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# taz.de -- Die Wahrheit: Am Arsch, Aorta!
> Neuerdings werden sogar Organe bewertet und hochgejubelt. Ein tiefer
> Blick ins Innerste des Menschen, wo allerlei Merkwürdiges vor sich geht.
Bild: Wenig bekanntes menschliches Körperorgan: Rotgulber
Seit dem Februar 2024 wird die Aorta von Fachleuten „als eigenständiges
Organ des Menschen eingestuft.“ Das Ärzteblatt jubelt, als wäre ein Tor in
der Nachspielzeit gefallen: „Die Anerkennung als Organ hebt die Aorta auf
eine Stufe mit Herz, Lunge oder Gehirn. Das ist ein großer Schritt.“
Fragt sich nur, in welche Richtung. Denn für die seriösen Organe ist das
natürlich ein Schlag ins Gesicht. Die müssen sich ja fragen, ob sich die
Aorta in der für den schändlichen Unfug verantwortlichen Europäischen
Gesellschaft für Herz-Thorax-Chirurgie (EACTS) hochgeschlafen hat. Wird
hier bald jeder dahergelaufene Gewebefetzen zum Organ ernannt? Ist das denn
kein geschützter Begriff? Meine Güte, dann ist mein Arsch ab morgen auch
ein Organ.
Kriegt die Aorta nun einen Organausweis, ein größeres Büro oder mehr
Gehalt? Bestimmt kann sie ihr unverhofftes Glück selbst nicht fassen.
„Hä?“, wird sie sich fragen, „häää?? Was bin ich jetzt? Und was soll …
machen?“
Woher kommt bloß diese inflationäre Beförderungs- und auch
Degradierungswut? Vielleicht ist das ähnlich, wie wenn man hungrig in den
Supermarkt oder krank in die Apotheke geht, und dort übertrieben zuschlägt:
Also dass analog hier jemand mit leerem Kopf in eine Bibliothek gegangen
ist und zu viel nachgedacht hat. Denn warum muss man immerzu krampfhaft
Dinge verschlimmbessern, die sich über Jahrhunderte bewährt haben? Wieso
kann nicht einfach alles wie früher bleiben? Das spielt doch wieder nur der
AfD in die Karten.
## Schauspieler als Experten
Kein Wunder, dass in diesem einstigen Land der Wissenschaft heute eher
Schauspielern, Hobbyphilosophen oder Romanschriftstellerinnen Glauben
geschenkt wird als den eigentlichen Experten, die stattdessen bei jeder
Gelegenheit mit Argwohn, Todesdrohungen und Spott überzogen werden.
Aber selbst schuld, denn machen wir uns doch einmal die fatale
Psychodynamik einer solchen Fehlentscheidung klar: Dein Leben lang wurde
dir eingeschärft, dass die Aorta nichts als eine Scheißader ist. Du hast
fest daran geglaubt, dein Werden und Sein komplett danach ausgerichtet. Und
dann – zackbumm! – ist das alles von einem Tag auf den anderen nicht mehr
wahr? Auf einmal sollst du die Aorta als Organ anerkennen. Sagen die
„Wissenschaftler“. Ganz normal, dass die Bürger da dann irgendwann nicht
mehr mitziehen und rebellieren.
Oder nehmen wir den umgekehrten Fall der beliebigen Degradierungen:
Plötzlich war der Pluto kein Planet mehr. Es gab kaum Infos: Hat er sich
nicht bewährt, was ausgefressen, Monde belästigt? Kurz zuvor haben die
Wissenschaftler noch beschwichtigt. „Pluto besitzt unser uneingeschränktes
Vertrauen. Wir schaffen das zusammen.“ Bei diesen Treueschwüren hätte man
spätestens hellhörig werden müssen – erfahrungsgemäß wackelt da schon
heftig der Stuhl.
Daran, was das vor allem mit den Kindern macht, denkt wieder keiner. Stell
dir vor, du warst so ein totaler Plutofan. Im Kinderzimmer ein Riesenposter
von Pluto. Den Kakao immer nur aus der Plutotasse. Du warst stolz. Pluto
war dein Ding. Die anderen alle so „Jupiter“, „Saturn“, „Mars“ in d…
Schulbank geritzt, und du warst echt ne Minderheit. Deiner war der kleinste
Planet, am weitesten entfernt. Ein pfiffiger Underdog mit ungeahnten
Fähigkeiten. Irgendwie auch wie du, nur ohne Brille. Die Mädchen fangen an,
das interessant zu finden. Der erste Kuss. Danke, Pluto. Du lernst andere
Plutaner kennen, ihr seid eine kleine, verschworene Gruppe. Sowohl
Distinktion als auch Identifikation sind in der Jugend so wichtig.
## Planet der Angeber
Dann kommen irgendwelche Leute daher und machen alles kaputt. Sagen, dass
Pluto scheiße ist. Kein Planet, nur so ein „Zwerg“ – die Size-Shamer
müssten sich mal selber sprechen hören … Dass er nicht dazugehört. Dass du
nicht dazugehörst. Euer Schicksal interessiert nicht, alles konzentriert
sich auf die schillernden Riesenangeberplaneten mit ihren hundert Monden,
Ringen und dem ganzen Tinnef. Für euch ist kein Platz. Am liebsten wäre
denen, ihr wäret tot.
Das Schlimmste daran ist die absolute Dogmatik, mit der solche
Willkürmaßnahmen oft einhergehen: Wer nicht wie gebrainwasht diesen
Neusprech abnickt, sondern weiter „Planet“ zum Pluto oder „Ader“ zur Ao…
sagt, ist garantiert die nächste Hexe, die vom woken Mob am Nazipranger
durchs Dorf gejagt wird. Demnächst wird die Aorta wahrscheinlich auch noch
zum Geschlechtsorgan gekürt. Oder zur Gliedmaße. Oder zum
Zentralnervensystem – heil Aorta!
Dass es so weit kommt, verhindert hoffentlich das „Peter-Prinzip“ (nach
Lawrence J. Peter), demzufolge eine Person oder, wie hier, ein Teil davon
so lange befördert wird, bis sie die Stufe ihrer maximalen Inkompetenz
erreicht hat. Da ist die Aorta offensichtlich angelangt, die als Organ doch
überhaupt nicht qualifiziert ist. Mit dem Etikettenschwindel tut man ihr
keinen Gefallen. Als so ein Möchtegernorgan kannst du im Grunde nur
versagen.
27 Mar 2024
## AUTOREN
Uli Hannemann
## TAGS
Körper
Organe
Verwertungsgesellschaft
Berufe
Arbeit
Die Wahrheit
Demos
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