# taz.de -- Soziologe über Argentiniens Machtwechsel: „Die enorme Verdrehung… | |
> Javier Milei tritt die Präsidentschaft in Argentinien an – am Jahrestag | |
> der Rückkehr zur Demokratie. Das alarmiert, sagt Soziologe Juan Carlos | |
> Torre. | |
Bild: Nach dem Sieg bei der Stichwahl versammelten sich Mileis Anhänger am 19.… | |
taz: Herr Torre, am Sonntag begeht Argentinien den 40. Jahrestag der | |
Rückkehr zur Demokratie. Gleichzeitig tritt der neue ultrarechte Präsident | |
[1][Javier Milei] sein Amt an. Sind beide Ereignisse Anlässe zum Feiern? | |
Juan Carlos Torre: Nicht alle haben 1983 von einer Rückkehr zur Demokratie | |
gesprochen. Ein bekannter Politikwissenschaftler stellte die Frage, zu | |
welcher Demokratie wir eigentlich zurückkehren würden? In der Zeit vor der | |
Militärdiktatur war die Demokratie ziemlich armselig. Es gab zwar Wahlen, | |
an denen aber beispielsweise die peronistische Partei nicht teilnehmen | |
durfte. Deshalb wurde die Definition ‚Übergang vom Autoritarismus hin zur | |
Demokratie‘ geprägt, und nicht von einer Rückkehr zur Demokratie | |
gesprochen. Auch ich benutze diese Definition. | |
Argentinien blickt auf eine lange Geschichte zurück, in der sich zivile | |
Regierungen und Militärregime abwechselten. Sind es also 40 Jahre | |
Demokratie oder 40 Jahre ohne Staatsstreich? | |
Es geht Hand in Hand. Ob man es wollte oder nicht, man wusste, dass in | |
einer schwierigen oder chaotischen Situation das Militär eingreifen würde. | |
Doch der Staatsterrorismus der letzten Militärdiktatur und der Krieg um die | |
Malwinen haben das Militär aus den Rennen genommen. Seitdem gab es | |
Situationen, die alle Elemente für einen Militärputsch aufwiesen, aber da | |
ein Militärputsch als Mittel nicht zur Verfügung stand, musste die Politik | |
eine Lösung finden. | |
Welche Situationen würden sie als putschwürdig bezeichnen? | |
Die tiefen Krisen von 2001 und aktuell 2023 waren potenziell günstige | |
Situationen für einen Militärputsch. Das wirklich Neue daran ist, dass sie | |
ohne einen Militärputsch vorübergingen. Wenn ich mir also die letzten 40 | |
Jahre anschaue, dann stelle ich zwei Dinge fest. Die Militärs sind in den | |
Kasernen und es gibt freie Wahlen, deren Ergebnisse anerkannt werden. Das | |
sind zwei feste Säulen unserer heutigen Demokratie. | |
Wie fügt sich Argentiniens Übergang zur Demokratie in den regionalen | |
Kontext ein? | |
Wenn man einen vergleichenden Blick auf Lateinamerika wirft, kann man | |
verschiedene Wellen erkennen. In den 1970er Jahren gab es nur zwei Länder | |
in Lateinamerika, in denen keine Diktatur herrschte. In den 1980er Jahren | |
kann man eine Welle hin zu demokratischen Institutionen erkennen. Die | |
Länder schauten aufeinander, schöpften aus den demokratischen Entwicklungen | |
beim Nachbarn Hoffnung und Kraft. In einem Land ging es schneller, in Chile | |
zum Beispiel dauerte es länger. Noch bis vor kurzem hatten wir eine weitere | |
Welle, die sich nach links wandte, mit Hugo Chávez in Venezuela, Evo | |
Morales in Bolivien, Lula da Silva in Brasilien oder dem Ehepaar Kirchner | |
in Argentinien. Heute gibt es wieder eine Bewegung, aber mit einer | |
entgegengesetzten Tendenz. | |
Dies gilt für den marktradikalen Javier Milei, der am Sonntag als neuer | |
Präsident vereidigt wird. Ist Milei eine Gefahr für die Demokratie? | |
Es herrscht eine Art Alarmzustand, und das zu Recht. Schließlich hat Milei | |
ziemlich verrückte Dinge gesagt. Derzeit ist eine Mutation bei ihm zu | |
beobachten. Er mäßigt seine Äußerungen und scheint sich von einem | |
politischen Agitator zu einer Person zu wandeln, die sich bewusst ist, dass | |
sie bald in Regierungsverantwortung steht. | |
Wer Mileis cholerischen Charakter kennt, wird schnell ins Zweifeln kommen. | |
Ich bin auch skeptisch, ob ihm der Übergang zu einer moderateren Person | |
gelingen wird. Milei ist ein sehr gläubiger Mensch. Er glaubt fest daran, | |
dass der Markt die Lösung für alles ist und, dass er weiß, wo es lang geht. | |
Wer so fest glaubt und zudem in einer Freund-Feind-Welt lebt, verliert | |
schnell das Moderate, wenn er auf Hindernisse stößt. Ich befürchte, dass er | |
diejenigen, die sich seinen Ideen widersetzen, als Landesverräter | |
beschuldigen wird. | |
Aber er wurde mit Stimmen aus allen politischen Lagern gewählt. Wie konnte | |
das geschehen? | |
Das ist die große Neuigkeit. Die unteren Schichten waren immer | |
