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# taz.de -- Konfliktforscher zu den Wahlen im Iran: „Die Desillusionierung is…
> Am Freitag wählt der Iran ein neues Parlament und einen Expertenrat. Doch
> Legitimation von unten ist dem Regime nicht mehr wichtig, sagt Tareq
> Sydiq.
Bild: Iranische Männer kleben am letzten Tag des Wahlkampfes in Teheran Wahlka…
taz: Herr Sydiq, zum ersten Mal seit Beginn der „Frau, Leben,
Freiheit“-Proteste wird im Iran gewählt. Wird sich nach der Parlamentswahl
etwas ändern?
Tareq Sydiq: Das Regime wird seinen Kurs fortsetzen. Denn Stimmen, die
kritisch sind gegenüber dem Revolutionsführer Chamenei, wurden ausgegrenzt,
vor allem aus dem Lager der Moderaten und der Reformisten. Sie werden zwar
weiter im Parlament repräsentiert sein, aber es wird von Konservativen
dominiert bleiben. Denn vor allem deren Kandidaten wurden zugelassen.
Worauf achten Sie bei der Wahl?
Ein interessanter Aspekt ist die offizielle Wahlbeteiligung. Die Zahlen
können zwar geschönt sein, aber sie geben einen Hinweis, in welche Richtung
es geht. Schon bei den Wahlen 2020 ging die Beteiligung sehr stark zurück.
Wenn sie diesmal wieder bei rund 40 Prozent liegt, wäre das ein Erfolg für
das Regime. Das würde zeigen, dass es durch die Proteste nicht so stark an
Unterstützung verloren hat. Eine Beteiligung signifikant unter 40 Prozent
würde zeigen, dass da weiter etwas erodiert.
Viele im Iran lehnen das System komplett ab. Es wurde auch zum Wahlboykott
aufgerufen. Kann man das, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen?
Konsequenzen muss man befürchten. Trotzdem sehen wir Boykottaufrufe, sie
haben eine gewisse Tradition.
Von wem kommen sie?
Zum einen aus dem Lager der Reformisten, von Leuten, die sich noch äußern
können, gerade auch, weil die eigenen Kandidaten nicht zur Wahl zugelassen
wurden. Zum anderen von bekannten Dissidenten und anonymen Stimmen. Aber
auch ohne die Aufrufe würde die Wahlbeteiligung gering sein. Die
Desillusionierung im Land ist groß genug. Früher haben sich häufig zwei
Drittel beteiligt, 2020 waren es dann weniger als die Hälfte.
Lässt sich sagen, dass [1][45 Jahre nach Gründung der Islamischen Republik]
die Wahlen im Iran an Bedeutung verlieren und die republikanischen
Elemente den theokratischen immer weiter weichen?
Ich formuliere es so, dass das System unter Chamenei seine Legitimation
durch Wahlen immer stärker eintauscht gegen eine Stabilität durch
Homogenität des inneren Kerns. Ein System, in dem es einen gewissen
Wettbewerb gibt, erzeugt Legitimität. Die Kosten dafür sind aber, dass die
Eliten auch mal widersprechen. Im Iran gibt es nun Massenproteste. Zudem
stellt sich bald vielleicht schon die Frage nach der Nachfolge von
Chamenei. Also schließt das Regime die Reihen. Der Preis ist weniger
Legitimität in der Bevölkerung.
Woran machen Sie diese Entwicklung fest?
Bereits nach den Protesten 2017/2018 wurde die Aufstandsbekämpfung
priorisiert, indem in die Polizei investiert wurde. Statt durch Wahlen ein
Ventil zu schaffen, durch das Unzufriedenheit artikuliert werden kann,
setzt das Regime auf Repression. Es hat vom Versuch Abschied genommen,
Massenlegitimation herzustellen und ist von vornherein auf
gesellschaftliche Widerstände eingestellt. Auch 2022 war man gut
vorbereitet.
Das Regime rechnet also mit weiteren Protesten?
Das Regime weiß, dass weitere Proteste kommen, also bereitet es die
Repression gut vor.
Vor eineinhalb Jahren war die Hoffnung groß, dass das Regime stürzt. Warum
hat es standgehalten?
Teil des Problems ist, dass die Protestierenden wegen der Repression nicht
wirklich fähig sind, eine langfristige Organisierung durchzuhalten. Das
Regime hat über Jahrzehnte alles zerschlagen, woraus sich eine landesweite
Organisation hätte herausbilden können. Es ist enorm schwierig, eine
Protestbewegung über einen langen Zeitraum aufrecht zu erhalten.
Gibt es denn aktuell gar keine Proteste mehr?
Doch, seit der heißen, ungefähr sechswöchigen Phase im September und
Oktober 2022 gehen sie auf niedrigem Level weiter. Das ist beeindruckend
für dezentral organisierte Proteste. Auch wenn sich der Protest der
sozialen Bewegungen im Iran nicht immer in Straßenprotesten artikuliert,
lässt sich sagen, dass die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, die
Umweltbewegung, die feministische Bewegung und die Bewegungen der
ethnischen Minderheiten alle weiter existieren.
Revolutionen sind allerdings meistens erst erfolgreich, wenn sich innerhalb
des Systems Bruchlinien zeigen.
