# taz.de -- Abkommen mit den Farc-Guerilla: Frieden als Fundament | |
> Die kolumbianische Regierung hatte allen Kämpfer:innen ein Stück Land | |
> versprochen. Doch die Betroffenen müssen sich selbst helfen. | |
Bild: Bald kann Yaquelin Yajure einziehen. Zwei Jahre hat sie an ihrem Haus geb… | |
Dem Haus von Yaquelin Yajure fehlen nur noch die Türen im Inneren, dann | |
kann sie einziehen. Vor dem hellgelben Gebäude steht ein Schuppen mit einem | |
Wassertank obendrauf. Gefliester Sockel, Wellblechdach, einstöckig. 94 | |
Quadratmeter für sie und ihre Familie. Schluss mit dem hellhörigen, | |
[1][stickigen Zimmer aus Gipskartonwänden], in dem sie seit sieben Jahren | |
leben. Ein echtes Haus, um anzukommen im zivilen Leben, im Frieden. | |
Es steht in Tierra Grata, einem Dorf im Norden Kolumbiens, das gerade | |
Geschichte schreibt. Sieben Jahre nach dem Friedensabkommen zwischen | |
Regierung und Farc-Guerilla ziehen hier die ersten ehemaligen | |
Kämpfer:innen in richtige Häuser ein. Gemeinsam haben sie erreicht, was | |
der Staat trotz Versprechen nicht hinbekommen hat: Für jede:n ein Stück | |
Land, um ein Haus zu bauen. | |
Nach mehr als 50 Jahren Krieg schlossen der kolumbianische Staat und die | |
Farc, die größte linke Guerilla des Kontinents, 2016 ein historisches | |
Friedensabkommen. Rund 13.000 Männer und Frauen legten die Waffen nieder. | |
Die meisten der Guerilleros und Guerilleras stammen aus kleinbäuerlichen | |
Familien. | |
Für den Übergang ins zivile Leben schuf der Staat im ländlichen Nirgendwo | |
24 Wiedereingliederungszonen, „Espacios Territoriales de Capacitación y | |
Reincorporación“. Unter besonderem Schutz sollten die ehemaligen | |
Kämpfer:innen dort ihren Schulabschluss und eine Ausbildung machen, | |
Arbeit finden und behutsam Kontakte zur Zivilbevölkerung knüpfen. Aus der | |
kommunistischen Utopie des Guerilla-Lebens in den kapitalistischen Alltag | |
des [2][ungleichen Kolumbiens]. | |
## Großteil des Friedensabkommens bis heute nicht erfüllt | |
Der kolumbianische Staat stellte den Farc-Demobilisierten provisorische | |
Gemeinschaftsunterkünfte für den Übergang, zahlte eine minimale Grundrente | |
und Anschubfinanzierung für die Gemeinschaftsprojekte. Nach einiger Zeit | |
sollten die Wiedereingliederungsorte zu echten Dörfern werden, so die Idee. | |
Doch 2018 wurde dann der Rechte Iván Duque Präsident. Der Gegner des | |
Friedensabkommens hatte [3][keinerlei Interesse an der Wiedereingliederung] | |
und [4][missbrauchte sogar Gelder aus dem Friedensfonds] zur Imagepflege. | |
So hat der Staat einen Großteil des Friedensabkommens [5][bis heute nicht | |
erfüllt]. Fast alle Demobilisierten haben sich hingegen an ihr | |
Friedensversprechen gehalten. Viele von ihnen wohnen heute nicht mehr in | |
den ursprünglichen Wiedereingliederungszonen, sie zogen zu Verwandten. | |
Manche Siedlungen wurden aufgelöst, teils auf Druck bewaffneter Gruppen. | |
Über 400 Demobilisierte [6][wurden seit 2016 ermordet]. Die Gegend um | |
Tierra Grata gilt allerdings als sicher, bisher wurde nur ein einziger | |
Demobilisierter von hier getötet – als er seine Familie in einer anderen | |
Gegend besuchte. Yajure sagt, dass sich ihr Alltag viel ruhiger anfühle, | |
seitdem sie nicht mehr im Dschungel ist. | |
Yaquelin Yajure benutzt ihren Kriegsnamen bis heute. Sie ist 39, schlank, | |
immer in Bewegung. Yajure stammt aus der indigenen Ethnie der Barí, die in | |
den Bergen der Serranía de los Motilones an der Grenze zu Venezuela lebt. | |
Der Krieg war Teil ihrer Kindheit, die Farc bestimmte den Alltag in ihrer | |
Region. Ihre Eltern waren arme Bauern. Sie konnte nicht zur Schule, mit 14 | |
ging sie zur Guerilla. | |
