# taz.de -- Die Wahrheit: Straucheln vor dem Blutsee | |
> Hausmeister heute: therapiebedürftige Warmduscher, liebenswerte Mimosen. | |
> Ein aktueller Frontbericht aus Berlin-Neukölln. | |
Bild: Vor Neukölln gehen nicht nur Hausmeister, sondern auch Feuerwehrmänner … | |
Ob „gerade alles ruhig“ sei im Haus, fragt mich der Hausmeister, dem ich im | |
Treppenhaus begegne. Seine Stimme klingt derart verzagt, dass ich ihn am | |
liebsten in den Arm nehmen will. Er ist das exakte Gegenteil jenes Typus | |
harter Hausmeisterhund, der, ähnlich wie bei Scharfrichterfamilien, seit | |
Generationen in direkter Erbfolge Haus und Hof, Keller und Boden, Kind und | |
Tier mit der scharfen Waffe Furcht befriedet: ein eher zufällig an den Job | |
geratener und für mehrere Adressen gleichzeitig zuständiger Facility | |
Service Man, der bloß einmal in der Woche kommt und deshalb nicht dicht | |
genug an Haus und Bewohnern dran ist. Ihm fehlt das Gefühl für uns, er kann | |
uns nicht lesen, wir sind für ihn fremd, wie Wilde. Nie weiß er, was als | |
nächstes passieren könnte. Er hat Angst vor unserem Haus. | |
Nur nicht vor mir. Der Hilfshausmeister weiß sogar, wer ich bin. Seit wir | |
mal telefoniert haben, hält er mich für den einzigen seriösen | |
Ansprechpartner vor Ort. Es ist, als wäre ich das letzte dünne | |
Verbindungsglied zwischen drinnen und draußen, Bewohnern und Verwaltung, | |
Zivilisation und Barbarei. | |
Unser Haus gehört nämlich zu einer Art gallischem Dorf am Rande eines | |
imperial kolonisierten Neukölln-Disneylands aus Bars und Bioläden, | |
Restaurants und Galerien. Wie eine Festung aus meterdick gehärteter Scheiße | |
trotzt es der fortschreitenden Gentrifizierung im Rest der Straße – „dit | |
isch no unsa Ballinle“, würden Schwaben sagen, die schon länger da sind. | |
Bei uns fliegen noch oldschool volle Windeln aus dem Fenster, auf der | |
Treppe impfen sich Junkies, im Hausflur lagern Obdachlose. Nachbarn stehlen | |
Sendungen; Briefkästen und Kellerabteile werden aufgebrochen. Neulich erst | |
rannte ein ganzer Trupp Bullen rambomäßig mit Maschinenpistolen durchs | |
Treppenhaus, und einmal sägten Fahrraddiebe über Nacht direkt vor meinem | |
Schlafzimmerfenster das Bäumchen im Hof ab, an das ich mein Rad | |
angeschlossen hatte. Schmutzfinken und Vollmeisen verrichten gewissenhaft | |
ihr destruktives Werk, selbstredend gibt es auch ein Rattenproblem. | |
Normalerweise müsste hier ein kapitaler Dreizentnerblockwart mit eiserner | |
Faust über sein verwahrlosendes Reich der Finsternis regieren. Stattdessen | |
einen im Häuserkampf unerfahrenen Feingeist an die Front zu schicken, ist | |
so unverantwortlich, als ob man einen Ministranten zu einem ausgebufften | |
Kirmesboxer in den Ring schubst. | |
## Trösten am Telefon | |
Ohne mich wäre er ganz allein. Wir telefonieren oft. Wenn er weint, tröste | |
ich ihn; meistens höre ich einfach nur zu. Doch manchmal werde ich auch | |
aktiv. Ich bitte ihn um harmlose Erledigungen wie den Aufschluss des | |
Stromzählerkellers, um ihm niedrigschwellige Erfolgserlebnisse zu | |
verschaffen, an denen er wachsen kann. Auf diese Weise wappne ich ihn für | |
anspruchsvollere Aufgaben. Eines Tages, so mein Ehrgeiz, sollte er in der | |
Lage sein, selbst ein Wohnheim für frisch aus der Hölle entlassene Orks in | |
Mordor-Nord zu betreuen. Dazu gehören freilich auch kleine Steigerungen im | |
Schwierigkeitsgrad: So fragte ich ihn jüngst, wer denn bitteschön im | |
Hausflur mal das ganze Blut wegmachen würde. | |
An jenem Tag war innen neben der Eingangstür eine Riesenblutlache, und | |
draußen noch viel mehr, und die Feuerwehr (!) war, als ich vom Einkaufen | |
zurückkam, gerade dabei, das Blut mit einem Wasserschlauch von Bürgersteig | |
und Straße zu spritzen. Es war vollkommen irre. Am Löschzug gab ich mich | |
einer der Einsatzkräfte als Hausbewohner zu erkennen und man sagte mir, für | |
drinnen seien sie nicht zuständig, da müsse ich den Hausmeister anrufen. | |
Was ich tat. | |
Nee, also lieber nicht, meinte jener daraufhin. Das dürfe er praktisch auch | |
gar nicht, wegen Gesundheitsgefahr und Hygiene und so, und da müsse man im | |
Grunde Spezialkräfte ordern, quasi eine Art Tatortreiniger. Sorry, aber | |
nee. Nee wirklich. Aber so was von. Nee. Ich solle doch versuchen, die Frau | |
Dings von der Stadt-Land-Fluss zu erreichen; die würde dann das Nötige | |
veranlassen. | |
Ich versuchte, meine Enttäuschung über diesen – in meinen Augen – | |
Rückschritt in seiner Entwicklung zum vollwertigen Hausmeister | |
hinunterzuschlucken, konnte mir eine didaktische Volte aber dennoch nicht | |
verkneifen: Was wir denn zu den Punkten „Empowerment“ und „Instant | |
Gratification“ besprochen hätten? Ob er sich daran noch erinnere? | |
Seine Antwort: Nee. | |
Inzwischen weiß ich, dass es unsensibel von mir war, zu insistieren. Ich | |
muss geduldig bleiben; aus einem Meerschweinchen wird auch nicht von heute | |
auf morgen ein Marinetaucher. Er muss sein Lerntempo eigenständig | |
bestimmen. Und sowieso geht es überhaupt nicht um mich. Ich kann ihn auf | |
seinem langen Weg nur coachend begleiten, ihm immer wieder Angebote machen | |
und einen stützenden Arm bieten, wenn er zu straucheln droht. | |
24 Apr 2024 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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