# taz.de -- Milei krempelt Argentinien um: Mega-Gesetz nimmt erste Hürde | |
> Geringere Sondervollmachten für den Präsidenten und nur 386 Artikel: Das | |
> Parlament billigte am Freitag das etwas zurechtgestutzte Gesetzespaket | |
> der Regierung. | |
Bild: „Verabschiedet das Gesetz NICHT!“: Die Opposition in Argentiniens Par… | |
BUENOS AIRES taz | In Argentinien hat das Mega-Gesetzespaket des libertären | |
Präsidenten Javier Milei die erste parlamentarische Hürde genommen. Am | |
Freitag stimmte das Abgeordnetenhaus mehrheitlich dafür. 144 | |
rechtsliberale, konservative, gemäßigte und libertäre Abgeordnete votierten | |
für das Paket, während 109 vor allem peronistische und linke Abgeordneten | |
es ablehnten. Vier enthielten sich. Was noch aussteht, ist die | |
Einzelabstimmung über jeden Artikel, die nächste Woche beginnt. | |
Es war ein teils hitziger, teils verwirrender Debattenmarathon, der am | |
Mittwochmittag begann und am späten Freitagnachmittag in der Abstimmung | |
über das Gesamtpaket gipfelte. Verwirrend nicht nur wegen des enormen | |
Umfangs des Gesetzespakets, sondern vor allem wegen der ständigen | |
Änderungen, die während der laufenden Sitzung hinter den Kulissen | |
ausgehandelt wurden. Zum Zeitpunkt der Abstimmung wussten die wenigsten | |
Abgeordneten, wie viele und welche Artikel überhaupt im Paket verblieben | |
waren und welche nicht. | |
Am 27. Dezember hatte [1][Milei dem Kongress das Mega-Gesetzespaket | |
vorgelegt]. Es enthielt 664 Artikel und sah neben umfangreichen | |
Privatisierungs-, Wirtschafts-, Wahl-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen auch | |
eine weitreichende Umstrukturierung der staatlichen Verwaltung vor. Und das | |
Gesetz sollte es dem Präsidenten ermöglichen, bis zum Ende seiner | |
vierjährigen Amtszeit mit Sondervollmachten zu regieren. | |
Bei der Abstimmung war das „Gesetz über Grundlagen und Ausgangspunkte für | |
die Freiheit der Argentinier“ – so der offizielle Name – auf 386 Artikel | |
geschrumpft. Ob diese Zahl die letztlich gültige ist, bleibt abzuwarten. | |
Was noch aussteht, ist das Votum der Abgeordneten über jeden einzelnen | |
Artikel, die kommenden Dienstag beginnt. Erwartet werden zahlreiche | |
Änderungen. Einmal verabschiedet, muss das Mega-Gesetzespaket dem Senat zur | |
Billigung vorgelegt werden. | |
An allen drei Tagen protestierten linke Gruppen und Parteien auf dem Platz | |
vor dem Kongressgebäude, das mit einem Ring aus Uniformierten und | |
aufgestellten Gittern geschützt wurde. Es galt das von | |
Sicherheitsministerin Patricia Bullrich aufgestellte | |
[2][„Sicherheitsprotokoll für Demonstrationen“]. Sobald die | |
Demonstrierenden versuchten, auf die Straßen zu gehen, kam es zum Teil zu | |
heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei, die versuchte, die Straßen | |
für den Verkehr freizuhalten. | |
Am Donnerstagabend eskalierte die Situation, als ein massives | |
Polizeiaufgebot die Protestierenden mit Schlagstöcken, Gummigeschossen und | |
Pfefferspray zurückdrängte. Bei dem unverhältnismäßigen Vorgehen der | |
Sicherheitskräfte wurden zahlreiche Personen durch Gummigeschosse verletzt, | |
darunter mindestens ein Dutzend Journalist*innen. | |
## Ein parlamentarisch schwacher Präsident | |
Mileis Partei La Libertad Avanza stellt nur 38 der 257 Abgeordneten. Als | |
parlamentarisch schwacher Präsident ist er zu Kompromissen gezwungen, wenn | |
er überhaupt etwas durchsetzen will. Aus rein parteipolitischer Sicht | |
könnten ihm die Abgeordneten nicht nur die Gefolgschaft verweigern, sondern | |
sich auch auf etwas ganz anderes einigen. Die Streichung von mehr als einem | |
Drittel der Artikel zeigt, dass der Präsident unbedingt eine Niederlage | |
vermeiden wollte. | |
Dennoch überraschen die zurückgezogenen Inhalte. Allen voran der gesamte | |
fiskalpolitische Teil, der als Herzstück des Pakets galt und mit dem Milei | |
das Haushaltsdefizit auf die schwarze Null reduzieren wollte. Dass er dies | |
in einem zweigleisigen Ansatz, mit einer Erhöhung der Exportsteuern und | |
einer rigorosen Sparpolitik erreichen wollte, hat selbst seine | |
marktradikale Anhängerschaft überrascht. „Eher hacke ich mir die Hand ab, | |
als Steuern zu erhöhen“, hatte er noch im Wahlkampf versichert. | |
Was nicht gestrichen wurde, sind die massiven Einsparungen durch den Abbau | |
des Staatsapparates und in der Kultur. Ein Erfolg erzielte Milei auch in | |
