# taz.de -- Doku über Künstlerin Nan Goldin im Kino: Allein gegen den Opiumri… | |
> Regisseurin Laura Poitras erzählt gerne David-gegen-Goliath-Geschichten. | |
> „All the Beauty and the Bloodshed“ über Künstlerin Nan Goldin ist so | |
> eine. | |
Bild: Nan Goldin in einem ihrer Selbstporträts | |
Was haben Edward Snowden, Julian Assange und Nan Goldin und der Bodyguard | |
von Osama bin Laden gemeinsam? Alle vier waren Subjekt eines | |
Dokumentarfilms von Laura Poitras und zumindest die ersten drei sind ideale | |
Subjekte, um klassische David-gegen-Goliath-Geschichten zu erzählen. | |
Was sie wiederum zu idealen Subjekten macht für Dokumentarfilme, die | |
ideologisch auf der „richtigen“ Seite stehen. Und das ist bei der Bewertung | |
eines Dokumentarfilms durch Öffentlichkeit, Kritik und Jurys traditionell | |
wichtiger als ästhetische Komponenten, eine Tendenz, die sich in diesen, | |
von ideologischen Grundsatzdiskussionen geprägten Zeiten, allerdings auch | |
zunehmend im Bereich des Spielfilms zeigen. | |
Die aus Boston stammende Laura Poitras dreht seit einem knappen | |
Vierteljahrhundert Dokumentarfilme und ist eine der am meisten | |
ausgezeichneten Filmemacherinnen auf ihrem Gebiet. | |
Für ihren bekanntesten [1][Film „Citizenfour“, eine minutiöse Nachzeichnu… | |
der Enthüllungen Edward Snowdens], erhielt sie 2015 den Oscar für den | |
Besten Dokumentarfilm, und für ihr jüngstes Werk, [2][„All the Beauty and | |
the Bloodshed“, wurde sie beim Filmfestival in Venedig mit dem Goldenen | |
Löwen ausgezeichnet]. Und das trotz Konkurrenz durch hochkarätige | |
[3][Spielfilme wie „Tár“], [4][„Saint Omer“], [5][„The Whale“] ode… | |
Eternal Daughter.“ | |
## Immer mehr Dokus in Filmfestival-Wettbewerben | |
Dass Dokumentarfilme überhaupt im Wettbewerb eines der großen Festivals | |
gezeigt werden, ist eine Seltenheit, dass sie dabei den Hauptpreis | |
gewinnen, eine Rarität. Die sich in den letzten Jahren allerdings zunehmend | |
häuft. | |
Gerade die Berlinale kann sich hier ausnahmsweise als Vorreiter bezeichnen | |
lassen, [6][2016 gewann Gianfranco Rosis „Seefeuer“], der die | |
Flüchtlingskrise auf Lampedusa in poetische Bilder fasste, den Goldenen | |
Bären, in diesem Jahr [7][Nicolas Philiberts „Sur l’Adamant“], das Portr… | |
einer Pariser Tagesklinik zur Betreuung von Menschen mit psychischen | |
Erkrankungen. | |
Einem gesellschaftlich ebenso relevanten Thema widmet sich Laura Poitras in | |
„All the Beauty and the Bloodshed“: der besonders in den USA grassierenden | |
Opiumkrise, die inzwischen knapp eine Million Todesopfer gefordert hat. | |
Ebenfalls also, wie man so schön sagt: „ein heißes Eisen“, ein Thema, bei | |
dem es leicht fällt, eine dezidierte Haltung einzunehmen, das zur Empörung | |
einlädt, bei der die Rollen von Gut und Böse klar verteilt sind. | |
Nun ist Laura Poitras eine zu gute Regisseurin, als dass sie es sich so | |
leicht machen wurde. Aufbrausendes Agitationskino ist „All the Beauty and | |
the Bloodshed“ nicht, stattdessen eine Dokumentation, die sich in zwei | |
Erzählsträngen entwickelt, die nicht immer ganz zwingend zusammenfinden. | |
Das Bindeglied der beiden Stränge ist die Foto-Künstlerin Nan Goldin. Zwar | |
stellt die 1953 geborene Goldin seit Jahrzehnten aus, lange Zeit aber | |
abseits der großen Museen. | |
## Scharnier zwischen Kunst und Opiumkrise | |
Denn Goldins Arbeiten zeigen meist Menschen aus den Subkulturen von | |
Metropolen wie New York, Bangkok oder Berlin, stellen mit größter Sym- und | |
Empathie Menschen von den Rändern der Gesellschaft in den Mittelpunkt, | |
geben den Außenseitern und Marginalisierten eine Stimme, lange bevor diese | |
Haltung im Mainstream ankam. | |
Inzwischen hat dieser Mainstream Goldin für sich entdeckt und überschüttet | |
sie mit Auszeichnungen und Werkschauen, jüngst erst ging in Berlin eine | |
Ausstellung anlässlich des von der altehrwürdigen und nicht unbedingt | |
progressiven Akademie der Künste verliehenen Käthe-Kollwitz-Preises zu | |
Ende. | |
Eine Folge der Akzeptanz Nan Goldins durch den konventionellen Kunstmarkt | |
war, dass ihre Arbeiten Eingang in die Sammlungen der großen Museen der USA | |
fanden, etwa den New Yorker Großinstitutionen Guggenheim Museum und | |
Metropolitan Museum of Art. | |