Ja, das ist klassisch bei Revolutionen. In den meisten Fällen wechseln
Leute innerhalb des Systems die Seite, oft die Armeeführung. Das ist im
Iran bislang nicht der Fall. Weil man kritische Stimmen innerhalb des
Systems immer weiter marginalisiert hat, gibt es nicht mehr so viele Leute
im System, die mit ihm brechen könnten.
Sie sprechen nicht von einer Revolution?
Der Revolutionsbegriff war immer eine Absichtserklärung der
Protestierenden. Jetzt, eineinhalb Jahre später, sehen wir ja, dass das
Regime noch im Sattel sitzt. Auch wenn die Proteste bestimmte revolutionäre
Aspekte hatten, sieht es derzeit nicht nach einem Umsturz aus.
Neben dem Parlament wird am Freitag auch der 88-köpfige Expertenrat
gewählt. Was haben diese Experten für eine Rolle?
Der Expertenrat hat in der Vergangenheit die Nachfolge des
Revolutionsführers bestimmt, also den Übergang von Chomeini zu Chamenei
1989. Das ist auch jetzt mit Blick auf Chameneis Alter wieder seine
wichtigste Aufgabe.
Wie alt ist er?
Vierundachtzig. Und der Expertenrat wird auf acht Jahre gewählt. Es ist
also wahrscheinlich, dass die Personen, die jetzt in den Rat gewählt
werden, den neuen Revolutionsführer bestimmen. Viele wurden dieses Mal gar
nicht erst als Kandidat für den Expertenrat zugelassen, nur enge Verbündete
von Chamenei. Auch der ehemalige Präsident Hassan Rohani darf nicht
antreten.
Wer kommt als Khamenei-Nachfolger in Frage?
Khamenei selbst hat sich bislang für niemanden ausgesprochen. Es gibt
Spekulationen, aber man weiß es einfach nicht. Wie schon beim letzten Mal,
als der designierte Nachfolger kurz vorher abgesetzt wurde und sich
Khamenei als Kompromisskandidat durchsetzte, kann es Überraschungen geben.
Können sie sich vorstellen, dass wie in Saudi-Arabien auch im Iran in den
nächsten Jahren ein junger, autoritärer Herrscher kommt und das System von
oben herab gesellschaftlich liberalisiert, um doch wieder mehr
Massenlegitimation herzustellen statt ausschließlich auf Repression zu
setzen?
Nicht in naher Zukunft. Im Iran hat sich das System in vielerlei Hinsicht
autokratisiert. Ein junger Herrscher müsste sich die nötige Autorität erst
einmal erarbeiten. Ich sehe im Iran kein Machtzentrum, das darauf drängen
würde, Reformen durchzuführen, sondern eher solche, die die
Autokratisierung gutheißen.
Seit dem [2][Hamas-Massaker vom 7. Oktober] zündeln die iranischen
Verbündeten in der Region. Milizen wie die libanesische Hisbollah und die
jemenitischen Huthis setzen sich als Unterstützer der Palästinenser in
Szene. Profitiert das iranische Regime auch selbst vom Gazakrieg?
Das iranische Regime ist auf der Gewinnerseite. Während die Hamas für das
Massaker einen hohen Preis zahlt, kann Iran einen Propagandaerfolg für sich
verbuchen, ohne viel zu verlieren. Auch wurde die Annäherung von Israel und
Saudi-Arabien ausgebremst, was für das Regime eine gute Nachricht ist.
Außenpolitisch profitiert es also. Allerdings ist das Eskalationsrisiko in
der Region real und da hat auch der Iran einiges zu verlieren.
Und innenpolitisch?
Innenpolitisch spielt der Gazakrieg im Iran keine zentrale Rolle. Unter der
regimekritischen Bevölkerung wird zwar zur Kenntnis genommen, was in Israel
und Palästina passiert, aber es ist kein dominantes Thema, das von der
Unzufriedenheit mit dem Regime ablenken würde. Der Gazakrieg gibt dem
Regime ein paar Punkte für seine Propaganda, aber das darf man nicht
überbewerten.
Das permanente [3][Zündeln Irans in der Region ist also kein
Ablenkungsmanöver]?
Nein, die Ablenkung ist ein Nebeneffekt. Die Revolutionsgarden, die die
Eskalation in der Region koordinieren, gehen nicht mit Blick auf die
innenpolitische Lage vor. Die gucken auf geostrategische Interessen, sie
sind außenpolitisch motiviert.
Dabei sind doch gerade sie dafür da, das Regime, das nach der Revolution
von 1979 an die Macht gekommen ist, zu schützen. Ist das nicht der [4][Kern
der Aufgabe der Revolutionsgarden], wie der Name schon sagt?
Ja, aber sie sind auch dafür da, die Revolution nach außen zu tragen und so
das Regime zu schützen. Die sogenannte Achse des Widerstands dient dazu,
das Regime außenpolitisch zu schützen. Verbündete Milizen in der Region
werden von den Revolutionsgarden so stark wie möglich gemacht, damit sie im
Falle eines Angriffs auf den Iran die ganze Region in Brand setzen können.
Es geht da nicht um die Gefahr von innen, sondern in erster Linie um eine
außenpolitische Abschreckungslogik.
29 Feb 2024
## LINKS
[1] /Regime-in-Iran/!5988859
[2] /Schwerpunkt-Nahost-Konflikt/!t5007999
[3] /Die-Mullahs-und-der-Gazakrieg/!5988650
[4] /Irans-Repressionsapparat/!5898561
## AUTOREN
Jannis Hagmann
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