# taz.de -- Bandengewalt in Haiti eskaliert: „Haiti ist vollständig kollabie… | |
> Die USA haben zu lange auf Machtinhaber Henry gesetzt, sagt der | |
> haitianische Menschenrechtler Pierre Espérance. Es brauche einen | |
> Strategiewechsel. | |
Bild: Frauen suchen Schutz vor einer Schießerei zwischen Gangs und Polizei in … | |
Die Internetverbindung nach Haiti ist wackelig. Man wundert sich, dass man | |
überhaupt noch telefonieren kann. Pierre Espérance, der Direktor des | |
haitianischen Menschenrechtswerkes Réseau National de Défense des Droits | |
Humains (RNDDH) sitzt während unseres Gesprächs im Büro der Organisation. | |
Es liegt nicht weit von dem Viertel Delmas in Port-au-Prince entfernt, das | |
seit Monaten zwischen den Gangs umkämpft ist, weil es in unmittelbarer Nähe | |
zum Flughafen gelegen ist. | |
Gegen Espérance und seine Mitarbeiter:innen ausgesprochene | |
Morddrohungen sind Alltag, seit die Organisation detailliert recherchierte, | |
dass der – mittlerweile ermordete – damalige haitianische Präsident Jovenel | |
Moïse im Jahr 2018 ein Massaker an 70 Einwohner:innen im Stadtteil La | |
Saline womöglich direkt bei den Gangs in Auftrag gegeben hatte. Ausführende | |
Kraft bei dem Massenmord war damals Bandenboss Jimmy Chérizier, unter | |
dessen Führung die Gangs nun wiederum offen die Machtfrage gegen die | |
aktuelle Regierung von Interimspremier Ariel Henry stellen. Inzwischen | |
ziehen auch ausländische Vertretungen im Land ihre Leute zurück: Der | |
deutsche Botschafter in Haiti, Vertreter:innen der EU und | |
amerikanisches Botschaftspersonal wurden am Wochenende ausgeflogen. | |
taz: Herr Espérance, wie ist die aktuelle Situation in Haiti? | |
Pierre Espérance: Haiti ist vollständig kollabiert. Seit zehn Tagen sind | |
alle staatlichen Institutionen geschlossen. Es gibt keine Polizei auf den | |
Straßen. Die Polizisten weigern sich Dienst zu tun, weil sie die | |
Polizeiführung kritisieren, die nichts zum Schutz der diensthabenden | |
Polizisten unternimmt. Die haitianische Bevölkerung ist völlig ihrem | |
Schicksal überlassen. Es gibt keine Nahrungsmittel, kein Wasser. Die | |
Menschen können ihre Häuser nicht verlassen, weil die Gangs alles | |
kontrollieren. [1][Der Staat existiert nicht mehr.] Wir befinden uns alle | |
in Gefahr. | |
Die Polizei wurde jahrelang unter anderem von Kanada trainiert und | |
ausgerüstet. Warum ist sie gegenüber den Gangs so machtlos? | |
Die Polizei wäre durchaus in der Lage, die Gangs zurückzudrängen. Aber die | |
Polizisten weigern sich, Befehle ihrer Führung auszuführen. Denn es gibt | |
eine sehr enge Zusammenarbeit zwischen Gangs und Polizeiführung. Zum | |
Beispiel wurden auf Befehl der Banden mehrere gepanzerte Fahrzeuge, die das | |
Nationalgefängnis bewachen sollten, kurz vor dem Angriff der Gangs | |
abgezogen. Es ist anzunehmen, dass den Kriminellen freie Bahn verschafft | |
werden sollte. | |
17 Jahre lang hat die UN-Militärmission Minustah die Gangs in Haiti | |
bekämpft. Damals gab es gerade mal zwei große Gruppen. Jetzt ist die Rede | |
von 200 viel besser ausgerüsteten Gangs. Noch immer hofft man, mit einer | |
multinationalen Truppe, dieses Mal unter Führung Kenias, das Problem in den | |
Griff zu bekommen. Gibt es eine militärische Lösung für die Ganggewalt? | |
Die Debatte verengt sich immer auf diese Frage einer multinationalen | |
Polizeimission. Sie wird als Lösung für Haiti angepriesen. Aber die | |
Probleme sind viel umfassender. Es gibt keine kohärente Politik zwischen | |
den internationalen und nationalen Akteuren, die ökonomische Lage ist von | |
chronischer Instabilität geprägt, es gibt keine politische Infrastruktur, | |
