| # taz.de -- Furchtbarer Umgang mit jüdischem Erbe: Die Spur der Steine | |
| > Auch noch nach 1945 wurden Synagogen zweckentfremdet und das jüdische | |
| > Erbe geschändet. Peter Seiberts herausragendes Buch „Demontage der | |
| > Erinnerung“. | |
| Bild: Der Umgang mit den Relikten jüdischer Kultur war auch nach dem Krieg max… | |
| Die [1][Hamburger Bornplatzsynagoge] sorgte in der letzten Zeit immer | |
| wieder auch überregional für Schlagzeilen. Dabei gibt es sie gar nicht, | |
| doch sie soll wieder aufgebaut werden. Nach Brandstiftung und Schändung | |
| während der Pogromnacht vom 9. November 1938 wurde die damalige jüdische | |
| Gemeinde in Hamburg zum Abriss der Synagoge und zur Übernahme der Kosten | |
| gezwungen. | |
| Noch während des Abrisses konnten Leser des nationalsozialistischen | |
| Hamburger Tageblatts unter einem Foto lesen: „Die Synagoge am Bornplatz | |
| fällt endgültig … Wo heute noch ein paar traurige Trümmerreste stehen, wird | |
| bald ein freundlicher Grünplatz allen Volksgenossen Freude machen.“ | |
| Das Grundstück blieb auch nach 1945 im Besitz der Stadt Hamburg. Das Areal | |
| wurde fortan von der Hamburger Universität genutzt. Und bis in die 1980er | |
| Jahre diente der Platz der ehemaligen Synagoge Studierenden als | |
| kostenfreier, unbefestigter Parkplatz. | |
| An dem auf dem Synagogengelände errichteten Bunker, der während des Kriegs | |
| selbstverständlich nur „Volksgenossen“ zur Verfügung stand, hängt heute | |
| eine Gedenktafel mit dem Text: „Hier stand die Hauptsynagoge der | |
| Deutsch-Israelitischen Gemeinde zu Hamburg, die in der Zeit der | |
| nationalsozialistischen Gewaltherrschaft durch einen Willkürakt [2][am | |
| 9.November 1938] zerstört wurde.“ | |
| Ein Willkürakt, das ist dann doch etwas knapp formuliert. Zum erzwungenen | |
| Zwangsabriss und zur Übertragung auf die Stadt unter den Nazis finden sich | |
| keine genaueren Ausführungen. Auch zur Nachgeschichte und Fremdnutzung des | |
| Geländes nach 1945 nicht. | |
| ## Die Zuschauer johlten | |
| Es sind auch solche unpräzisen Gedenktafeln, die Peter Seibert, | |
| emeritierter Professor für Literatur- und Mediengeschichte, zu seinem Buch | |
| „Demontage der Erinnerung“ provozierten. Einer Publikation, die er bei | |
| aller Detailliebe weniger als „akademisch-wissenschaftliche“ denn als | |
| „politische Arbeit“ ansieht. Seiberts Schrift ist eine dezidierte „Kritik | |
| an der Geringschätzung des jüdischen Kulturerbes in Deutschland von 1945 | |
| bis heute“. | |
| Seibert und viele andere Historiker betrachten die Vorgänge des November | |
| 1938 als „Auftakt für den planmäßig vorangetriebenen Völkermord“. Mit d… | |
| Ermordung von Millionen Jüdinnen und Juden ging, so schreibt Seibert, die | |
| Vernichtung einer Kultur einher, „die seit Jahrhunderten trotz all ihrer | |
| Unterdrückung integraler Bestandteil der deutschen und europäischen Kultur | |
| war“. | |
| Der Autor beschreibt die Taten der aktiv an den Schändungen und | |
| Brandschatzungen beteiligten Akteure, die johlenden Zuschauer, die an | |
| Synagogenzerstörungen in ganz Deutschland teilnahmen. 1.406 zerstörte | |
| Synagogen waren es am Ende. Ein zentraler Begriff seiner Untersuchung | |
| ist für Seibert dabei der auf den Genozid folgende Mnemozid: die | |
| Auslöschung jedweder Erinnerung an das jüdische Leben in Deutschland. Ihn | |
| beschäftigt „die Frage nach dem Selbstverständnis und der historischen | |
| Verantwortung unserer Gesellschaft, in der ich groß geworden bin“. Also die | |
| Nachgeschichte des Pogroms. | |
| Denn nicht alle Synagogen waren den vermeintlich „spontanen Kundgebungen“, | |
| so die nationalsozialistische Propaganda, zum Opfer gefallen. An den 2.200 | |
| Standorten, an denen einst Synagogen oder Betstuben existierten, standen | |
| 1945 – vollständig oder in Teilen – noch 1.200 Bauwerke. Jenseits der | |
| Zweckentfremdung der Synagogen schon während des Nationalsozialismus setzen | |
| in der Nachkriegszeit, so Seibert, in Ost wie West „Abräumarbeiten“ ein, | |
| deren Instrumente Spitzhacke und Abrissbagger waren. | |
| ## Schamlosigkeit der Tätergesellschaft | |
