| # taz.de -- Debatte um Diplomatie im Ukrainekrieg: Kalte Forderungen | |
| > Immer öfter appellieren Politiker im Westen, den Krieg in der Ukraine | |
| > „einzufrieren“. Putin bekäme so den Sieg, zu dem er selbst nicht die | |
| > Kraft hat. | |
| Bild: Der ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskyj, hört seinen Soldaten au… | |
| Das Jahr 2024 beginnt als Kriegsjahr. Mit der heftigsten Angriffswelle auf | |
| die Ukraine aus der Luft seit Kriegsbeginn [1][hat Russland ein deutliches | |
| Zeichen gesetzt]: Vor Wladimir Putins Wahlsieg im März soll die Ukraine | |
| sturmreif geschossen werden. | |
| Es ist unbegreiflich, warum westliche Partnerländer immer noch zögern, der | |
| Ukraine alles zur Verfügung zu stellen, um die feindlichen Abschussrampen, | |
| Luftwaffenbasen und Raketenlager zu zerstören, bevor deren Gerät in den | |
| Himmel aufsteigen kann. Präzise Schläge gegen das russische | |
| Angriffspotenzial würden viele Menschenleben retten und das Ende des Kriegs | |
| forcieren. | |
| Stattdessen starren westliche Hauptstädte besorgt auf die mageren Erfolge | |
| der Ukraine in den Monaten der „Gegenoffensive“. Es hat sich ein Diskurs | |
| verfestigt, der Krieg sei an einem „Patt“ angelangt und man müsse dringend | |
| nichtmilitärische Auswege suchen. In Berlin und Washington wird von einem | |
| „Einfrieren“ des Konflikts geraunt, wodurch Russland zu Verhandlungen | |
| bewegt werden soll. | |
| Den Begriff der Pattsituation (stalemate) setzte der Armeechef der Ukraine, | |
| Saluschnyj, Anfang November in die Welt, als er lediglich die ukrainische | |
| Gegenoffensive für festgefahren erklärte. Im Westen wurde das als Anzeichen | |
| einer Ermattung missverstanden. Saluschnyjs Diagnose war kein Plädoyer für | |
| ein Einstellen der Kämpfe und Verhandlungen mit Russland. Es war das | |
| Plädoyer für eine militärische Neuausrichtung seiner Streitkräfte und auch | |
| ein Plädoyer für mehr ukrainische Eigenständigkeit. | |
| Russland zog daraus den nicht ganz falschen Schluss, zwischen Kyjiw und | |
| seinen Alliierten gebe es Differenzen. Putin beobachtet die Debatten beim | |
| Feind sehr genau. Auf jedes Signal, die Solidarität mit der Ukraine könne | |
| bröckeln, antwortet Russland mit einer Verstärkung seiner Angriffe. So auch | |
| jetzt. | |
| Aus eigener Unsicherheit heraus der Ukraine Gebietsverzicht gegen | |
| Waffenruhe vorzuschlagen, ist also keine Realpolitik, es ist völlig irreal. | |
| Man signalisiert Putin damit eine verschleierte Kapitulation. Ihm die | |
| Kontrolle von Teilen der Ukraine auf unbestimmte Zeit zu gestatten, wäre | |
| für die betroffenen Menschen eine Katastrophe und für Putin ein Etappensieg | |
| auf seinem langen Marsch zur Wiedererrichtung des Sowjetreichs. Das bringt | |
| keinen Frieden. Man kann einen politischen Konflikt zwischen einer | |
| aggressiven Diktatur und einer freiheitlichen Gesellschaft nicht | |
| territorial lösen. | |
| ## Russland ist keine Übermacht | |
| Die westliche Entspannungspolitik im Kalten Krieg funktionierte nur, weil | |
| sie von einer massiven Aufrüstung flankiert war. Die Sowjetunion wurde | |
| totgerüstet. Heute halten manche das viel schwächere Russland für eine | |
| Supermacht mit unerschöpflichen Ressourcen, der man nichts entgegensetzen | |
| könne. In Wahrheit liegt Russlands Volkswirtschaft irgendwo hinter Kanada | |
| und Brasilien. | |
| Konnte Moskau zu Beginn des Ersten und Zweiten Weltkriegs noch jeweils in | |
| kürzester Zeit fünf Millionen Mann gegen Deutschland mobilisieren, tut es | |
| sich heute schwer damit, auch nur seine aktuelle Truppenstärke von 340.000 | |
| Mann in der Ukraine aufrechtzuerhalten. Heute ist Russland der Angreifer, | |
| nicht der Angegriffene, eine Generalmobilisierung ist vor den Wahlen | |
| ausgeschlossen. | |
| In verlustreichen Offensiven verpulvert die russische Armee ihre Reserven | |
| für die Eroberung von gerade mal einer mittelgroßen ukrainischen Stadt pro | |
| Jahr – letztes Jahr Bachmut, dieses Jahr vielleicht Awdijiwka. Russland | |
| verfeuerte in der ersten Woche dieses Jahres so viele Raketen, wie es im | |
| Monat produziert. Das ist nicht lange durchzuhalten, es ist ein kurzlebiges | |
| Putin-Wahlkampffeuerwerk. Den Nachschub liefern Iran [2][und Nordkorea] – | |
| und all das soll nicht zu besiegen sein? Lächerlich. | |
| Die Uhr tickt, aber nicht, weil Russland stärker wird. Bei den EU-Wahlen im | |
| Juni droht ein Rechtsruck, ebenso bei den US-Wahlen im November. [3][Darin | |
| steckt die wahre Gefahr] für die Ukraine. Angesichts dessen ist das Gerede | |
| über ein „Einfrieren“ des Konflikts ein zynisches Spiel mit dem Feuer. Es | |
| läuft darauf hinaus, Putin eine Atempause zu gewähren, bis Trump im Weißen | |
| Haus sitzt und der Westen die Waffen streckt. Das ist das Gegenteil von | |
| Frieden. Es verlängert den Krieg. | |
| Jetzt also muss es eine deutliche Antwort auf den russischen Raketenterror | |
| geben, damit er nicht nach einer Erholungspause neu aufflammt. Jetzt müssen | |
| auch die finanziellen Weichen dafür gestellt werden, dass die Ukraine die | |
| Oberhand gewinnen kann. Wenn Russland zum Rückzug gezwungen wird – dann | |
| kann man über eine europäische Sicherheitsarchitektur reden. Aber bis | |
| dahin ist ein Kraftakt erforderlich. Sich davor heute zu drücken, | |
| vervielfacht morgen den Preis für Europas Überleben. | |
| 6 Jan 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Dominic Johnson | |
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