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# taz.de -- Alice Diops Film „Saint Omer“: Fragen zu einer unbegreiflichen …
> Alice Diops „Saint Omer“ ist Frankreichs erster Film einer Schwarzen
> Frau, der für einen Oscar vorgeschlagen wurde. Er geht dem Fall eines
> Kindsmords nach.
Bild: Die Prozessbeobachterin Rama (Kayije Kagame) und die Mutter der Angeklagt…
Den Filmen von Alice Diop ist ein eigenwilliges Phänomen zu eigen: Trotz
ihrer Klarheit erscheint es oft schwer, sie zu greifen. Eine Tendenz, die
sich mit dem Voranschreiten ihrer Karriere verschärft und die zugleich mit
einem immer größeren Erfolg ihrer Werke korreliert.
Konnte [1][„Nous“ 2021 zwei wichtige Preise während der Berlinale gewinnen
– den besten Beitrag der Sektion „Encounters“ und den Dokumentarfilmpreis]
–, steht [2][„Saint Omer“, ihr erster Spielfilm, aktuell auf der
Oscar-Shortlist für den besten internationalen Film. Zuvor wurde er schon
in Venedig mit Auszeichnungen bedacht].
„Saint Omer“ handelt von einer „Phantomfrau“: Laurence Coly (Guslagie
Malanda), die sich vor Gericht für den Mord an ihrer 15 Monate alten
Tochter verantworten muss. Sie sei mit dem Kind ans Meer gereist, habe die
Flut abgewartet und das Baby anschließend seinem Schicksal überlassen, so
der Vorwurf.
Die Faktenlage: Am Strand wurde der Leichnam eines Kindes aufgefunden;
Sicherheitskameras dokumentierten die An- und Abreise Colys – einmal mit
vollem, dann mit leerem Kinderwagen. Coly ist sofort geständig. Und wie
Alice Diop jene Frau inszeniert, deren ganzer Körper eine Gefasstheit
ausstrahlt, die gleichzeitig trotzig, hilflos und stolz anmutet, geht unter
die Haut.
Die erste Begegnung mit Coly beziehungsweise Kabou war für Diop derweil
eine dokumentarische. Das Bild von Fabienne Kabou mit ihrer Tochter, die
Aufnahme einer Überwachungskamera, geisterte durch die Medien. Diop
identifiziert sie sofort als Senegalesin, entwickelt eine Obsession für die
Geschichte, die in der öffentlichen Erzählung von zahlreichen Stereotypen
durchwirkt ist, verfolgt schließlich das Schwurgericht 2016 in Saint-Omer
als Zuschauerin im Gerichtssaal.
## Frausein, Mutterschaft, Herkunft und Krise
Der Film „Saint Omer“ nun ist Diops Reflexion, die sich zugleich in
unterschiedliche Verästelungen von Frausein, Mutterschaft, Herkunft und
Krise begibt. Katalysator dafür ist Rama (Kayije Kagame), eine Pariser
Literaturprofessorin, die, ähnlich Diop, dem Prozess beiwohnt und
erschüttert ist von den Aussagen einer Frau, in der sie sich auch ein
bisschen selbst erkennt.
„Ich mache keine Filme, die sich mit den großen Fragen der Gesellschaft
befassen, jedenfalls nicht auf eine direkte Art und Weise. Es sind Filme,
die erst einmal in mir wachsen müssen. Sie entstehen aus Gedanken, die mich
schon sehr lange begleiten und die dann auch eine gewisse Zeit brauchen, um
Gestalt anzunehmen. Der Wunsch nach einem Film muss in mir entstehen.
Obsessionen, aber auch Intuitionen sind dabei die beiden Motoren, die mich
antreiben“, so Diop im Interview mit der taz.
