# taz.de -- Die Wahrheit: Der Kaninchenbabyzerquetscher | |
> Schauspiel und Wirklichkeit nach der deutschen Auschwitz-Amnesie – | |
> aufgezeigt am Beispiel der Serie „Deutsches Haus“. | |
Bild: Sehr intensiver Gottesdienst zu Ehren des Arschlochgotts | |
In der Serie „Deutsches Haus“ geht es um den ersten Frankfurter | |
Auschwitz-Prozess. Der Hauptverteidiger der zwanzig Massenmörder ist dabei | |
ein widerlicher Typ. Ich hasse ihn von der ersten Minute an so sehr, dass | |
ich den Fernseher anspucke, sobald er bloß im Bild erscheint. Natürlich | |
weiß ich, dass unser Justizsystem jedem Angeklagten das Recht auf | |
Verteidigung vor Gericht gewährt, und das ist im Prinzip ja auch richtig | |
und wichtig. Außerdem ist es nur ein Film. | |
Aber dieser Typ ist einfach ein zu krasses Arschloch. In meinen Augen tut | |
er weit mehr, als er müsste, ob als Schauspieler oder als Anwalt. | |
Überehrgeizig erniedrigt und manipuliert er die armen Zeugen, die meisten | |
von ihnen Betroffene. | |
Statt dass er achselzuckend Dienst nach Vorschrift leistet und sagt: | |
„Sorry, böse Leute, aber euch könnte nicht mal Chuck Norris verteidigen“, | |
oder: „Strafe muss sein“, und dann legt er demonstrativ die Füße auf die | |
Balustrade und kaut geräuschvoll einen Apfel – aber nein, im Namen seiner | |
Mandanten spielt er sämtliche Tasten auf der Klaviatur der | |
Ahnungslosigkeit: Hier nichts gesehen, da nichts gewusst, dort nichts | |
erinnert. Diagnose: Chronische Amnesia Germanica seit 1945. | |
Der gewissenhaft gewissenlose Over-Achiever ist im Grunde kaum besser als | |
die Täter und zugleich so unsympathisch, das kann man so doch gar nicht | |
spielen. Allein die Fresse. Und die Stimme. Und das Gehabe. Der steht da | |
doch mit seiner ganzen Persönlichkeit dahinter. Man kann Rollenangebote | |
auch ablehnen oder wenigstens chargieren, dass man noch so eine entfernte | |
Art Skrupel hätte. Es ist anders nicht vorstellbar: Der Schauspieler selbst | |
muss ein identisches Granatenarschloch sein. | |
## Absolute Hingabe an das Arschlochtum | |
Woher ich das wissen will? Nun, zum einen, weil man seiner absoluten | |
Hingabe an das Arschlochtum deutlich anmerkt, dass hier einer sein | |
ureigenstes Inneres nach außen kehrt und die Arschlochhaftigkeit zelebriert | |
wie einen Gottesdienst an einen mächtigen Arschlochgott. Und zum anderen | |
weil ein zeitgemäß sensibler Umgang mit Minderheiten verbietet, | |
Nichtarschlöcher für Rollen von Arschlöchern zu casten – wobei sich | |
allerdings die Frage stellt, ob Arschlöcher heute überhaupt noch als | |
Minderheit gelten. | |
Derartige Einschränkungen konterkarieren zwar eine Grundidee des | |
Schauspielberufs, in dem es ja ursprünglich gerade um die Kunst geht, sich | |
fremde Charaktere zu erarbeiten. Doch längst wird eine solche | |
Gegen-den-Strich-Besetzung als anrüchiges Tool aus der Mottenkiste des | |
alten scheißen Mannes angesehen, und selbst wenn das komplette Filmteam | |
hinter der Entscheidung stünde, will die Serie schließlich auch verkauft | |
werden. | |
Das wird jedoch schwer, wenn man die öffentliche Meinung erst mal gegen | |
sich hat, weil man sich der Aneignung schuldig macht, indem man gegen die | |
ungeschriebenen Regeln verstößt: Eine Transperson darf nur von einer | |
