# taz.de -- Haiti-Konzeptalbum von Jowee Omicil: Leuchten aus dem Krokodilwald | |
> Saxofonist Jowee Omicil verneigt sich mit dem Album „Spiritual Healing: | |
> Bwa Kayiman Freedom Suite“ vor der haitianischen Revolution. | |
Bild: Konzentriert: Jowee Omicil ruft haitianische Geschichte spirituell in Eri… | |
Der kanadische Jazz-Musiker Jowee Omicil hat sich in seinem Werk schon | |
immer mit der reichen Musiktradition von Haiti auseinandergesetzt. Mit | |
seinem neuen Album „Spiritual Healing: Bwa Kayiman Freedom Suite“ geht der | |
46-Jährige nun weit zurück in der Geschichte des karibischen Landes. | |
In seinem sechsten Album befasst sich der in Montreal gebürtige Saxofonist, | |
dessen Familie aus Port Au Prince stammt, mit den Anfängen der | |
Haitianischen Revolution um 1800. | |
[1][Diese Rebellion gilt als einer der wenigen erfolgreichen Aufstände von | |
versklavten Schwarzen Menschen, der zu einem freien, unabhängigen Staat | |
unter einer nicht-weißen Regierung geführt hat]. Heute ist die | |
antikoloniale Revolte vor allem mit dem Anführer und Militär Toussaint | |
Louverture verbunden. Ihre Wurzeln liegen jedoch im mythischen Dunkel. | |
## Voodoo-Rituale und Widerstandsstrategien | |
So sollen sich in der Nacht vom 14. August 1791 Schwarze Sklav*innen im | |
Krokodilwald – dem Bois Caȉman – im Norden der Insel versammelt, ein | |
Voodoo-Ritual abgehalten und Strategien des Widerstands besprochen haben. | |
In den folgenden Tagen kam es zu ersten gewaltsamen Erhebungen gegen weiße | |
Plantagenbesitzer*innen, die sich unaufhaltsam immer weiter ausbreiteten. | |
Was genau an diesem Abend passierte, ist nicht gesichert. Überliefert sind | |
die Worte von Anstifter Dutty Boukman, mit denen er seine | |
Anhänger*innen zur Befreiung aufgerufen hat: „Lauscht der Stimme der | |
Freiheit, die in all unseren Herzen singt.“ | |
Diese Stimme der Freiheit ist es auch, die Jowee Omicil mit „Spiritual | |
Healing: Bwa Kayiman Freedom Suite“ nun an einem anderen Ort zu neuem Leben | |
erweckt. Montreal, die Stadt, in der Omicil aufgewachsen ist, hat eine | |
große haitianische Diaspora. Sein Vater arbeitete dort als Priester. | |
## Pop war tabu | |
Musik spielte eine wichtige Rolle im Haushalt, allerdings duldete der | |
alleinerziehende Vater nur religiöse Klänge und französische Chansons. | |
[2][Popmusik aus Haiti] und [3][die mit Karneval und Voodoo verbundenen | |
Rhythmen] waren tabu. Omicil hörte diese Klänge heimlich bei | |
Sportturnieren. Auch die Hits von Michael Jackson und 2Pac begeisterten | |
ihn. | |
Im Alter von 15 Jahren wurde Omicil zur Musikschule geschickt. Da seine | |
beiden Geschwister Orgel und Trompete in der Kirche des Vaters spielten, | |
entschied er sich für das Altsaxofon. Aus einer musikalischen Lehre wurde | |
schnell eine echte Berufung. Omicil übte stundenlang. | |
Bereits drei Jahre später erhielt er ein Stipendium am renommierten | |
Berkeley College of Music in Boston. Er fuchste sich in die Technik von | |
verschiedenen Blasinstrumenten, lernte Free Jazz-Pionier Ornette Coleman in | |
New York kennen und spielte mit [4][verschiedenen Musiker*innen] wie | |