| Unter Berücksichtigung und Würdigung der Regionalforschung, insbesondere zu | |
| Nordhessen, dem Mosel/Saar-Gebiet sowie dem Rheinland, folgt Seibert der | |
| „Spur der Steine“. An vielen Orten zeigt sich eine sich wiederholende | |
| Geschichte der Zerstörung noch erhaltener Synagogen. | |
| Seibert setzt die Schamlosigkeit der „Tätergesellschaft“ im Umgang mit dem | |
| Erbe ihrer jüdischen Opfer in Kontrast zu den vielen errichteten | |
| Kriegerdenkmälern: „Während man den toten Soldaten der Wehrmacht längst ein | |
| ‚ehrendes Andenken‘ in Stein meißelte, zerfiel oder wurde abgerissen, was | |
| an Steinen an die ausgelöschten jüdischen Gemeinden erinnerte.“ | |
| Synagogen wurden von den Nationalsozialisten bereits etwa zum Bau als Lager | |
| für Kriegsgefangene missbraucht. Doch auch in der Nachkriegsgeschichte der | |
| beiden deutschen Staaten sollte sich solche Zweckentfremdung fortsetzen. In | |
| seinem Kapitel „Synagogenrecycling“ listet Seibert auf, wozu Synagogen zu | |
| gebrauchen waren. | |
| Werkstätten, Lagerschuppen, Garagen erscheinen in Seiberts Auflistung als | |
| vergleichsweise „harmlose“ Umnutzung. Ehemalige Synagogen dienten nach 1945 | |
| aber auch als Turnhalle, Möbellager, Tankstelle, Strumpffabrik, Schmiede, | |
| Süßmosterei, Hühnerstall, Sargschreinerei, Café, Spielhalle und Diskothek. | |
| Unter der Zwischenüberschrift „Der Bock wird Gärtner“ weist Seibert nach, | |
| dass während des Pogroms untätige oder an ihm sogar beteiligte Feuerwehren | |
| Synagogen nach 1945 als Feuerwehrhäuser zur Verfügung gestellt bekamen. | |
| Ausführlich schildert Seibert Nachgeschichte wie die der ehemaligen | |
| Bingener Synagoge. Deren intakt gebliebene Gebäudeteile dienten noch 1958 | |
| als Weinlokal mit Musik und Tanz. Das gesellige Beisammensein scheint auch | |
| nicht durch die noch sichtbaren Parolen des Pogroms wie „Juda verrecke“ | |
| beeinträchtigt worden zu sein. Es gab keine Schamgrenze im Umgang mit dem | |
| zerstörten oder geraubten jüdischen Erbe. Synagogen dienten gar als | |
| Metzgereien, Wurstküchen und Verkaufsstätten. | |
| ## Auch die DDR war verantwortungslos | |
| Wer nun glauben sollte, dass diese krude Mischung aus Gedankenlosigkeit und | |
| Geschichtsverdrängung vor allem eine bundesrepublikanische Spezialität | |
| gewesen wäre, dem sei Seiberts Kapitel „Deutsch-demokratische | |
| Verantwortungslosigkeit“ empfohlen. In diesem beschreibt er, wie auch | |
| jenseits des „antifaschistischen Schutzwalls“ in der DDR der gedankenlose | |
| Umgang mit dem jüdischen Kulturerbe, also Abriss, Umnutzung, Umbau, | |
| Verstümmelung und Unkenntlichmachung ehemaliger Synagogen, üblich war. | |
| Seiberts Buch enthält auch einige sehr aussagekräftige Fotodokumente. | |
| Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei das Kapitel „Eine Stadt löscht die | |
| Zeugnisse ihrer jüdischen Geschichte“. Die hierin präsentierte Fotoserie | |
| dokumentiert die Geschichte der Dieburger Synagoge. Sie reicht von der | |
| Errichtung des Neubaus 1929, führt über die Umnutzung nach 1945 als | |
| Möbellager zu der als Kino bis hin zu einer als Supermarkt und schließlich | |
| als Stadtsparkasse. | |
| Der Autor analysiert auch die standardisierte, geschichtsfälschende Diktion | |
| von Gedenktafeln. Sie taugt eher zur Vernebelung der Historie und diente | |
| häufig nach 1945 zu einem Freispruch der Nachkriegsgesellschaften, um sie | |
| von der Hypothek der Beteiligung an den NS-Verbrechen freizusprechen. | |
| Angesichts des deutschen Jahrhundertverbrechens vermisst Seibert einen | |
| sensiblen und respektvollen Umgang mit den Relikten der jüdischen Kultur. | |
| Sein Fazit fällt ernüchternd aus: „Die deutsche Nachkriegsgesellschaft | |
| versagte, bis auf wenige Ausnahmen, diesen Respekt, vielleicht auch, weil | |
| jede ausgebrannte, aber jede stehen gebliebene Synagoge ein Tatort, jede | |
| ungenutzte auf die Verbrechen verweist.“ Sein Buch verdient viele | |
| aufmerksame Leser, gerade da auch in Hamburg über [3][den Wiederaufbau der | |
| Bornplatzsynagoge] gestritten wird. | |
| 22 Jan 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Wilfried Weinke | |
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