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# taz.de -- Verbotener Weichmacher DNHP: Wie gefährlich ist der Stoff?
> Ein Abbauprodukt eines verbotenen Weichmachers wird seit Anfang Februar
> regelmäßig in Urinproben nachgewiesen. Wie kommt der da hin?
Bild: Weichmacher sorgen dafür, dass Plastik durchsichtiger, weicher und langl…
Die Meldung „Verbotener Weichmacher im Urin von Kleinkindern“ sorgt seit
Anfang Februar in Deutschland für Aufregung. Eine RTL-Reportage über die
Belastung mit Weichmachern hatte testweise Urinproben einer Familie ins
Labor der Ruhr-Universität Bochum geschickt. Dort entdeckten die
Forschenden Mono-n-hexylphthalat (MnHexP), ein mutmaßliches Abbauprodukt
des besonders gesundheitsschädlichen Weichmachers Di-n-hexylphthalat, kurz
DNHP.
Das Labor alarmierte das nordrhein-westfälische Umwelt- und
Verbraucherschutzamt, das eine Kontrolluntersuchung einleitete, die den
Befund bestätigte: In mehr als 60 Prozent der vorliegenden Urinproben von
Kindergartenkindern wurde MnHexP nachgewiesen.
Inzwischen weiß man, dass der Anteil der positiven Proben zwischen 2016 und
2021 um rund 35 Prozent gestiegen ist und sich die durchschnittliche
Konzentration verzehnfacht hat.
Zudem meldete das Umweltbundesamt (UBA), dass MnHExP auch in [1][mehr als
einem Drittel der bisher ausgewerteten Urinproben von Erwachsenen] gefunden
wurde. Mittlerweile geht man von einem deutschlandweiten Problem aus. Der
Fund erregte auch deshalb so viel Aufsehen, weil es diesen speziellen Stoff
in Deutschland eigentlich gar nicht geben dürfte. Doch der Reihe nach.
## Was ist DNHP?
DNHP gehört zu einer Gruppe von Chemikalien namens Phthalate, von denen die
Industrie jährlich 6 bis 8 Millionen Tonnen produziert. Das ist in etwa
das Gewicht der größten Pyramide von Gizeh. Die meisten dieser Teilchen
werden eingesetzt, um Plastik weicher, durchsichtiger oder langlebiger zu
machen. Man findet sie in PVC, Kabeln, Fußböden, Kunstleder, Kosmetika und
vielem anderen, was in Plastik verpackt ist.
In den letzten 50 Jahren hat sich ihr Einsatz weltweit vervielfacht, sodass
Forschende sie inzwischen in Sedimentgestein entdeckt haben, sowie in
Polarbären, Finnwalen und antarktischem Krill. Phthalate finden sich auch
in Atemluft, Lebensmitteln und Trinkwasser.
Deshalb sind die Weichmacher auch für den Menschen kaum vermeidbar. Sie
werden zudem leicht aufgenommen: Über die Haut, die Lunge oder beim Essen
aus Plastikverpackungen. Schon vor der Geburt durchdringen Phthalate die
Schutzschicht der Plazenta. Babys können sie über die Muttermilch aufnehmen
und Kleinkinder, indem sie an allem lutschen, was sie in die Finger
bekommen.
In der EU darf DNHP als besonders besorgniserregender Stoff längst nur noch
sehr begrenzt eingesetzt werden – und seit letztem Jahr nur mit
ausdrücklicher Genehmigung. Die hat bislang allerdings kein Unternehmen
beantragt.
Weichmacher erfüllen allerdings auch viele wichtige Funktionen, die aus
unserer Gesellschaft nicht mehr wegzudenken sind. Sie werden zum Beispiel
eingesetzt, damit sich medizinische Schläuche passend verbiegen – und
tragen so gleichzeitig dazu bei, dass die [2][Konzentration von
Weichmachern auf der Intensivstation] besonders hoch ist. DNHP dient als
Ummantelung für Tabletten, damit diese sich nicht schon vor dem Schlucken
im Mund auflösen.
## Wie kann der Stoff plötzlich in Kleinkindern auftauchen?
Grundsätzlich gelten für Kinderprodukte und Kosmetika besonders strenge
Richtlinien. Trotzdem sind Kleinkinder nicht selten stärker belastet als
ihre Eltern. Zum einen, weil die wenigsten Kinder nur mit Kinderprodukten
spielen, baden oder ihre Zähne putzen. Zum anderen, weil ihre Haut dünner
ist, sie schneller verdauen, mehr Durst haben und viel mehr Zeit auf dem
Fußboden verbringen.
Dennoch bleibt unklar, wie sie einen Stoff aufnehmen konnten, den es in der
EU eigentlich gar nicht geben dürfte. Der Anfangsverdacht des UBA geht zwar
in Richtung Sonnencreme. Allerdings warnt Marike Kolossa-Gehring vom UBA in
der Zwischenzeit strikt davor, das Kind mit dem Bade auszuschütten – und
völlig ungeschützt in die Sonne zu stellen. Für Maßnahmenempfehlungen sei
es noch zu früh.
