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# taz.de -- Regisseur über holländische Kämpferin: „Sie wurde von der Farc…
> Regisseur Marcel Mettelsiefen über seine Recherchen zu Tanja Nijmeijer.
> Sein neuer Dokumentarfilm porträtiert die niederländische Farc-Kämpferin.
Bild: Tanja Nijmeijer schloss sich als Studentin der Farc an
[1][Als Filmemacher und Journalist berichtet Marcel Mettelsiefen aus
Krisengebieten auf der ganzen Welt]. In seinem neuen Dokumentarfilm widmet
er sich der Holländerin Tanja Nijmeijer, die im Jahr 2000 beschloss, sich
der kolumbianischen Guerilla Farc anzuschließen. Doch was motivierte die
Studentin, die zu einem Aushängeschild der Organisation werden sollte?
„Tanja – Tagebuch einer Guerillera“ erzählt die Geschichte einer Frau und
die einer Gesellschaft, die vor einem radikalen Neuanfang stehen.
taz: Herr Mettelsiefen, Sie haben mehrere Jahre an Ihrem Film über die
Holländerin Tanja Nijmeijer gearbeitet, deren Werdegang bis heute Rätsel
aufgibt. In der Öffentlichkeit kursierten zunächst Bilder, die sie als
hoffnungslos naiv darstellten, der Boulevard zeichnete sie bisweilen als
kaltblütige Terroristin. Wer ist die Frau, der Sie in Ihren Recherchen
begegneten?
Marcel Mettelsiefen: Tanja Nijmeijer ist eine Frau, die stets auf der Suche
war und es heute nach wie vor ist. Es ging ihr immer darum, ein politisch
würdevolles Leben führen. Dabei hat sie auf sehr harte Weise lernen müssen,
dass bestimmte Entscheidungen im Leben schwere Konsequenzen nach sich
ziehen.
[2][Nijmeijer kommt zunächst als junge, idealistische Studentin nach
Kolumbien] und engagiert sich politisch im Kampf für Gerechtigkeit und
gegen die Ausbeutung. Schließlich schließt sie sich der radikalen
Guerilla-Organisation Farc und deren gewalttätigem Kurs an. Wie wurde aus
der sozial Engagierten eine per internationalem Haftbefehl Gesuchte?
Es gibt in Lateinamerika, besonders in Kolumbien, Grund genug, sich mit den
politischen Umständen unzufrieden zu zeigen. Es gibt eine große soziale
Ungerechtigkeit. Meine eigene Mutter ist Lateinamerikanerin. Ich kann daher
sehr gut nachvollziehen, was eine 20-Jährige, die in dieses Land kommt,
denkt, und dass sie möchte, dass sich etwas verändert. Angesichts der
grotesken sozialen Ungerechtigkeit überlegte Tanja Nijmeijer sich: Wie kann
ich aktiv werden? Schließlich lernte sie dort eine junge Frau kennen, die
ihr erklärte, dass die Lösung für die Ungerechtigkeit der bewaffnete
Aufstand ist. Ich würde aber sagen, verschiedene Gründe führten dazu, dass
sie allmählich einen Point of no Return überschritt.
Ihr Film schildert die politischen Hintergründe, die zur Entstehung der
sozialrevolutionären Farc führten. Sind die einstigen
Bürgerkriegsereignisse die Ursache für immer neue Gewalt?
Kolumbien ist ein Land, das in den letzten vierzig Jahren – und auch davor
– enorme Gewalt durchlitten hat. Es gibt viele offene Wunden. Fast jeder in
der Bevölkerung hat schreckliche Geschichten zu erzählen, von Verwandten,
die entführt wurden und nie mehr zurückgekehrt sind, sowie vom Bürgerkrieg.
Heute versucht sich Kolumbien zu rekonstruieren und zu versöhnen, dabei
brechen jedoch neue Gräben auf. Der Film erzählt von Tanja Nijmeijer, die
auf ihrem Lebensweg versucht, Frieden mit sich selbst zu schließen, so wie
auch das Land.
Der Film beschönigt das Vorgehen der Farc nicht. Wir erleben, wie die
Gruppe Anschläge verübt, die viele Menschenleben kosten. In welcher Rolle
wurde Tanja Nijmeijer aktiv?
Sie hatte als weiße Europäerin die perfekte Tarnung, die sie für die Farc
wertvoll machte – niemand würde auf die Idee kommen, dass sie sich an
illegalen Maßnahmen beteiligt. Gemeinsam mit anderen plante sie kleinere
Aktionen. Sie war eine Kraft in der zweiten oder dritten Reihe der
Organisation. Brenzlig wurde es für sie, als die Farc 2003 in Bogotá einen
Anschlag auf den Nachtclub Nogal beging. Da die Behörden begannen, jeden
Stein nach den Beteiligten umzudrehen, stand Nijmeijer plötzlich vor der
Entscheidung: Kehre ich zurück in meine Heimat oder gehe ich mit den
anderen in den Dschungel und den Untergrund?
