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# taz.de -- Polizeieinsatz an Silvester in Berlin: Das neue Normal
> Politik und Polizei feiern den „Erfolg“ des Großeinsatzes an Silvester.
> Für das Eigenlob fehlen Belege, aber es dient der polizeilichen
> Aufrüstung.
Bild: Polizisten an Silvester in Nord-Neukölln: Kaum vorstellbar, dass der Ein…
Berlin taz | Es war wie ein Schaulaufen auf einer Sicherheitsmesse.
Polizeisondereinheiten präsentierten ihre zivil-schwarzen Polizeisprinter,
standardmäßig bestückt mit Maschinengewehren, die den ganzen Silvestertag
über in Kolonne durch [1][Neukölln] brausten. Die Wasserwerfer und
Räumpanzer zeigten sich kurz vor Mitternacht am Hermannplatz. Die mobile
Polizeileitzentrale hatte sich auf der Sonnenallee postiert, in der
Böllerverbotszone, eingezäunt und bewacht von Hunderten Beamt:innen.
Spürhunde suchten nach Sprengstoff, der Polizeihubschrauber vom Typ
Eurocopter nach illegalen Raketenlagern.
Nord-Neukölln war Schwerpunkt dieses Einsatzes mit insgesamt 4.000
Polizeikräften aus fünf Bundesländern und von der Bundespolizei. [2][Ein
polizeilicher Ausnahmezustand], bislang in Berlin in dieser Dimension nur
bekannt vom 1. Mai. Das Motto hier wie dort: Mit einer Übermacht der
Polizei soll jede Eskalation im Keim erstickt werden.
Der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) hatte zuvor gesagt, „wenn’s
denn notwendig ist“, werde es die „Nacht der Repression“. Man darf ihn
korrigieren: Auch ohne dass die Polizei gegen einen gewalttätigen Mob
vorgehen musste, war es eine solche Nacht. Die polizeiliche Besetzung mit
eingeschränkter Bewegungs- und Meinungsfreiheit (angesichts des Verbots
einer propalästinensischen Demonstration im Vorhinein), in einem vom
Busverkehr abgeschnittenen Gebiet mit Kontrollen und Leibesvisitationen ist
Repression.
Die Hardliner im Senat sowie viele Medien zeigten sich danach zufrieden.
Die Berliner Zeitung wusste: Mit einem massiven Aufgebot „konnte Berlins
Polizei in der Silvesternacht größere Gewaltexzesse verhindern“. Wegner
bilanzierte: „Das Einsatzkonzept war ein Erfolg.“ Selbstverständlich – m…
sich selbst – zufrieden war Innensenatorin Iris Spranger (SPD). Und die
Gewerkschaft der Polizei teilte mit: „Nur ein Großaufgebot der Polizei
konnte für Sicherheit sorgen.“
## Ausnahmezustand bald normal?
Immerhin reagierte die kleine Polizist:innen-Interessenvertretung Biss e.
V.: „Reine Spekulation, dass NUR ein Großaufgebot der Polizei für
Sicherheit sorgen konnte.“ Dies sei zudem „ein gewerkschaftlicher
Freifahrtschein“ dafür, Polizeikräfte auch künftig an Silvester „mit
Dienstfrei- und Urlaubssperren“ zu belegen.
Zu befürchten ist: Der Ausnahmezustand ist das neue Normal. Kaum
vorstellbar, dass Senat und Polizeiführung aus der vergleichsweise ruhigen
Nacht den Schluss ziehen, im kommenden Jahr den Einsatz wieder auf ein
weniger bedrückendes Maß herunterzufahren. Oder dass die völlig sinnfreien
Böllerverbotszonen auf den Prüfstand kommen.
Zu einer ehrlichen Debatte würde gehören, Tatsachen zu akzeptieren, die
nicht in das Bild passen: Dass sich Krawalllust und Frustration nicht in
der Weserstraße oder der Karl-Marx-Straße entluden, ist kaum mit dem
Polizeiaufmarsch zu erklären. Abseits der über 600 Meter abgeriegelten
Sonnenallee waren die Straßen nicht hermetisch überwacht. Hier hätte
Handlungsfreiheit für Krawall bestanden, wenn der denn gewollt gewesen
wäre. Auch fand sich kein Mob, der sich mit der Polizei an der Verbotszone
duellieren wollte.
