# taz.de -- Streit mit Hannah-Arendt-Preisträger:in: Dissens als Tugend gesche… | |
> Die Heinrich-Böll-Stiftung hatte sich von der Vergabe des | |
> Hannah-Arendt-Preises an Masha Gessen zurückgezogen. Nun kam man zum | |
> Gespräch zusammen. | |
Bild: Masha Gessen nach der Übergabe des Hannah-Arendt-Preises | |
Es sollte eine Aussprache werden. Der Saal der Berliner | |
Heinrich-Böll-Stiftung war am Montagabend voll besetzt, gekommen war die | |
New Yorker Publizist:in Masha Gessen, frische | |
Hannah-Arendt-Preisträger:in. | |
Tosender Applaus, zu verteidigen war, dass Gessen eine würdige | |
Preisträger:in sein sollte, schließlich hatte sich die Stiftung, | |
Gastgeberin dieses Abends, [1][in der Woche zuvor von der Bremer | |
Festveranstaltung zur Verleihung des Arendt-Preises zurückgezogen] – wegen | |
Gessens Text „Im Schatten des Holocaust. Wie die Erinnerungspolitik in | |
Europa verdeckt, was wir heute in Israel und Gaza sehen“, den Gessen kurz | |
zuvor im New Yorker veröffentlicht hatte. | |
Ein schön geschriebener Text, der falsche Fakten enthält, aber viele | |
Assoziationsräume öffnet. Vor allem jedoch jenen, in dem das Vorgehen der | |
Israelis gegen Gaza den Taten der Nationalsozialisten gleicht. Gessen | |
vergleicht darin Gaza mit osteuropäischen Ghettos der Nazis, also mit | |
Deportationsghettos: „In den letzten siebzehn Jahren war der Gazastreifen | |
[…] ein Ghetto […]. Nicht wie das jüdische Ghetto in Venedig oder ein | |
innerstädtisches Ghetto in Amerika, sondern wie ein jüdisches Ghetto in | |
einem von Nazi-Deutschland besetzten osteuropäischen Land.“ | |
Am Montag war Gessen nun auf dem Podium in einem von Tamara Or | |
(Deutsch-Israelisches Zukunftsforum) äußerst versiert moderierten Gespräch | |
auf die Böll-Vorstandsmitglieder Jan Philipp Albrecht und Imme Scholz | |
getroffen. Gessen wies darauf hin, dass es nicht die Stiftung war, die ein | |
privates Gespräch mit Imme Scholz ausgeschlagen und ein öffentliches | |
vorgeschlagen habe, sondern Gessen selbst. Der Böll-Vorstand musste nun | |
liefern und fühlte sich sichtlich unwohl. | |
## Falsche Implikationen | |
Es wäre ein Leichtes gewesen, Gessen die falschen Implikationen des | |
Ghetto-Vergleichs darzulegen oder die These von einem deutschen | |
McCarthyismus zu widerlegen. Stattdessen lieferte jedoch vor allem Masha | |
Gessen. Albrecht wies zwar völlig richtig auf den wesentlichen Unterschied | |
hin, dass die Juden in den osteuropäischen Ghettos nicht Schutzschild von | |
Kombattanten waren – sie konnten nicht nicht Opfer einer | |
Vernichtungsindustrie sein. Den Vergleich halte er für unangemessen. | |
Gessen jedoch untermauerte ausführlichst die krude Ghettothese: Nicht alle | |
Juden seien in den KZs ermordet worden, 1,3 Millionen an Krankheiten und | |
Hunger gestorben. Der größte Unterschied zwischen den Nazi-Ghettos und Gaza | |
sei, dass in Gaza die meisten noch lebten, die Welt noch etwas tun könne. | |
Es war die Moderatorin, die darauf hinweisen musste, dass Gaza seit 2007 | |
von der Hamas diktatorisch verwaltet wird, man nicht von einem | |
Rechtsradikalen wie Itamar Ben-Gvir ausgehend den gesamten Konflikt | |
erklären könne – Gessen hatte Aussagen von jenem verlesen – und dass es | |
schlicht keinen Befehl zur Erschießung palästinensischer Zivilisten | |
gebe. Hamas habe nicht die Mauer gebaut, so Gessen, die für Ors Frage, ob | |
nun nicht mehr über den Vergleich als über Gaza gesprochen werde, nur übrig | |
hatte: „Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon sie sprechen.“ | |
Wir hätten keine Informationen darüber, wen die Palästinenser wählten, | |
wären die Bedingungen andere. Die israelischen Extremisten hingegen seien | |
gewählt worden. Auch hier war es die Moderatorin, die daran erinnern | |
musste, [2][dass Hunderttausend Israelis gegen die Regierung | |
demonstrierten]. | |
## Jenseits der Geschichte | |
Gessen bezog sich auf den Soziologen Zygmunt Bauman, der bekanntlich den | |
Holocaust auf die Moderne selbst zurückführt. Sein Ansatz wurde von anderen | |
Historikern oft und zu Recht kritisiert, er verkenne den Antisemitismus als | |
treibende Kraft. In einem weiteren Punkt folgte Gessen ihm: [3][Der | |
Holocaust würde jenseits der Geschichte angesiedelt, indem man ihn als | |
singulär betrachte]. Doch geschehe nicht in der Gegenwart Ähnliches? | |
Die Böll-Vorstände agierten hilflos. Carolin Emcke, Hedwig Richter, Omri | |
Boehm und andere bekannte Intellektuelle waren im Saal, die Stimmung war | |
aufgeladen, Gessen sehr relaxt. „Der Versuch, mich mundtot zu machen, ist | |
fehlgeschlagen und hat das Gegenteil erreicht“, so Gessen selbstzufrieden. | |
Albrecht warf ein, niemand werde mundtot gemacht. Doch es stimmt wohl. | |
Gessen ist populärer denn je. Trotz kruder Thesen. | |
19 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Tania Martini | |
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