Ein ungeheurer Schritt. Der Film ist auch eine Art Psychogramm einer
Person, die bereit ist, sich bis zur Selbstaufgabe in den Dienst einer
Sache zu stellen. Konnten Sie Nijmeijers Motivation im Laufe Ihrer
Filmarbeiten besser nachvollziehen?
Ich glaube schon. Wenn man wie Tanja Nijmeijer ein Gespür für soziale
Ungerechtigkeit besitzt, gibt es die verschiedensten Handlungsoptionen. Man
muss natürlich nicht gleich zur Waffe greifen. Es stellt sich aber die
Frage, ab welchem Punkt es notwendig wird, Widerstand zu leisten. Das ist
ein schwieriger, schmaler Grat, den man nur im Einzelfall entscheiden kann.
Für die einen war Nijmeijer eine Kämpferin, für die anderen eine
Terroristin. Wer aber entscheidet das? Der Film handelt viel von dieser
Außensicht und wie Tanja gesehen wurde. Sie hat das in ihrem Tagebuch, das
gefunden und veröffentlicht wurde, reflektiert. Darin stellt sie auch die
Frage: Darf ich mich da hineinziehen lassen? Und hat das alles überhaupt
einen Sinn?
Tanja Nijmeijer räumt ihre Beteiligung an einigen Taten der Farc ein,
andere – wie die Beteiligung an Attentaten, bei denen es Tote gab –
streitet sie ab. Wie glaubhaft finden Sie ihre Ausführungen?
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das Bild einer Person zu zeichnen. Als
Filmemacher verstehe ich mich nicht als Tanja Nijmeijers Richter. Meine
Arbeit ist keine polizeiliche Ermittlung. Mit dieser Vorstellung ließe sich
keine gemeinsame Arbeit an einem Film leisten. Gleichzeitig wollte ich ihr
auch nicht die Möglichkeit bieten, sich reinzuwaschen. In meinen Interviews
habe ich Fragen gestellt, und sie hat geantwortet. Sie war aber auch sehr
skeptisch mir gegenüber und hatte große Vorbehalte.
Was sicherlich auch mit der medialen Darstellung ihrer Person zu hat.
Um Tanja Nijmeijer ist eine Art Mythos entstanden, befeuert durch die
Yellow Press. Der des gutaussehenden Mädchens im Dschungel, das zur
Terroristin wurde. Sie ist bis heute von diesen Erfahrungen gezeichnet.
Übrigens auch ihre Eltern, die hoch traumatisiert sind.
Welche Rolle nahm Nijmeijer während der Friedensverhandlungen der Farc mit
der kolumbianischen Regierung ein?
Sie wurde von der Farc als Aushängeschild benutzt. [3][Sie leitete fast
jede Pressekonferenz in dieser Zeit und wurde zur Sprecherin der
Organisation]. Im Konferenzhotel in Havanna präsentierte sie täglich ihre
Positionen und die der Farc. Bei Themen wie Amnestie und Bodenverteilung
saß sie mit am Verhandlungstisch. Hier lernte sie auch die bürokratische
Seite der Farc kennen, einer sozialistischen Vereinigung, die stur
Parteilinien befolgt. Das stand in einem Widerspruch zu Nijmeijers
eigensinnigem Charakter.
Die großen Hoffnungen, die viele in Kolumbien in den Friedensprozess
gesetzt hatten, haben sich nicht erfüllt.
Die Friedensverhandlungen wurden unterschrieben. Im Anschluss gab es einen
Regierungswechsel, der eine Mitte-rechts-Regierung unter Präsident Duque an
die Macht brachte. Viele Beschlüsse der Verhandlungen wurden damals
gestoppt oder verlangsamt. [4][Duques Amtszeit waren vier verlorene Jahre
für Kolumbien]. Die Resozialisierung vieler ehemaliger Farc-Kämpfer ist
gescheitert. Es gibt heute neue Verteilungskämpfe und leider auch neue
bewaffnete Gruppen im Land. Wie etwa den kolumbianischen Ableger des
mexikanischen Drogenkartells. Das liegt auch an der Unfähigkeit der
aktuellen kolumbianischen Regierung, für die Ärmsten im Land Sorge zu
tragen.
Wie sieht Tanja Nijmeijer sich selbst heute? An welchem Punkt steht sie
nach den Friedensverhandlungen der Farc mit der kolumbianischen Regierung
zu einem Zeitpunkt, an dem neue Konflikte das Land heimsuchen?
Sie ist dabei, ihre Vergangenheit und ihre Zeit im Dschungel bei der Farc
aufzuarbeiten. Gerade studiert sie Friedens- und Konfliktforschung und
plant einen Master zu machen. Sie muss sich zurechtfinden in einer
modernen, globalisierten kolumbianischen Gesellschaft, in der sie
zweifelsohne stigmatisiert ist. Der Film handelt auch von einem emotionalen
Kater, einem schwarzen Loch, das kommt, wenn man so viel auf eine Karte
gesetzt und verloren hat. Und davon, sich in dem Moment neu erfinden zu
müssen.
15 Jun 2023
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## AUTOREN
Chris Schinke
## TAGS
Film
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