dem Weisen des spirituellen Jazz, Pharoah Sanders, Afrobeat-Drummer Tony | |
Allen und dem ebenfalls aus Haiti stammenden Rapper Wyclef Jean (Fugees). | |
## Musikalische Erdbebenhilfe | |
2009 veröffentlichte Jowee Omicil sein Debütalbum „Roots & Grooves“, dara… | |
findet sich das Stück „4 My People“, das er schließlich den Opfern der | |
Erdbebenkatastrophe von Haiti im darauffolgendem Jahr widmete. In der | |
Netflix-Serie „The Eddy“ (2020) wirkte Omicil mit und freundete sich dabei | |
mit dem Filmmusikkomponisten Randy Kerber an, mit dem er ein Album | |
einspielte. [5][Heute lebt Omicil abwechselnd in Miami und Paris, ebenfalls | |
wichtige Orte der haitianischen Diaspora.] | |
In Paris ist auch das Album „Spiritual Healing: Bwa Kayiman Freedom Suite“ | |
entstanden. Omicil hat die Musik während der Pandemie im Juli 2020 in nur | |
einem Durchgang aufgenommen. Er wird von einem Quintett begleitet, dem | |
neben Freund Kerber noch Keyboarder Jonathan Jurion, die Percussionisten | |
Arnaud Dolmen und Yoann Danier sowie Jendah Manga am Bass angehören. Omicil | |
selbst spielt verschiedene Blasinstrumente von Saxofonen über Klarinetten | |
und Flöten bis zu einem Cornet. | |
Die einstündige, improvisierte Komposition ist gegliedert in 21 Stationen, | |
die nahtlos ineinander übergehen. Los geht es mit einem beschwörenden | |
Gesang von Omicil, langgezogenen Tönen einer Bassklarinette sowie einem | |
sich langsam herausschälenden Rhythmus. „Bashquiat Intro“ heißt diese | |
Einleitung – ein Verweis [6][auf den Schwarzen US-Malerstar der | |
1980er-Jahre, Jean-Michel Basquiat, dessen Vater ebenfalls aus Haiti | |
stammt.] Ein Hornsignal ruft im folgenden „Call to Warzone“ zum Krieg auf, | |
dessen melancholischer Klang jedoch jeder Kampfeslust entgegensteht. | |
## Ohne jedes Pathos | |
Überhaupt stellt sich schnell heraus: Trotz des Bezugs zur Haitianischen | |
Revolution vermeidet Omicil jedes heroische Pathos. Das Spiel seiner | |
Blasinstrumente erinnert eher an einen vielstimmigen Dialog. | |
Mal scheinen die Töne hell zu singen und zu tanzen, dann wiederum zu | |
grübeln und zu fragen, in „Lament 4 Ayiti“ wiederum betet Omicil mit seinem | |
Saxofon wie einst John Coltrane auf seinem Meisterwerk „A Love Supreme“ | |
(1964). „Spiritual Healing: Bwa Kayiman Freedom Suite“ ist das sicherlich | |
ambitionierteste Werk von Jowee Omicil. | |
Es ist Musik, die sich nur durch konzentriertes Hören erfahren lässt. Erst | |
dann offenbart sie ihre volle Wirkung. Wie der Glanz der Sterne, deren | |
Leuchtkraft uns Lichtjahre später als leuchtende Punkte am Nachthimmel | |
erreicht, gelingt es Omicil, die Geschichte der Befreiung von einem fernen | |
Ereignis aus der Vergangenheit in ein musikalisches Glimmen und Pulsieren | |
zu transzendieren. Denn wie Albert Ayler, erdigster aller US-Saxofonisten | |
des Spirituellen Jazz, weiß auch der kanadische Künstler Jowee Omicil: | |
Musik ist die heilende Kraft des Universums. | |
26 Jan 2024 | |
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## AUTOREN | |
Sven Beckstette | |
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