| # taz.de -- Selbstbestimmt altern: Indiskret und unbescheiden | |
| > Mit 69 Jahren lässt sich Schlagzeugerin Lindy Morrison im kurzen Kleid | |
| > fotografieren. Ihre Weiblichkeit endet nicht mit dem Verlust der Jugend. | |
| Bild: Lindy Morrison, ehemalige Schlagzeugerin der Popband The Go-Betweens | |
| Bremen taz | Dieses Foto. Diese Frau. Wie sie sich mit ihren langen Beinen | |
| in den Sessel faltet, in einem kurzen Sommerkleid, das den Blick freigibt | |
| auf etwas, was so selten zu sehen ist: [1][die Haut einer alten Frau]. Kein | |
| Tüll kaschiert die schlaffen Arme, kein Stehkragen verdeckt den knittrigen | |
| Hals, am Oberschenkel sind Krampfadern zu erkennen. | |
| Ja, sie ist geschminkt, blondiert, dazu schlank und gebräunt. Und ja, das | |
| Foto wurde bearbeitet, Arme und Beine optisch geglättet. Trotzdem versucht | |
| sie nicht, jünger auszusehen als die 69, die sie zum Zeitpunkt der Aufnahme | |
| ist. Sie hilft nicht mit Operationen, Injektionen oder Tonnen von Make-up | |
| nach. Das würde nicht zu ihr passen. | |
| Abgebildet ist [2][Lindy Morrison], die ehemalige Schlagzeugerin der | |
| Popband The Go-Betweens, gegründet 1977 im australischen Brisbane. Das Foto | |
| entstand vor drei Jahren anlässlich der Berichterstattung über ein Buch, | |
| das [3][die Musikerin und Autorin Tracey Thorn] über sie geschrieben hat. | |
| „My Rock ’n’ Roll Friend“ heißt es und es erzählt von der Freundschaf… | |
| beiden Frauen, die sich in einer von Männern dominierten Musikindustrie | |
| behaupten mussten. In erster Linie geht es aber um Morrison. Ihre | |
| Geschichte ist wie das Foto: ein Spagat zwischen der Notwendigkeit, das | |
| abgekartete Spiel Patriarchat mitspielen zu müssen – und gleichzeitig neue | |
| Regeln zu erfinden. | |
| ## Ein Vorbild für alternde Frauen | |
| Damit eignet sie sich als Vorbild für alternde Frauen. Ein solches hatte | |
| etwa im Dezember die Zeit-Literaturkritikerin Iris Radisch in einem Essay | |
| vermisst. „Von guten Erzählungen hängt sehr viel ab“, schrieb sie. „Sie | |
| haben Macht über unsere Biografien. Je nachdem, wie sie ausfallen und wie | |
| überzeugend sie erzählt werden, prägen sie unser Leben, so dass | |
| siebzigjährige Männer durchaus Medienimperien führen können, während | |
| siebzigjährige Frauen nicht einmal mehr in einer Kochsendung in den Töpfen | |
| rühren dürfen.“ | |
| Lindy Morrison hat sich nie darum geschert, was sie darf und was nicht. Sie | |
| hat es einfach getan, ohne sich dafür zu entschuldigen. „Nichts davon macht | |
| sie so, wie es eine Frau machen soll“, heißt es an einer Stelle, hier ins | |
| Deutsche übersetzt, im Buch. Es geht um Morrisons Art, Schlagzeug zu | |
| spielen: kraftvoll, schwitzend, [4][mit breit gespreizten Beinen wie Männer | |
| in der U-Bahn.] Dass sie überhaupt Schlagzeug spielt, ist ungewöhnlich. | |
| Selbst heute, 35 Jahre nach Auflösung der Go-Betweens, ohne Morrisons | |
| Einverständnis, fungieren Frauen in erfolgreichen Bands immer noch meistens | |
| als Sängerinnen, sehr selten als Schlagzeugerinnen. Dabei hatte sich | |
| Morrison für das Instrument entschieden, weil sie keinen Mann fragen | |
| musste, wie es funktioniert, schreibt Tracey Thorn und nennt das Spiel | |
| ihrer Freundin „indiskret und unbescheiden“. Das gilt für die ganze Person. | |
| Schon ihr Vater hatte ihr prophezeit, sie würde nie einen Mann finden, wenn | |
| sie nicht zurückhaltender auftreten würde. | |
| ## Die zweite Seele von Lindy Morrison | |
| Er behielt insofern recht, als sie sich nie mit der Rolle einer umsorgenden | |
| Gattin zufriedengab, wie es ihre Mutter war. Mit 21 fing sie als einzige | |
| Weiße als Sozialarbeiterin bei einer Aborigines-Organisation an, lebte | |
| später mit lesbischen Punk-Musikerinnen zusammen und stieß von dort zu den | |
| Go-Betweens, mit deren Sänger sie sieben Jahre eine Beziehung führte. Weil | |
| sie aber nie nur lieb lächelnd neben ihm saß, sondern sagte, was sie | |
| dachte, zum Beispiel über Sexismus, galt sie nicht nur ihren Bandkollegen, | |
| sondern auch männlichen Journalisten als anstrengend. | |
| Es gibt eine zweite Seite von Lindy Morrison. Man kann sie im Foto suchen | |
| und in ihrem abgewandten Blick finden. Sie schaut nicht etwas oder jemand | |
| anderen an. Sie schaut weg. Drückt das ihr Unbehagen aus? Weil sie weiß, | |
| wie sie auf dem Foto aussehen wird, und sie es sich anders wünscht? Wie so | |
| viele heterosexuelle postmenopausale Frauen, die sich erst darüber wundern, | |
| dass sie alt werden und damit weniger attraktiv für Männer. Und dann | |
| darüber, dass sie das mehr verunsichert, als sie sich es je hätten | |
| vorstellen können. | |
| ## Verletzlich und wahrhaftig | |
| Auch Lindy Morrison ist nicht so cool, wie sie sie gerne hätte, gesteht | |
| sich Tracey Thorn nach der Hälfte des Buchs ein. Jahrzehntelang wollte | |
| Thorn nicht wahrhaben, dass ihre Heldin genau wie sie das Gefühl kennt, | |
| hässlich und ungenügend zu sein, dass sie eigentlich (Männern) gefallen | |
| möchte, es ihr aber selten gelingt, weil sie sich laut ihrer Biografin | |
| einfach nicht verbiegen kann. „Ihr fehlt die Fähigkeit, sich selbst zu | |
| zensieren.“ | |
| Vielleicht lässt sie sich deshalb mit 69 Jahren im kurzen Kleid | |
| fotografieren, anders als viele andere prominente Frauen, von denen sich | |
| manche im Alter ganz aus der Öffentlichkeit zurückziehen. | |
| Nicht so Lindy Morrison. Sie tritt auch heute noch als Schlagzeugerin auf | |
| und kämpft für bessere Arbeitsbedingungen in der Musikindustrie, mit 59 | |
| absolvierte sie ein Jurastudium. Die Erzählung bricht nicht mit dem Verlust | |
| jugendlicher Schönheit ab. | |
| „Auf jedem Foto“, heißt es im Buch über frühere Aufnahmen von ihr, „st… | |
| sie heraus, sowohl verletzlich als auch wahrhaftig“. | |
| Dieses Foto, diese Frau. Verletzlich und wahrhaftig. Zeig deine faltige | |
| Haut. | |
| 7 Mar 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Eiken Bruhn | |
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