Und hier beginnt das Scharnier von Poitras Film, das Scharnier, das Kunst | |
und Opiumkrise zusammenbringt, das Nan Goldin und die Sackler-Familie als | |
Antagonisten möglich macht. Um die Verbindung auf den Punkt zu bringen: | |
[8][Goldin war von Opiaten abhängig und die Sackler-Familie quasi ihr | |
Dealer]: Der Pharma-Konzern Purdue gehörte der Familie und Purdue war | |
Hersteller des Opiats OxyContin. Dieses war beileibe nicht das einzige | |
Schmerzmittel, dass die Opiumkrise verursachte, aber das bekannteste, das | |
1996 patentiert und in den folgenden Jahren aggressiv beworben wurde. | |
## Schmerzfrei, dafür abhängig | |
Im Einklang mit dem zunehmenden Wunsch, Patienten ein absolut schmerzfreies | |
Leben zu ermöglichen und der Zunahme von chronischen Schmerzen einer sich | |
immer schlechter ernährenden und gleichzeitig sitzenden Tätigkeiten | |
nachgehenden Gesellschaft schufen einen perfekten Vorstoß. In dessen Folge | |
wurden Millionen Amerikaner abhängig von Schmerzmitteln, viele Ärzte reich | |
und die Sackler-Familie steinreich. | |
Und wie sich das in einem Land, wo das „zurückgeben an die Gesellschaft“ | |
zum guten Ton gehört, ebenso schickt, sponserten die Sacklers mit ihren | |
Millionen Museen, Ausstellungen sowie Sammlungsankäufe. In gewisser Weise | |
litt Nan Goldin also an den Sacklers, profitierte aber auch von ihnen, denn | |
auch das Guggenheim oder das Met gehörten zu den Empfängern der, nennen wir | |
es mal, Opium-Millionen. | |
Dass sich nun ausgerechnet Nan Goldin zur Vorkämpferin einer in den USA | |
sehr lautstarken Bewegung machte, entbehrt nicht einer gewissen Ironie und | |
macht ihre Geschichte zur perfekten David-gegen-Goliath-Geschichte. | |
Denn am Ende der Proteste der Aktivisten, die in den heiligen Hallen der | |
großen Kunstmuseum aufsehenerregende Demonstrationen initiierten, stand ein | |
kaum für möglich gehaltener Erfolg: Purdue meldete Konkurs an und erklärte | |
sich zur Zahlung von Milliarden an Schadenersatz bereit. | |
Laura Poitras zeigt diese Graswurzelbewegung bei Versammlungen, | |
Diskussionen und Demonstrationen und kontrastiert dieses große Ganze mit | |
intimen Momenten, in denen Nan Goldin von den einschneidenden Ereignissen | |
ihrer Biografie berichtet. | |
## Künstlerinnenporträt und Dokument einer sozialen Bewegung | |
[9][Besonders der Suizid] ihrer älteren Schwester hinterließ Spuren bei der | |
damals elfjährigen Goldin, ebenso der Eindruck, dass über bestimmte Dinge | |
nicht geredet werden sollte. Im Fall ihrer Schwester psychische Probleme, | |
in Goldins Fall ihre spätere Schmerzmittelsucht, die sie lange verschwieg, | |
so wie die Folgen der Opiumkrise lange verschwiegen wurden. | |
Doch diese Zeit ist längst vorbei, in der amerikanischen Öffentlichkeit | |
werden die Folgen der Krise breit diskutiert: Der für den New Yorker | |
arbeitende Journalist Patrick Radden Keefe zeichnete in seinem 2021 | |
erschienenen „Empire of Pain“ die Machenschaften der Pharma-Konzerne | |
minutiös nach und kommt auch in Poitras’ Film zu Wort. Ebenso in Filmen und | |
Serien gibt es längst Spuren der Opiumkrise. | |
Nun also „All the Beauty and the Bloodshed“, ein souverän inszenierter | |
Dokumentarfilm, zum Teil Künstlerinnenporträt, zum anderen Dokument einer | |
sozialen Bewegung, die zeigt, wie erfolgreich Proteste von unten sein | |
können – zumindest manchmal, zumindest im Ansatz. | |
Denn auch wenn Purdue Pharma Konkurs angemeldet hat, andere Unternehmen | |
verdienen immer noch mehr als gut an Opiaten, zumal die missbräuchliche | |
Verwendung der Medikamente ungebrochen ist. Und auch wenn manche Räume in | |
Museen, die von der Sackler-Familie gesponsert waren, nun umbenannt sind: | |
Das Problem der Verflechtung von Wirtschaftsinteressen und Kunst-Sponsoring | |
bleibt bestehen. | |
Und auch die Frage, ob Dokumentar- und Spielfilme in erster Linie nach | |
ihrer ideologischen Richtung bewertet werden sollten, ob es reicht, die | |
„richtige“ Haltung einzunehmen, oder ob es nicht wünschenswert wäre, dass | |
mehr Augenmerk auf ästhetische Kriterien gelegt würde, bleibt zu | |
beantworten. | |
24 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Michael Meyns | |
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