die eine Regierung ermöglichen würde, wir haben keinen Rechtsstaat. Wenn | |
wir diese Probleme nicht lösen, können wir die Ganggewalt nicht | |
einschränken. Die internationalen Akteure, allen voran die USA, haben immer | |
umgekehrt gedacht: Erst schaffen wir mit militärisch-polizeilichen Mitteln | |
Sicherheit, dann überlegen wir politische Maßnahmen. Dabei ist es genau | |
andersherum. Gäbe es einen funktionierenden Rechtsstaat und ein legitimes | |
Parlament, das die Regierung kontrolliert, dann gäbe es auch eine | |
funktionierende Regierungsmacht. | |
Welche Verantwortung trägt die internationale Gemeinschaft, allen voran die | |
USA, an dieser chaotischen Situation? | |
Die [2][USA, aber auch Kanada und andere Länder, tragen eine große | |
Verantwortung für diese Situation]. Sie haben Ariel Henry nach der | |
Ermordung von Jovenel Moïse zum Premierminister ernannt und gegen den | |
Protest der Zivilgesellschaft bis vor wenigen Tagen unverbrüchlich an ihm | |
festgehalten. Auf uns haben sie nicht gehört. Stattdessen unterstützten sie | |
eine Regierung, die nachweisbar in die Ganggewalt verwickelt ist. Die | |
internationale Gemeinschaft hat eine Menge Geld in Haiti und in die | |
Regierung Henrys investiert – und vergeudet. Ihre Politik ist vollkommen | |
gescheitert. | |
Welche Rolle spielt Ariel Henry, der amtierende Ministerpräsident, dem es | |
bislang wegen der anhaltenden Gewaltwelle offenbar unmöglich ist, von einer | |
Auslandsreise in den Präsidentenpalast zurückzukehren? | |
Er ist seit zweieinhalb Jahren Ministerpräsident. Er genoss bis vor Kurzem | |
die volle Unterstützung der USA und der für Haiti verantwortlichen | |
UNO-Vertretung. Er ist aber verantwortlich für den Wahnsinn, der sich | |
gerade in Haiti abspielt. Er hat nichts getan, um Rechtsstaatlichkeit | |
herzustellen und demokratische Reformen einzuführen. Unter ihm ist die | |
Ganggewalt enorm gestiegen. Noch dazu gibt es gibt in Haiti weder ein | |
gewähltes Parlament noch einen Senat. Ich rechne mit seinem baldigen | |
Rücktritt, denn er hat nun keine Unterstützung der USA mehr. | |
Wie könnte sich die Situation in Haiti weiterentwickeln? | |
Gerade melden in Haiti Gangführer wie Chérizier oder Gangster wie Guy | |
Philipp, der jahrelang im US-Gefängnis saß, Machtansprüche an. Sie | |
verkörpern die Gangs und sie wollen mit ihnen an die Macht kommen. Sie | |
klopfen revolutionäre Sprüche – wie Chérizier, der immer Bezug auf die | |
haitianische Revolution nimmt, oder wie Philipp, der sich mit Nelson | |
Mandela und Lula [dem brasilianischen Präsidenten, der 2018/19 nach einem | |
mutmaßlich politisch motivierten Korruptionsprozess in Haft saß; d. Red.] | |
vergleicht. Aber Chérizier ist in ungeheure Verbrechen verwickelt und | |
dieses Gerede soll das vertuschen. Sie träumen von einer neuen Diktatur à | |
la François Duvalier. | |
Knapp 30 Jahre lang etablierten François Duvalier und später dessen Sohn | |
Jean-Claude ab 1957 eine Terrorherrschaft auf Haiti. | |
Die Gangs werden sich damit nicht durchsetzen. Es gibt Bemühungen der | |
karibischen Staatengemeinschaft Caricom, die auch mit Vertretern der | |
Zivilgesellschaft und unabhängigen demokratischen Kräften spricht, eine | |
glaubwürdige Übergangsregierung zu installieren. Welche Chance das haben | |
könnte, ist offen. Wir brauchen die Unterstützung der internationalen | |
Gemeinschaft, insbesondere der USA, für einen wirklich demokratischen | |
Prozess, der die Herrschaft des Rechts herstellt. Das käme allerdings einer | |
völligen Umkehr der US-Politik gleich. | |
11 Mar 2024 | |
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## AUTOREN | |
Katja Maurer | |
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