Transperson gespielt werden, eine Demente von einer Dementen, Außerirdische | |
von Außerirdischen und ein Arschloch eben von einem Arschloch. | |
Deshalb haben, bevor eine engere Auswahl zum Vorsprechen eingeladen werden | |
sollte, die Kandidaten für die Rolle des Verteidigers zunächst einen | |
Fragebogen bekommen: „Geben Sie Trinkgeld?“ – „Wie schnell fahren Sie in | |
Spielstraßen?“ – „Hassen Sie Kinder?“ – „Mögen Sie Blumen?“ –… | |
Arschloch?“ | |
Unser Holocaust-Verteidiger hatte da von Anfang an die besten Karten: Alle | |
Fragen richtig beantwortet, dazu eine äußerst kompatible Vita. Im „Tatort“ | |
spielte er mehrmals den Mörder, in einem Mittelalterdrama den | |
Großinquisitor, in der Schnupfensprayreklame einen richtig fiesen Schnupfen | |
– und vor allem immer wieder Nazis, gern auch in internationalen | |
Produktionen. | |
## Mit der bloßen Faust zerquetscht | |
Und einmal hat er sogar in einer harmlosen Samstagabendspielshow im ZDF ein | |
nichtsahnendes Kaninchenbaby (blütenweiß, bis auf einen niedlichen | |
schwarzen Fleck auf der kleinen Mümmelstupsnase) für eine Wette mit der | |
bloßen Faust zerquetscht. Am Ende bekam er die Rolle konkurrenzlos und ohne | |
Vorsprechen, dieses Arschloch. | |
Auch in der Literatur ist es üblich geworden, dass Autoren in ihrem Werk | |
vollkommen authentisch erscheinen. Autofiktion ist in, Ironie ist out. | |
Neulich erwähnte ein Kollege mir gegenüber einen Auftritt, bei dem das | |
Publikum offenbar seine Erzählhaltung nicht gecheckt hatte, und meinte dann | |
zu mir: „Du machst doch auch gern mal so Texte mit einer konstruierten | |
Attitüde, bei der der Ich-Erzähler wie so ein Trottel oder Arschloch | |
rüberkommt“, und ich fragte verwundert: „Nein, wie kommst du denn da | |
drauf?“, weil ich so etwas tatsächlich niemals machen würde, denn ich bin | |
in meinen Texten grundsätzlich eins zu eins ich selbst. Er hat dann so | |
komisch gelacht, aber ich weiß nicht, warum, weil ja gar nichts lustig war | |
an dem, was ich gesagt habe. | |
6 Mar 2024 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
## TAGS | |
Die Wahrheit | |
Holocaust | |
Auschwitz-Prozess | |
Schauspieler | |
Arbeitswelt | |
Frauenkampftag | |
Demos | |
Augenoperation | |
Abschiebung | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wahrheit: Lustig tirilierende Zwangsarbeiter | |
Die Generation Z besteht aus verweichlichten, selbstsüchtigen und | |
anmaßenden Drückebergern – wissen deutsche Personalchefs nur zu gut. | |
ARD-Serie „Sexuell verfügbar“: Frauenkampftag ist jeden Tag | |
Die ARD-Serie „Sexuell verfügbar“ startete am Frauentag. Auf witzigste Art | |
wirbelt sie Genderklischees und moderne Freiheitsbegriffe durcheinander. | |
Die Wahrheit: Gut absetzbarer Gratismut | |
Wer an gefahrlosen Warmduscherdemos gegen Kaltwassernazis teilnimmt, sollte | |
ab jetzt dringend einen fairen Ablass zahlen. | |
Die Wahrheit: Das Geheimnis der Urinsekten | |
Wenn die Lesefähigkeit beeinträchtigt ist und der notwendige Besuch beim | |
Augenarzt nur Gutes vorsieht. Ein Ortstermin beim Ophthalmologen. | |
Die Wahrheit: Schweinchen Schnuffel muss weg | |
Abschiebung auf weiche Art: Die Bundesregierung greift endlich „im ganz | |
großen Stil“ durch und lässt Heimzuführende sanft abtransportieren. |