## Von der einfachen Guerilla zur Führungspersönlichkeit | |
Hinter der kollektiven Entscheidung zum Friedensabkommen steht sie bis | |
heute. „Ich kämpfe immer noch für Gerechtigkeit und Veränderung.“ Ohne | |
Gewehr, dafür mit Vernetzung: Sie brachte etwa Demobilisierte und Menschen | |
aus dem Nachbardorf zusammen, um gemeinsam eine Trinkwasserleitung zu | |
bauen. Von der einfachen Guerilla ist sie zur Führungspersönlichkeit | |
geworden und heute die rechtliche Vertreterin der Kooperative, die | |
Demobilisierte gegründet haben, um zusammen ihren Traum vom eigenen Haus | |
umzusetzen. | |
Denn dass sie auf den Staat und sein Versprechen auf Land nicht zählen | |
konnten, das war schnell abzusehen. Ein Bauer aus der Region verkaufte | |
ihnen ein Stück Land. Ciudadela de Paz Bertulfo Alvarez heißt die neue | |
Friedenssiedlung. Sie liegt direkt neben der alten Barackensiedlung, also | |
weiter in der Gegend, wo sie sieben Jahre lang Fuß gefasst haben. | |
Was hier entsteht, ist einzigartig, sagt Architekt Carlos Duica. Er ist | |
spezialisiert auf nachhaltiges Bauen und gemeinschaftliche Architektur. Bis | |
vor Kurzem entwarf er für den Nationalen Wiedereingliederungsrat Wohnraum | |
für Unterzeichner:innen des Friedensabkommens. Den Prozess in Tierra | |
Grata hat der 68-Jährige zusammen mit mehreren regionalen Universitäten | |
begleitet. Bis heute beeindruckt ihn der Zusammenhalt in der Gemeinschaft. | |
## 150 Häuser sollen entstehen | |
In der Guerilla gab es keinen Privatbesitz. Yajure trug ihr Gewehr in der | |
Hand, die Ausrüstung auf dem Rücken: eine Decke, Teller, Löffel, etwas | |
Kleidung. Im Dschungel war sie ständig in Bewegung, verbrachte jede Nacht | |
an einem anderen Ort. „In den Bergen schläft es sich so gut. Du hörst den | |
Fluss, die Vögel.“ 2016 kam sie mit ihrer Einheit in Tierra Grata an – und | |
hörte auf einmal jeden Mucks der Nachbar:innen. | |
Sieben Jahre später steht sie vor ihrem ersten eigenen Haus. „Ist es nicht | |
schön?“. In Kübeln wachsen ihre geliebten Pflanzen, an der | |
Grundstücksgrenze hat sie Obstbäume gepflanzt: Mango, Orange, Kochbanane, | |
Pflaume. Alle Bewohner:innen wollten auf ihrem Grundstück einen | |
Gemüsegarten, um sich und ihre Familie zu versorgen. Dazu am Haus eine | |
Veranda, ein klassisches Element in der Karibikregion. | |
Alle Parzellen sind gleich groß. Von den 500 Quadratmetern entfallen 94 auf | |
das Haus – der Rest ist Garten. Jede:r Demobilisierte, egal ob Mann oder | |
Frau, hat eine Parzelle. Das gibt den Frauen Sicherheit und Unabhängigkeit. | |
Sollten sie sich von ihrem Partner trennen, haben sie immer noch ihr | |
eigenes Stück Land oder gar Haus. 150 Häuser sollen es werden. 80 stehen | |
schon, in 20 sind die Bewohner:innen eingezogen. Gleiches Format, | |
unterschiedlicher Anstrich. Der Nachbar baggert gerade das Loch für seine | |
Klärgrube. Hinter den Häusern das Bergpanorama. Am Horizont die | |
schneebedeckten Gipfel der Sierra Nevada an der Karibikküste. Und ganz nah | |
die Berge der Serranía de Perijá, ein Vogelparadies. Dahinter liegt | |
Venezuela. | |
## Schnell zu den traditionellen Geschlechterrollen | |
Yajures Haus hat drei Zimmer: das Elternschlafzimmer und zwei Kinderzimmer, | |
dazu Wohnküche und zwei Badezimmer. „Wir haben die Menschen nicht gefragt, | |
wie sie sich ihr Haus vorstellen – sondern was sie darin machen“, sagt | |
Architekt Carlos Duica. Daraus haben sie zwei Grundrisse entwickelt. Frauen | |
haben den Prozess geprägt. „Das Zuhause ist weiblich. Der Mann verbringt | |
dort die Nacht und ist dann weg“, sagt Duica. Nach dem Ende des | |
gleichberechtigten Guerilla-Lebens haben sich schnell die traditionellen | |
Geschlechterrollen etabliert. Bei der Planung hätten sie darauf beharrt, | |