peronistisch, egal welche Politik der Peronismus verfolgt hat. Peronist ist | |
man nicht, man fühlt sich als solcher. Aber der Peronismus hat nicht mehr | |
diese starke Anziehungskraft. Zum ersten Mal fühlen sich viele Menschen | |
nicht mehr peronistisch und haben diese große Glaubensgemeinschaft | |
verlassen. Denn da kommt ein Priester wie Milei und sagt in aller Ruhe, | |
‚soziale Gerechtigkeit ist ein Betrug‘. Und er sagt, man solle den Artikel | |
14ff der Verfassung abschaffen, in dem das Recht auf Arbeit, Recht auf | |
Altersversorgung, Mitbestimmungsrecht und das Recht auf Sicherheit am | |
Arbeitsplatz geregelt ist. Selbst in liberalen und konservativen Staaten | |
gibt es ein Plätzchen für solche Garantien. | |
Und das hat es ihm ermöglicht, die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen? | |
Es ist die enorme Verdrehung der Dinge. Im Namen der sozialen Gerechtigkeit | |
wurde eine Politik betrieben, die mit immer mehr Inflation bezahlt werden | |
muss. Die Bilanz der kirchneristischen Regierung ist so schlecht, dass sie | |
einen Milei an die Spitze gebracht hat. Ein konservativer Kolumnist | |
schrieb, ‚Milei wurde aus einer Rippe von Cristina Kirchner erschaffen‘. | |
Tatsache ist, Milei ist kein außerirdisches Phänomen. | |
Tatsache ist auch, dass nach vierzig Jahren Demokratie über 40 Prozent der | |
Bevölkerung verarmt sind. | |
Ich unterscheide zwischen den Armen und Armut. Armut ist ein dauerhafter | |
Zustand, der sich über Generationen hinweg reproduziert. Im Jahr 1983 waren | |
20 Prozent der Bevölkerung arm. Damals haben wir erstmals erkannt, dass es | |
Armut gibt. Das war neu und ein Skandal. Wir hätten nicht gedacht, dass wir | |
wie Mexiko oder Brasilien sein würden. Dazu kam die Aufteilung der | |
Arbeitswelt in einen Sektor der formellen Arbeitenden, vertreten durch die | |
Gewerkschaften, geschützt durch die Sozialversicherung und einen anderen | |
Sektor mit der sogenannten informellen Arbeit, der sich auf Arbeits- oder | |
Lebensbedingungen beschränkte, die wir nicht kannten. | |
Welche Folgen hatte die Teilung? | |
Das Besondere an der Lateinamerikanisierung Argentiniens ist, dass es sich | |
um ‚mobilisierte Arme‘ handelt. Argentinien hat einen phänomenalen | |
Organisationsgrad. In ganz Lateinamerika gibt es nur in Argentinien eine | |
Piquetero-Bewegung mit einer Führungsstruktur. Sie kommt aus der Welt der | |
Gewerkschaften. Wir haben heute Gewerkschaften für organisierte | |
Beschäftigte und, wie ich es nenne, virtuelle Gewerkschaften für | |
nicht-registrierte Beschäftigte. Während die Gewerkschaften mit den | |
Arbeitgebern über die Lohnpolitik diskutieren, setzen sich die | |
Nicht-Registrierten mit der Regierung zusammen und diskutieren über die | |
Sozialpolitik. Die scheidende Regierung hatte für sie ein eigenes | |
Ministerium eingerichtet. Das Sozialministerium ist voll von Chefs der | |
sozialen Bewegungen. | |
Und eines von den acht Ministerien, die Milei abschaffen will. | |
Dies ist eine der größten Herausforderungen für Milei. Er ist sehr sensibel | |
für die Welt der Armen und die kommende Regierung hat sie auf ihrer Agenda. | |
Milei hat schon mehrfach gesagt, dass kein Geld da ist, außer für das | |
Ministerium für Humankapital, das er einrichten will und das sich um die | |
Bedürftigsten kümmern soll. Ihnen soll weiterhin geholfen werden. | |
Argentinien wurde weltweit für seine juristische Aufarbeitung der | |
Menschenrechtsverbrechen der letzten Militärdiktatur gelobt. Die künftige | |
Vizepräsidentin Victoria Villarruel wird von vielen als Verteidigerin eben | |
dieser Militärdiktatur gesehen. Wird es ein Roll-Back geben? | |
Villarruel sagt, dass es damals ein Krieg war. Das ist die Position einer | |
kleinen Minderheit. Dass sie heute eine Diskussion darüber auslösen kann, | |
liegt an der Politisierung der Menschenrechte durch die | |
Kirchner-Regierungen. Néstor Kirchner hatte es geschafft, den größten Teil | |
der Menschenrechtsbewegung einzubinden. Mein Eindruck ist, dass Milei nicht | |
sehr glücklich über seine Vizepräsidentin ist. Er will die Inflation | |
bekämpfen und den Kapitalismus stärken. Eine Diktaturdebatte würde einen | |
riesigen Konflikt lostreten, der in seinen Augen völlig unnötig wäre. | |
10 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jürgen Vogt | |
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