| # taz.de -- Proteststreik in Argentinien: Erster Widerstand gegen Milei | |
| > Ein Generalstreik der größten Gewerkschaften gegen das Schockprogramm des | |
| > neuen Präsidenten Javier Milei legt Teile Argentiniens für 12 Stunden | |
| > lahm. | |
| Bild: Protest vor dem Kongressgebäude in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires … | |
| Buenos Aires taz | Trommelwirbel und knallendes Feuerwerk. Argentiniens | |
| libertärer Präsident Javier Milei war gerade 45 Tage im Amt, als er am | |
| Mittwoch den ersten Generalstreik gegen seine Politik erlebte. Dazu | |
| aufgerufen hatte der Gewerkschaftsdachverband CGT. Der Höhepunkt des | |
| 12-stündigen Ausstands war ein Protestmarsch zum Kongressgebäude im Zentrum | |
| der Hauptstadt Buenos Aires, an dem auch soziale Basisorganisationen, | |
| kleine linke Parteien und die peronistische Opposition teilnahmen. | |
| Die Stimmung vor dem Kongress ist aufgeheizt bis aggressiv, nicht nur wegen | |
| der hochsommerlichen Temperaturen. „Mein Gehalt ist schon jetzt nur noch | |
| die Hälfte wert“, schreit Grundschullehrerin Gladys Aarón einer jungen Frau | |
| ins Gesicht, die sich lautstark darüber beschwert, dass sie wegen des | |
| Protestmarsches zu spät zur Arbeit kommt. Mehrfach kommt es zu solch | |
| heftigen Wortgefechten und Beleidigungen zwischen Passanten und | |
| Protestierenden, die auch in Handgreiflichkeiten münden. | |
| „Viele Menschen hier haben für Milei gestimmt, weil er ihnen versprochen | |
| hat, dass die politische Kaste die Kosten tragen wird“, sagt Hernán Braco, | |
| der als Krankenpfleger in der Hauptstadt arbeitet. „Jetzt sind sie | |
| frustriert, weil sie merken, dass sie selber zahlen müssen.“ Für viele ist | |
| dies das erste Mal, dass sie ihre Wut und Enttäuschung öffentlich zum | |
| Ausdruck bringen. | |
| [1][Inflation] und Kaufkraftverlust gehen am Río de la Plata schon lange | |
| Hand in Hand. Offiziellen Zahlen zufolge sanken die Reallöhne im formellen | |
| Sektor in den vier Jahren des konservativen Präsidenten Mauricio Macri | |
| (2015-2019) um 21 Prozent und in der Amtszeit des gemäßigt-linken Alberto | |
| Fernández (2019-2023) um 6 Prozent. In nur einem Monat Milei sind die | |
| Reallöhne um 13 Prozent eingebrochen. | |
| ## Eiltempo bei Mileis Schockprogramm | |
| Der Protestmarsch verläuft friedlich, abgesehen von ein paar kleinen | |
| Rangeleien mit den Uniformierten. Statt Tränengas wabern die Rauchschwaden | |
| der zahlreichen ambulanten Grillstände durch die Straßen und machen Lust | |
| auf ein Choripán. Am Ende des Tages liegen die Teilnehmendenzahlen der | |
| Gewerkschaften und der Regierung so weit auseinander wie ihre ideologischen | |
| Positionen. | |
| Während die CGT in der Hauptstadt 600.000 und landesweit insgesamt 1,5 | |
| Millionen auf den Straßen und Plätzen zählt, gibt das | |
| Sicherheitsministerium die Zahl für die Hauptstadt mit 40.000 Teilnehmenden | |
| an. Fakt ist, dass sich der Widerstand erst allmählich formiert, zumal sich | |
| das Land im Urlaubsmodus befindet. | |
| Mit Ausmaß und Tempo seines Vorgehens hatte Milei für einen | |
| Überraschungseffekt nach dem anderen gesorgt. Unmittelbar nach seinem | |
| [2][Amtsantritt am 10. Dezember] ordnete er eine 55-prozentige Abwertung | |
| des Peso gegenüber dem Dollar an. Nur eine Woche später erließ er ein | |
| [3][Dekret mit über 350 Deregulierungsmaßnahmen], darunter auch Änderungen | |