## Warum ist der Stoff gefährlich?
Der jetzt im Urin von Kindern gefundene Weichmacher gilt als hormonell
wirksamer Stoff. Diese Stoffe greifen in unser Hormonsystem ein, indem sie
selbst wie Hormone wirken oder deren Wirkstellen blockieren. Damit können
sie potenziell alle hormonellen Funktionen torpedieren – [3][vom
Fettstoffwechsel bis zur Pubertät]. Kinder gelten als besonders anfällig
für diese Effekte. Insbesondere die Zeit vor der Geburt ist ein sensibles
Zeitfenster für die langfristige Entwicklung vom Gehirn bis zu den
Genitalien.
Phthalate gelten als Mitverursacher von [4][Endometriose],
[5][Unfruchtbarkeit], [6][steigenden Zahlen an Hodenkrebs], [7][Asthma,
Akne und Allergien]. In Tierversuchen wurde dem Weichmacher DNHP
bescheinigt, dass er die Entwicklung der Hoden, der Plazenta und die
Knochenbildung beeinflusst [8][sowie die Anzahl weißer Blutzellen und das
Wachstum im Uterus], das Körpergewicht und die Funktion von
[9][Schilddrüse] und Leber.
## Wie sinnvoll ist eine Obergrenze?
Bislang ließ sich noch nicht klar feststellen, ab welcher Menge der Stoff
gefährlich ist. Die gefundene Konzentration des mutmaßlichen
Abbauproduktes ist zum Glück vergleichsweise gering. Selbst nach der
Verzehnfachung in den letzten Jahren liegt sie im Mittel bei 2,09
Mikrogramm pro Liter. Die Konzentrationen anderer Störstoffe liegen im
Durchschnitt bereits bei 20 bis 50 Mikrogramm pro Liter.
Also viel Lärm um wenig? So einfach ist es leider auch nicht. Das
Hormonsystem ist komplex, und klare Grenzwerte ergeben oft keinen Sinn. Zu
den Grundsätzen des Hormonsystems gehört etwa, dass kleine Mengen über
komplexe Dominoketten eine große Wirkung entfalten können. So verhindern
zum Beispiel 75 Mikrogramm hormoneller Wirkstoff in der Mikropille täglich
sehr erfolgreich eine Menge Babys.
Weil hormonelle Wirkungen außerdem oft nicht linear, sondern in Kurvenform
daherkommen, kommt es manchmal bei kleinen Dosen zu Effekten, die bei einer
großen Dosis ausbleiben. Auch bei DNHP fanden Forschende je nach Dosis
einen [10][gegenteiligen Effekt auf das Testosteronlevel].
Kurzum: Um die Obergrenzen für hormonelle Störstoffe drehen sich ziemlich
bedenkliche Grauzonen. Deshalb ist es gut, dass die EU hormonelle
Störstoffe in Plastik und Pestiziden hin und wieder verbietet – und
gefährlich, wenn Lobbyist:innen fordern, solche Verbote zugunsten
sicherer Obergrenzen aufzugeben.
## Wie kann man sich dann schützen?
Auch wenn die Herkunft dieses speziellen Stoffs noch gesucht wird, lässt
sich schon jetzt einiges tun, um [11][Phthalate und andere hormonelle
Störstoffe an anderer Stelle zu vermeiden]. Unnötige Kunststoffe lassen
sich zum Beispiel vermeiden, indem man Lebensmittel öfter frisch anstatt
aus Plastikverpackungen isst, Kleidung und Möbel aus Naturmaterialien kauft
und Holz- oder zumindest PVC-freie Böden verlegt. Manche Händler
kennzeichnen ihre Produkte bewusst als phthalatfrei. Zusätzliche Sicherheit
können [12][Umweltsiegel] wie der Blaue Engel geben, oder der
Produkthinweis, dass die Ware innereuropäisch hergestellt wurde.
Wer den aktuellen Bestand im Kosmetikschrank überprüfen möchte, kann auf
Apps wie ToxFox oder Scan4Chem zurückgreifen. Letztere wurde vom UBA
entwickelt und vergleicht jeden gescannten Barcode mit den Angaben einer
europäischen Datenbank mit 35.000 Produkten. Bei beiden finden sich auch
Sonnencremes, die in bisherigen Tests auf Störstoff-Freiheit gut
abgeschnitten haben.
Grundsätzlich wäre es hilfreich, den täglichen Überkonsum zu reduzieren,
der dazu beiträgt, unseren Planeten mit Plastikprodukten zu fluten, sowie
Unternehmen und Lieferketten genauer auf die Finger zu schauen, sodass
gefährliche Stoffe aus dem Verkehr gezogen werden, noch bevor sie weit
verbreitet sind
22 Feb 2024
## LINKS
[1] https://www.umweltbundesamt.de/themen/fund-eines-weichmachers-in-urinproben…
[2] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0160412015000926
[3] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0013935117309106
[4] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0890623822001691
[5] https://www.mdpi.com/2076-3921/11/8/1617
[6] https://academic.oup.com/jcem/article/106/12/e4834/6322622
[7] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28800814/
[8] https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/0748233717711868
[9] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32602421/
[10] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0378427420303362
[11] /Gift-in-Spielzeug/!5946290
[12] /Gesundheitsberaterin-ueber-Spielzeug/!5980462
## AUTOREN
Franca Parianen
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