Dass auch unmittelbar neben einer Böllerverbotszone eskaliert werden kann,
zeigt derweil der Blick auf den Alex. Während Feuerwerk auf dem Platz
verboten war, beschossen sich Jugendgruppen am nahen Neptunbrunnen mit
Raketen.
## Ursachenforschung bleibt auf der Strecke
Doch diese Widersprüche gehen unter im allgemeinen Schulterklopfen von
Polizei und Senat. Auf der Strecke bleibt so eine ernsthafte
Ursachenforschung, weshalb es dieses Mal nicht so geknallt hat wie vor
einem Jahr. Der Kriminologe Tobias Singelnstein meint im Gespräch mit der
taz, es sei schwer zu sagen, warum die Silvesternacht in Berlin glimpflich
verlaufen ist: „Die massive Polizeipräsenz wird eine Rolle gespielt haben,
die Aufklärungs- und Präventionsarbeit im vergangenen Jahr auch.“ Hinzu
kämen aber noch weitere Faktoren: „Zum Beispiel war der vorangegangene
Jahreswechsel 2022/23 der erste nach den Einschränkungen durch die
Pandemie, der daher wohl besonders ausschweifend begangen wurde.“
[3][Outreach, ein Träger für Jugend- und Jugendsozialarbeit], zog am
Dienstag eine positive Bilanz: In der Silvesternacht seien 50
Mitarbeiter:innen aktiv gewesen, man habe an fünf Standorten in der
Stadt Partys für Jugendliche veranstaltet. Mit diesen Angeboten sowie
weiteren Gruppenaktivitäten habe Outreach zum Jahreswechsel insgesamt etwa
500 bis 600 Jugendliche erreicht.
## Die Logik der Aufrüstung ist stärker
Politiker:innen könnten jetzt auch zu dem Schluss kommen, dass die
Jugendsozialarbeit seit dem vorletzten Silvester Früchte getragen habe und
daher weiter gestärkt werde. Doch die Logik der Aufrüstung ist stärker, wie
eine nicht zurückzudrehende Spirale.
Beispiel 1. Mai: Seit über einem Jahrzehnt ist die Dynamik ausufernder
Riots Geschichte, haben sich Verletzten- und Festnahmezahlen minimiert. Der
[4][damalige Innensenator Frank Henkel (CDU) hatte in seiner Bilanz 2016
konstatiert], das Niveau der Gewalt unterscheide sich „deutlich von dem,
was wir früher gewohnt waren“. Mit 6.000 Polizist:innen hatte er mehr
Beamte eingesetzt als bei früheren Krawalltagen. Doch anstatt dass die
Erfahrungen sich in Abrüstung niederschlagen würden, ist das Gegenteil der
Fall. 2023 waren es gar 7.000 Polizist:innen, die einen inzwischen
vollständig befriedeten 1. Mai als eigene Stärkedemonstration
missbrauchten.
Polizeiforscher Singelnstein bezweifelt, dass dieser Trend zu immer
größeren Polizeiaufgeboten bald gestoppt wird: „Es ist eine generelle
Entwicklung, dass die Polizei in der Bundesrepublik kontinuierlich
gewachsen ist: Personal, Befugnisse und Aufgaben wurden stetig
ausgeweitet“, sagte der Strafrechtler. Dahinter stehe ein umfassendes
Streben nach Sicherheit: „Die Politik nimmt ein zunehmendes
Sicherheitsbedürfnis in der Gesellschaft wahr und versucht dem durch mehr
Polizeipräsenz und -befugnisse gerecht zu werden.“
Besonders deutlich zeige sich das in der undifferenzierten Debatte über
Jugendkrawalle wie etwa in der Silvesternacht, kritisiert Singelnstein:
„Das ganze Phänomen wird nur als Sicherheitsproblem dargestellt. Hinzu
kommt oft noch eine ordentliche Portion Rassismus. Aus dem Fokus gerät so
die Frage nach den sozialen Hintergründen der Krawalle.“
2 Jan 2024
## LINKS
[1] /Silvester-in-Berlin-Neukoelln/!5981940
[2] /Bilanz-der-Silvesternacht-in-Berlin/!5979474
[3] /Jugendarbeit-in-Berlin/!5978836
[4] /Polizeipraesenz-am-1-Mai-in-Berlin/!5297255
## AUTOREN
Erik Peter
Hanno Fleckenstein
## TAGS
Silvester
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