| des Arbeitsrechts. Entlassungen werden erleichtert, Abfindungen gekürzt und | |
| das Streikrecht eingeschränkt. | |
| Und wiederum nur eine Woche später legte er dem Kongress ein 664 Artikel | |
| umfassendes Mega-Gesetz vor, das neben umfangreichen Privatisierungs-, | |
| Wirtschafts-, Wahl-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen auch eine weitreichende | |
| Umstrukturierung der staatlichen Verwaltung vorsieht. Und es würde dem | |
| Präsidenten Sondervollmachten bis zum Ende seiner vierjährigen Amtszeit | |
| einräumen. All dies, so Milei, um das Haushaltsdefizit zu reduzieren und | |
| die Inflation langfristig zu senken. | |
| ## Milei ringt um parlamentarische Mehrheiten | |
| „Der Präsident sagt, dass sein Wirtschaftsminister wegen der ergriffenen | |
| Maßnahmen auf den Schultern getragen werden müsse“, sagt Pablo Moyano, Chef | |
| der mächtigen Transportarbeitergewerkschaft, auf der Bühne vor dem | |
| Kongressgebäude. „Ich sage, wenn er diese Sparmaßnahmen wirklich umsetzt, | |
| werden ihn die Arbeiter und Rentner tatsächlich auf den Schultern tragen, | |
| aber um ihn in den Riachuelo-Fluss zu werfen.“ | |
| Das Dekret ist in Kraft, solange es nicht von beiden Kammern des Kongresses | |
| abgelehnt wird. Nur die Änderungen des Arbeitsrechts liegen wegen einer von | |
| den Gewerkschaften erwirkten einstweiligen Verfügung auf Eis. Anders | |
| verhält es sich mit dem Mega-Gesetz, das mit der Zustimmung des | |
| Parlamentsausschusses gerade die erste Hürde genommen hat. In einer um über | |
| 100 Artikel abgespeckten und veränderten Form soll darüber schon in der | |
| kommenden Woche im Abgeordnetenhaus abgestimmt werden. | |
| Die parlamentarische Machtbasis des Präsidenten ist äußerst begrenzt. Im | |
| Kongress verfügt er über weniger als 10 Prozent der Senatsmandate und nur | |
| 15 Prozent der Mandate im Abgeordnetenhaus. Milei ist auf die Stimmen der | |
| rechts-liberalen und rechts-gemäßigten Opposition angewiesen. Und während | |
| er öffentlich vehement ein Alles-oder-Nichts fordert, wird in Hinterzimmern | |
| kräftig verhandelt. | |
| ## Privilegien der Gewerkschaften im Visier | |
| Den Gewerkschaften ist vor allem das Dekret ein Dorn im Auge, das die | |
| ökonomische Macht der Arbeitnehmerorganisationen schwächen soll. | |
| Argentiniens Gewerkschaften finanzieren sich nicht nur über die Beiträge | |
| der Mitglieder. Beschäftigten, die nicht Mitglied einer Gewerkschaft sind, | |
| wird ein sogenannter Solidaritätsbeitrag vom Lohn abgezogen und an die | |
| jeweils für die Branche zuständige Gewerkschaft überwiesen. Höhe und | |
| Laufzeit dieser Solidaritätsbeiträge werden in den ausgehandelten | |
| Tarifverträgen stets neu festgelegt, um nicht als Zwangsabgabe zu gelten. | |
| Und die Gewerkschaften verfügen über milliardenschwere Fonds, seit ihnen | |
| Militärdiktator Juan Carlos Onganías (1966-1970) das Recht eingeräumte, | |
| eigene Sozialwerke wie etwa Krankenkassen einzurichten. Seither müssen die | |
| Beiträge aller formell Beschäftigten über einen gewerkschaftseigenen | |
| Sozialversicherungsträger abgewickelt werden. Der behält entweder den | |
| gesamten Beitrag ein oder, wenn der Beschäftigte bei einem anderen | |
| Versicherer versichert ist, einen nicht geringen Anteil. Der Wechsel zu | |
| einer Krankenkasse eigener Wahl ist nicht verboten, scheitert aber meist an | |