Es ist ein inneres Konglomerat, das sich gleichsam in Tiefe und
Vielschichtigkeit ihrer Arbeiten artikuliert. In „La mort de Danton“ (2011)
begleitete sie den Mittzwanziger Steve, wohnhaft in der Pariser Banlieue,
in den Jahren seiner Ausbildung zum Schauspieler. Steve, Schwarz, groß und
für nicht wenige furchteinflößend, hadert mit dem limitierten
Rollenangebot, das ihn dazu zwingt, Klischiertes zu reproduzieren – den
halbnackten Afrikaner, den verzweifelten, gewalttätigen Afroamerikaner, den
Chauffeur. Der Traum von der fulminanten Karriere in Hollywood rückt
zusehends in den Hintergrund.
## Suche nach dem Warum
In „La permanence“ (2016) beobachtete sie jene Hilfesuchenden, die ins
Sprechzimmer von Dr. Geeraert kommen: Geflüchtete, Menschen ohne Papiere
und Geld, die hier umsonst eine Behandlung erfahren. Diop hält sich im
Hintergrund, wird Zeugin des oft pragmatischen, doch stets empathischen
Wechselspiels im teils bereits maroden Behandlungsraum.
Es entsteht eine intime Auseinandersetzung, wie sie ebenfalls in „Saint
Omer“ auszumachen ist, wenngleich unter völlig anderen Umständen. „Dadurc…
dass es sich um keinen Gerichtsfilm handelt, hat mich auch die
Verantwortung, die das Gericht übernimmt, nicht interessiert. Ich wollte
vielmehr in Form eines Kammerspiels die Komplexität einer Frau zeigen“,
kommentiert sie.
Laurence Coly gibt indes vor, die Tat selbst nicht begreifen zu können, und
verspricht sich vom Prozess Aufklärung. „Saint Omer“ spiegelt eine
gemeinsame Suche wider nach dem Warum, auf das es, für einige frustrierend,
keine abschließende Antwort geben kann und wird.
Das Delikt von Laurence/Fabienne ist vielmehr Ausgangs- wie
Anknüpfungspunkt. Nicht nur für alle, die im holzvertäfelten Saal zwischen
Wut, Trauer und Fassungslosigkeit changieren. Auch für das Publikum von
„Saint Omer“. Denn der Film wirkt wie ein sehr akkurater, beschreibender
und dennoch nicht immer zugänglicher Text, einer, der nie auffordert,
sondern vielmehr anbietet, der möchte, dass man sich zumindest in die Nähe
des Unverständlichen begibt.
## Mutiger Schritt in die Fiktion
Es ist eine Herangehensweise, die sich ebenfalls in ihren Dokumentarfilmen
zeigt, die nicht zuletzt immer wieder nach der eigenen Position forschen:
der einer in Frankreich geborenen und sozialisierten Intellektuellen, deren
Eltern in den sechziger Jahren aus dem Senegal kamen.
„Saint Omer“ führt all diese Stränge zusammen und wagt den so
ungewöhnlichen wie mutigen Schritt in die Fiktion. „Sie vermag es, gewisse
Dinge viel präziser herauszuarbeiten“, meint Diop. „Dabei ging es für die
Schauspielenden nicht darum, zu imitieren, was wirklich stattgefunden hat,
sondern durch das Spiel zu ermöglichen, wirklich über das Geschehene
hinauszugehen.“
Überwinden konnte Alice Diop damit auch eine andere Tradition: „Saint Omer“
ist der erste Film einer Schwarzen Frau, der in Frankreich überhaupt für
einen Oscar vorgeschlagen wurde.
8 Mar 2023
## LINKS
[1] /Ende-der-ersten-digitalen-Berlinale/!5752446
[2] /Goldener-Loewe-fuer-Laura-Poitras/!5877801
## AUTOREN
Carolin Weidner
## TAGS
Spielfilm
Schwerpunkt Frankreich
Regisseurin
Gerichtsprozess
Gewalt gegen Kinder
Oscars
Vergewaltigung
Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig
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Streaming
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