Sachen Neuverschuldung. Er konnte durchsetzen, dass er sich bei der | |
Aufnahme von Schulden in ausländischer Währung und nach ausländischem Recht | |
nicht mehr an eine vom Kongress im Haushalt festgelegte Obergrenze halten | |
muss. | |
Dagegen musste er bei den geforderten Sondervollmachten zurückrudern. | |
Statt, dass der Kongress den sozialen und verteidigungspolitischen Notstand | |
ausruft und ihm für die Dauer seiner vierjährigen Amtszeit | |
Sondervollmachten einräumt, erklärte sich die Mehrheit der Abgeordneten | |
lediglich dazu bereit, den Notstand in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen, | |
Sicherheit, Energie, Verwaltung und Tarife auszurufen. Die für diese | |
Bereiche bewilligten Sondervollmachten gelten für ein Jahr und können nur | |
mit der Zustimmung des Kongresses um ein weiteres Jahr verlängern werden. | |
Auch die Verschärfung des Demonstrationsrechts, ein weiterer zentraler | |
Punkt des Mega-Gesetzes, wurde gebilligt. So wurde beispielsweise die | |
Strafe für eine nicht genehmigte Straßenblockade von einem auf drei Jahre | |
und sechs Monate Gefängnis erhöht. Dagegen wurde die Liste der 41 | |
staatlichen und mehrheitlich staatlichen Unternehmen, die die Regierung | |
privatisieren will, auf 27 reduziert. Zu den gestrichenen Unternehmen | |
gehören die Ölgesellschaft YPF und die Staatsbank Banco Nación. | |
Welch bunten Mix das Paket enthält, zeigt die Ehescheidung, die zukünftig | |
erleichtert werden soll. Statt eines Scheidungsverfahrens, das nur über | |
Anwälte abgewickelt werden kann, reicht nun eine gemeinsame Erklärung der | |
Eheleute beim Standesamt aus, um die Ehe aufzulösen. Gut möglich, dass 2024 | |
das Rekordjahr für Scheidungen in Argentinien sein wird. Viele Paare haben | |
sich längst getrennt, sich aber wegen des kostspieligen Verfahrens noch | |
nicht scheiden lassen. | |
Auch Traditionalist*innen unter den Fußballfans können beruhigt sein. | |
Der Artikel, der es den Vereinen ermöglichen sollte, sich in | |
Aktiengesellschaften umzuwandeln und sich an ausländische Investoren zu | |
verkaufen, wurde zurückgezogen. Vom Tisch sind die Gerüchte, der englische | |
Erstligist FC Chelsea hätte schon vier, fünf große Clubs im Visier. | |
## Der große Verlierer: Gletscherschutz | |
In der Debatte nahezu unerwähnt blieb das Thema Umwelt und Klima, das die | |
Umweltschutzorganisationen in Alarmzustand versetzte. „Die vorgeschlagenen | |
Reformen richten sich direkt gegen den Kern der argentinischen | |
Umweltgesetzgebung, die für den Schutz wichtiger Ökosysteme in unserem Land | |
wie Wälder, Gletscher und Feuchtgebiete steht“, sagte Diego Salas, Direktor | |
von Greenpeace Andino. „Trotz einiger Änderungen am ursprünglichen Text | |
sind die Umweltgesetze immer noch in Gefahr“, so Salas. Die Änderungen | |
konnten immerhin [3][80 Prozent der bisher geschützten Wälder vor einer | |
legalen Abholzung bewahren]. | |
Das [4][Ringen um den Schutz der Gletscher] war weniger erfolgreich. „Die | |
im neuen Gesetzesentwurf vorgeschlagenen Änderungen schränken das | |
Schutzgebiet erheblich ein, schließen eine enorme Menge an Eiskörpern aus | |
und ignorieren die ökosystemische Rolle von Gletschern und der | |
periglazialen Umwelt“, schrieben Argentiniens wichtigste | |
Gletscherexpert*innen in einem offenen Brief an die Parlamentarier. | |
Während im Bereich des Waldschutzes das Lobbying der Landwirtschaft und der | |
Immobilienwirtschaft bei der Erschließung neuer Agrar- und Bauflächen noch | |
weitgehend zurückgewiesen werden konnte, droht beim Gletscherschutz also | |
ein schwerer Rückschlag. Für den Bergbau war das Gletscherschutzgesetz | |
immer nur ein Hindernis bei der Ausweitung seiner Minen und der | |
großflächigen Ausbeutung von Erzen entlang der Anden. | |
Die [5][Extraktionswirtschaft] hat in dem marktliberalen Präsidenten Milei | |
einen idealen Verbündeten, der statt von Klimawandel von historischen | |
Temperaturzyklen spricht, für die die Menschheit nicht verantwortlich | |
gemacht werden kann. Die Deviseneinnahmen Argentiniens stammen | |
hauptsächlich aus dem Agrarexport und in geringerem Maße aus dem Export von | |
Erzen und Metallen. Auf sie ist Milel angewiesen, um sein Wahlversprechen | |
der Dollarisierung der Wirtschaft zu erfüllen. | |
3 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Jürgen Vogt | |
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