| den bürokratischen Hürden der Gewerkschaften. | |
| Mileis Dekret macht mit beidem Schluss. Der Solidaritätsbeitrag soll | |
| abgeschafft werden, die Beschäftigten sollen ihre Krankenkasse frei wählen | |
| können und die Beiträge ohne Abzug überwiesen werden. Die Gewerkschaften | |
| befürchten einen deutlichen Rückgang der Beitragszahlungen. Gut verdienende | |
| Mitglieder könnten in die teureren privaten Krankenkassen wechseln, während | |
| die Geringverdiener in den Gewerkschaftskassen verbleiben. | |
| Aber nicht nur das. Die Gewerkschaften sind längst zu Großunternehmen im | |
| Gesundheitsbereich und Eigentümer großer Gesundheitseinrichtungen geworden. | |
| Die damit einhergehende Vettern- und Amigowirtschaft erklärt, warum manche | |
| Gewerkschaftsbosse seit Jahrzehnten im Amt sind oder ihre Nachfolge | |
| innerfamiliär geregelt wird, wie etwa im Fall der | |
| Transportarbeitergewerkschaft der Moyano-Familie. Eine einvernehmliche | |
| Lösung dieses Konflikts ist schwer vorstellbar. | |
| 25 Jan 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Rekordinflation-in-Argentinien/!5985142 | |
| [2] /Neue-Regierung-in-Argentinien/!5980187 | |
| [3] /Argentinien-unter-Javier-Milei/!5981130 | |
| ## AUTOREN | |
| Jürgen Vogt | |
| ## TAGS | |
| Argentinien | |
| Generalstreik | |
| Gewerkschaft | |
| Javier Milei | |
| Inflation | |
| Tag der Arbeit, Tag der Proteste | |
| Argentinien | |
| Argentinien | |
| Argentinien | |
| Javier Milei | |
| Argentinien | |
| Argentinien | |
| Argentinien | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Argentiniens Gewerkschaften am 1. Mai: Vereint gegen den Libertären | |
| Argentiniens zerstrittene Gewerkschaften demonstrieren am 1. Mai Einigkeit, | |
| um Arbeitsrechte zu verteidigen. Zuvor konnten sie einen Erfolg verbuchen. | |
| Armut in Argentinien: Armutsquote steigt unter Javier Milei | |
| Mehr als die Hälfte der Argentinier*innen leben laut einer neuen | |
| Studie in Armut. Viele können sich noch nicht mal ausreichend Essen | |
| leisten. | |
| Präsident Milei in Bedrängnis: Inflation steigt auf über 250 Prozent | |
| Es ist die höchste Teuerungsrate seit der Hyperinflation 1991: Allein im | |
| Januar legten die Preise in Argentinien um 20 Prozent zu. | |
| Mega-Gesetzespaket in Argentinien: Schwere Niederlage | |
| Das Abgeordnetenhaus verweist das Mega-Gesetzespaket von Präsident Javier | |
| Milei an die Ausschüsse zurück. Die Debatte geht wieder von vorne los. | |
| Milei krempelt Argentinien um: Mega-Gesetz nimmt erste Hürde | |
| Geringere Sondervollmachten für den Präsidenten und nur 386 Artikel: Das | |
| Parlament billigte am Freitag das etwas zurechtgestutzte Gesetzespaket der | |
| Regierung. | |
| Rekordinflation in Argentinien: 25,5 Prozent in einem Monat | |
| In Argentinien stiegen die Preise allein im Dezember um 25,5 Prozent, im | |
| ganzen Jahr um 211 Prozent. Das ist auch Ergebnis politischer | |
| Entscheidungen. | |
| Mega-Gesetzentwurf in Argentinien: Milei will Gesetze selber machen | |
| Um seinen radikalen Staats- und Sozialabbau ohne Parlament verwirklichen zu | |
| können, legt Argentiniens Präsident Milei ein Ermächtigungsgesetz vor. | |
| Argentinien unter Javier Milei: Abrissbirne gegen staatliche Regeln | |
| Argentiniens neuer Präsident Javier Milei stellt sein umfangreiches | |
| wirtschaftliches Schockprogramm vor. Tausende gehen dagegen auf die Straße. |