# taz.de -- Argentinien unter Javier Milei: Abrissbirne gegen staatliche Regeln | |
> Argentiniens neuer Präsident Javier Milei stellt sein umfangreiches | |
> wirtschaftliches Schockprogramm vor. Tausende gehen dagegen auf die | |
> Straße. | |
Bild: Tausende von Argentiniern gingen spontan auf die Straßen von Buenos Aires | |
Buenos Aires taz | Argentiniens neuer Präsident [1][Javier Milei] hat über | |
350 Deregulierungsmaßnahmen erlassen. „Ziel ist es, den Weg des | |
Wiederaufbaus unseres Landes zu beginnen, dem Einzelnen Freiheit und | |
Autonomie zurückzugeben und mit dem Abbau der enormen Menge an Vorschriften | |
zu beginnen, die das Wirtschaftswachstum behindert, erschwert und gestoppt | |
haben“, sagte Milei am Mittwochabend in einer [2][landesweit im Fernsehen | |
übertragenen Rede]. | |
Unter anderem wird das Arbeitsrecht geändert. Dabei geht es in erster Linie | |
um die Erleichterung von Entlassungen, wie etwa die Reduzierung von | |
Abfindungen oder die Einschränkung von arbeitsrechtlichen Klagen gegen eben | |
eine Entlassung. Im Gegenzug soll das den Unternehmen ein Anreiz sein, mehr | |
Einstellungen mit formalen Arbeitsverträgen vorzunehmen. | |
Staatliche Unternehmen werden in Aktiengesellschaften umgewandelt und | |
anschließend privatisiert. Der Erwerb von Land wird für ausländische | |
Investoren erleichtert. Auch das Gesetz über die Brandbekämpfung soll | |
geändert werden, durch das der Verkauf von illegal abgebranntem Land für | |
Jahre verboten wird, um so den Schutz von Wald- und Feuchtgebieten zu | |
gewährleisten. | |
Nach der Rede war es nicht nur in der Hauptstadt Buenos Aires zu | |
Cacerolazos, Kochtopfkonzerten, Hupkonzerten und spontanen Straßenprotesten | |
gegen die Ankündigungen gekommen. Wie viele der Maßnahmen allein per | |
Präsidialdekret umsetzbar sind, wird sich in den kommenden Tagen zeigen. | |
Dann muss das 86-seitige Dekret mit seinen 366 Artikeln dem Kongress | |
vorgelegt werden. Solange der nicht darüber entscheidet, hat es „unter der | |
Vermutung der Gültigkeit“ Gesetzeskraft. Erwartet wird schon jetzt eine | |
große Zahl von einstweiligen Verfügungen gegen einzelne Maßnahmen. | |
## Wer Straßen blockiert, soll die Sozialhilfe verlieren | |
Die Ankündigung, die ursprünglich für den Mittag geplant war, wurde wegen | |
eines Protestmarsches zur Plaza de Mayo auf den Abend verschoben. Linke | |
Basisorganisationen und Parteien hatten zu dem ersten großen Protestmarsch | |
gegen den [3][seit dem 10. Dezember amtierenden Präsidenten] Javier Milei | |
aufgerufen. Und obgleich sich Milei selbst als ersten libertären | |
Präsidenten eines Landes bezeichnet, zeigte er hier eine äußert autoritäres | |
Gesicht. | |
Der 20. Dezember war nicht zufällig gewählt. Der Tag gilt als Höhepunkt der | |
sozialen Unruhen im Dezember 2001, als der damalige Präsident Fernando de | |
la Rúa den Ausnahmezustand verhängte, was die Proteste verstärkte, bei | |
denen 39 Menschen ihr Leben verloren und die schließlich zum Rücktritt des | |
Präsidenten führten, der den Präsidentenpalast mit einem Hubschrauber | |
verlassen musste. Seitdem findet jährlich ein Gedenkmarsch vom Kongress zur | |
Plaza de Mayo vor der Präsidentenpalast statt. | |
Die Stimmung war jedoch extrem aufgeheizt, seit Sicherheitsministerin | |
Patricia Bullrich letzte Woche das neue Sicherheitsprotokoll für | |
Demonstrationen vorgestellte. Bei der Präsentation ging es weniger um die | |
Gewährleistung der Meinungsfreiheit als vielmehr um die Sicherstellung der | |
Bewegungsfreiheit und die Verhinderung von Straßenblockaden. „Die Straße | |
wird nicht blockiert, die Leute werden auf dem Bürgersteig gehen“, sagte | |
Bullrich und drohte mit harten Konsequenzen für den Fall der | |
Nichteinhaltung. | |
## Piquetes werden nicht unterstützt | |
Sandra Pettovello, die für die Sozialpolitik zuständige Ministerin, setzte | |
am Montag bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt noch einen drauf. „Wer zu | |
einer Demonstration geht und die Straße blockiert, dem wird die Sozialhilfe | |
gestrichen“, lautete die klare Botschaft der Vorsteherin des neu | |
geschaffenen Ministeriums für Humankapital. Pettovello wiederholte damit | |
einen Satz, den Präsident Javier Milei bereits in seiner Antrittsrede | |
gesagt hatte: „El que corta no cobra – diejenigen, die die Straßen | |
blockieren, werden nicht unterstützt.“ Milei hatte damit eine Kehrtwende im | |
Umgang mit den Piquetes, den Straßenblockaden, angekündigt, die seit Jahren | |
eine umstrittene, aber geduldete Form des Protests vor allem von | |
Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern sind. | |
Schon am frühen Dienstagmorgen wurden die Zufahrtswege ins Stadtzentrum | |
kontrolliert. An allen Einfallstraßen und Bahnhöfen überwachten | |
Uniformierte, wer in Richtung der Sammelpunkte für der Sternmarsch | |
unterwegs war. | |
Auf den Anzeigetafeln der Bahnsteige und in den Bahnhofshallen lief | |
pausenlos der Satz „Wer die Straße blockiert, wird nicht unterstützt.“ Und | |
wer ihn nicht gelesen hatte, hörte ihn als wiederkehrende | |
Lautsprecherdurchsage oder bekam ihn über die sozialen Netzwerke von der | |
Regierung auf sein Mobiltelefon. | |
## Ein Erfolg für beide Seiten? | |
Tatsächlich waren es weit weniger Teilnehmende als erwartet. Als am | |
Nachmittag schließlich rund 15.000 Demonstranten in Begleitung eines | |
massiven Polizeiaufgebots zur Plaza de Mayo marschierten, saß Präsident | |
Javier Milei selbst vor den Bildschirmen im Lagezentrum der Polizei und | |
beobachtete den Marsch. | |
Abgesehen von kleineren Rangeleien verlief der An- und Abmarsch friedlich. | |
Am Ende erklärten sich beide Seite zu Siegern. Man habe sich nicht | |
einschüchtern lassen, so der Tenor der sozialen Organisationen. Der freie | |
Verkehr wurde gewährleistet, so die Regierung. | |
21 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Praesidentschaftswahlen-in-Argentinien/!5974516 | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=st2oVDYWK_0 | |
[3] /Amtseinfuehrung-in-Argentinen/!5978920 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Vogt | |
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