Unterorganisationen, die auch das Project von Islamic
Relief finanzieren.
Mit seinen 500.000 Einwohnern ist Masar-i-Scharif eine der fünf größten
Städte des Landes. Sie ist widersprüchlich, wie ganz Afghanistan. Die
Universität ist nur noch für männliche Studenten zugänglich, ebenso wie die
Parks und Sporthallen, die nur für Männer geöffnet sind.
Aber auch wenn der Bowlingclub, einst beliebter Treffpunkt von Frauen und
Mädchen, geschlossen bleibt, ebenso wie viele der Cafés, die einst bei
Künstlern, Schriftstellern und Aktivisten beliebt waren, ist ein
Fitnessstudio für Frauen bereits wieder geöffnet. Auch Rabia Balkhi, ein
Einkaufszentrum nur für Frauen, hat seine Rollläden hochgezogen, und in den
Außenbezirken fahren Frauen heimlich Fahrrad. Die meisten sind von Kopf bis
Fuß in Schwarz gekleidet – aber manche eben auch nicht.
## Taliban als Stammkunden
Das eine seien Schulen und [2][Universitäten], über welche die Taliban
eindeutig verfügen können, das andere seien private Initiativen, sagt
Najiba Mateen, die den Abstellraum eines Versicherungsvertreters in eine
Küche verwandelt hat und hinter einer Plexiglasscheibe einen Imbiss
betreibt, von dem manche sagen, er sei der beste der Stadt. Neun Köche
beschäftigt sie, die Speisekarte zählt vier Seiten. „Im Grunde versteht man
nie, ob eine Vorschrift der Taliban eine Verpflichtung ist oder nicht. Und
sie können von Stadt zu Stadt unterschiedlich sein oder sogar von Straße zu
Straße“, sagt sie.
Statt Gesundheitsinspektoren schaute eines Tages die Sittenpolizei bei ihr
vorbei. „Die Taliban befahlen mir, den Laden zu schließen.“ Aber eigentlich
verbietet das Gesetz den Frauen nicht zu arbeiten, betont sie: „Es sagt
nur, dass wir zu Hause bleiben sollen, wenn es nicht wirklich notwendig
ist. Und wenn ich nicht arbeite, wie kann ich dann meinen Lebensunterhalt
verdienen? Das habe ich ihnen gesagt: dass ich den Laden wirklich brauche,
um leben zu können“, sagt sie. Und heute? „Die Taliban gehören zu meinen
Stammkunden.“
Auch zu den Stammkunden von Bibi Manira gehören die Talibs, erzählt sie.
Vor ihrer neuen Nudelfabrik auf einem Parkplatz glänzt eine Leuchtreklame.
„Der Umzug hierher war ein Schritt nach vorn. Kein Rückschritt. Vorher hat
jeder von uns von zu Hause aus gearbeitet.“ Heute, sagt sie, hätten die
meisten Afghaninnen und Afghanen das verdrängt, „aber es gab an jeder Ecke
Schießereien“, sagt sie. Die US-Amerikaner, erklärt sie, hätten dem größ…
Teil des Landes nur Gewalt und Elend gebracht.
## Frauenrechte als strategisches Mittel
Die [3][derzeitige Situation in Afghanistan] könne man aus zwei
Blickwinkeln betrachten: „Wir können uns als Männer und Frauen, Taliban und
Nicht-Taliban sehen. Oder als Mütter und Söhne, Väter und Töchter, Brüder
und Schwestern – und miteinander reden.“ Sie appelliert auch an die
Vereinten Nationen: „Mit den Taliban ist es schwierig, aber ihre Tür ist
offen. Die Bürokomplexe der Vereinten Nationen haben hier sechs Meter hohe
Mauern.“
Die meisten Verbote der Taliban seien strategisch, nicht ideologisch
begründet, glaubt sie – und spricht damit aus, was in Afghanistan viele
denken. Schließlich hat selbst Suhail Shaheen, der Sprecher der Taliban,
dessen Familie in Doha lebt, zwei Töchter, die die Universität besuchen.
Aber das sei es, worum sich die Welt kümmere, sagt sie: die Rechte der
Frauen. Und dieses Interesse schenke den Taliban ein Druckmittel, ihr
einziges, gegen die Sanktionen. Und dagegen anzuarbeiten hätte Priorität,
sagt sie, denn 97 Prozent der Afghan*innen hungerten. „Natürlich möchte
ich, dass die Schulen wieder öffnen“, sagt sie. „Wir sind keine
Spielfiguren.“ Sondern Frauen mit Plänen und Ideen, Geschäften und
Angestellten – und Geheimnissen.
5 May 2023
## LINKS
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[3] /Ein-Jahr-Afghanistan-unter-den-Taliban/!5871472
## AUTOREN
Francesca Borri
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