die Küche rancho zu nennen und nicht cocina. Rancho hieß die Kochstelle im | |
Guerilla-Camp, in der Männer wie Frauen Küchendienst schoben. | |
Die Häuser sollten an das karibische Klima angepasst sein, erdbebensicher, | |
nachhaltig und so simpel, dass die Bewohner:innen es selbst bauen und | |
sogar das Material dafür herstellen können. Die Grundlage sind gepresste, | |
stabilisierte Lehmziegel, die sich legoartig ineinander stecken lassen. | |
Stabilisiert, weil sie einen minimalen Zementanteil in der Mischung haben. | |
Der Rest stammt, zumindest theoretisch, aus lokalem Baumaterial – zum | |
Beispiel aus dem Aushub fürs Fundament. Die Ziegel sind hohl, zum Verputzen | |
ist weniger Mörtel nötig. Klimaneutrales Baumaterial, sagt Duica. | |
Die Presse für ihre Herstellung wurde schon in den 1950er Jahren in Bogotá | |
entwickelt, später kam die Technik auch in anderen Ländern im globalen | |
Süden zum Einsatz. Durch die Produktion vor Ort sollten Arbeitsplätze | |
entstehen, die EU finanzierte unter anderem die Schreinerei und Ziegelei in | |
Tierra Grata. Doch stellte sich die Sache mit den Ziegeln als schwieriger | |
als gedacht heraus: Der Aushub fürs Fundament ergab nicht genug Erde für | |
die Mischung. Einige Demobilisierte heuerten Baufirmen an, aus Zeitgründen. | |
Diese überzeugten sie, mit Zementziegeln zu bauen. Das verschlechtert | |
Klimabilanz und Raumklima, ist für die Firmen aber billiger. | |
## Keine Elternschaft in der Guerilla | |
Auch Yajure hat ihre Blöcke gekauft. Geschmackssache, sagt sie. Vor zwei | |
Jahren hat sie zusammen mit zwei Arbeitern mit dem Bau begonnen. 40 | |
Millionen Pesos hat sie investiert, rund 9.300 Euro. Sie erhält eine | |
monatliche Grundrente in Höhe von 90 Prozent des Mindestlohns, aktuell rund | |
270 Euro. | |
Von ursprünglich 162 Demobilisierten hat sich die Bevölkerung in der | |
Siedlung auf 310 Menschen verdoppelt. Die Jugend stand im Zentrum aller | |
Planungen, weder Kirche noch Polizeistation wird es geben. Bevor die ersten | |
Häuser standen, war der Kinderspielplatz fertig. Das erste vollendete | |
Gemeinschaftsgebäude ist eine Schule. „Wir wollen, dass unsere Kinder in | |
einem besseren Umfeld aufwachsen, als wir es hatten“, sagt Yaquelin Yajure. | |
Mittlerweile leben etwa 100 Kinder in Tierra Grata. Viele wurden hier | |
geboren. | |
Yajure ist seit 26 Jahren mit Octavio zusammen, sie haben drei Kinder. | |
Yakana, ihre Älteste, brachte sie im Dschungel zur Welt. Nach der Geburt | |
musste sie ihr Baby einem Verwandten übergeben, Elternschaft war in der | |
Guerilla verboten. „Die Trennung war für mich voller Schmerz und Sehnsucht. | |
Aber ich musste es tun, damit sie lebt.“ Als sie vor sieben Jahren nach | |
Tierra Grata kam, holte sie Yakana zu sich, heute ist sie 14. „Ich kam | |
gerade noch rechtzeitig, um meine Tochter aufwachsen zu sehen, die | |
verlorene Zeit aufzuholen. Mein Leben hat sich gewaltig verbessert.“ Im | |
zivilen Leben bekam sie zwei weitere Kinder. | |
„Das Haus ist ein gigantischer Schritt. Jetzt weiß ich, dass meine Kinder | |
eine Zukunft haben.“ Das Haus gibt Sicherheit und Stabilität. Freude liegt | |
in Yajures Stimme. | |
20 Jan 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Friedensabkommen-in-Kolumbien/!5520321 | |
[2] https://worldpopulationreview.com/country-rankings/gini-coefficient-by-coun… | |
[3] https://verdadabierta.com/duque-el-presidente-que-saboteo-la-ilusion-de-la-… | |
[4] https://www.eltiempo.com/politica/congreso/por-que-usaron-dineros-del-fondo… | |
[5] https://kroc.nd.edu/news-events/news/kroc-institute-releases-seventh-report… | |
[6] /Farc-Fuehrer-Manuel-Marulanda/!5181616 | |
## AUTOREN | |
Katharina Wojczenko | |
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