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# taz.de -- Mythen um Migration: Immer schon unterwegs
> Alles ein bisschen anders als gedacht: Der Soziologe Hein de Haas
> dekonstruiert in seinem neuen Buch verbreitete Annahmen zum Thema
> Migration.
Bild: Französische Polizeibeamte haben ein behelfsmäßiges Auffanglager in Ca…
In den letzten Monaten konnte der Eindruck entstehen, Deutschlands
drängendstes Problem sei die Einwanderung. Die Gemeinden klagten, sie
hätten ihre Kapazitätsgrenze erreicht, der Kanzler verkündete im Spiegel
populistisch Abschiebungen „im großen Stil“, unterdessen sind weiter
tagtäglich Migranten bei der Überquerung von Mittelmeer oder Ärmelkanal in
Lebensgefahr.
Es ist eine nicht nur faktische, sondern auch taktische Gemengelage, in der
Politik, Presse und NGOs um die Deutungshoheit ringen, aber selten auf der
Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen agieren, schreibt der
niederländische Migrationsforscher Hein de Haas.
[1][Sein Buch „Migration. 22 populäre Mythen und was hinter ihnen steckt“]
will falsche Prämissen erkennen und durch Fakten ersetzen. Es geht dem
Soziologen um dringend notwendige Versachlichung: „Wir waren immer schon
unterwegs“, seien aber nicht in der Lage, die Migration als ganz normalen
Prozess zu verstehen. De Haas’ in 22 Kapitel unterteiltes Werk ist ein gut
geschriebener, fundierter Beitrag.
Betrachte man etwa die oft als Allheilmittel gegen Migration gepriesene
Entwicklungshilfe, zeige sich, dass diese entgegen allen Versprechungen der
Bekämpfung von Fluchtursachen überhaupt nicht dazu geeignet sei. Denn die
Forschung zeigt: Mit dem Grad der Entwicklung steigen auch die Fähigkeit
und die Ambitionen innerhalb der Bevölkerung, zu migrieren.
## Migration ist Entwicklungshilfe
Erst wenn ein sich entwickelnder Staat ein deutlich erhöhtes
Wohlstandsniveau erreicht hat, bleiben seine Bürger lieber dort, wo sie
sind. Tatsächlich, so de Haas, ist die Migration selbst die effektivste
Form der Entwicklungshilfe; die von Migranten direkt an ihre Familien in
der Heimat überwiesenen Beträge übersteigen staatliche
Entwicklungszahlungen um das Doppelte – und sind weniger der
Korruptionsgefahr ausgesetzt.
De Haas ist seit Jahrzehnten wissenschaftlich mit dem Thema Migration
befasst, seine eigenen Feldstudien bereichern die abstrakten Ausführungen.
So beobachtet er seit 1994 ein früher rein landwirtschaftlich geprägtes Tal
im Süden Marokkos. Ab den 1960er Jahren migrierten viele Bewohner*innen
in Wellen nach Europa, heute hat knapp die Hälfte der Familien im Tal
Angehörige hier und in der Folge ein deutlich erhöhtes Haushaltseinkommen.
Das einst verschlafene Oasenstädtchen ist laut de Haas mittlerweile ein
„geschäftiges regionales Wirtschaftszentrum“.
Ein weiterer Mythos, den der Migrationsforscher zu entkräftigen sucht, ist
der des vermeintlich klaren politischen Koordinatensystems: [2][Linke sind
für, Rechte gegen Migration]. Das stimmt so nicht, schreibt de Haas und
weist auf die Binnenpluralität innerhalb der politischen Lager hin: Die
Konservativen halten etwa das Kirchenasyl hoch, die linken Gewerkschaften
gerieren sich traditionell als Schutzmacht einheimischer Arbeiter vor
billigen ausländischen Arbeitskräften.
## Rhetorische Unterschiede
Die Parteien, rechts wie links, zeigten keine so gravierenden
migrationspolitischen Unterschiede, wie man glaube. Genauso bestechend wie
andere Kapitel wirken de Haas’ Ausführungen dazu jedoch nicht. Seine
empirischen Forschungsergebnisse ergeben, dass sich progressive und
konservative Parteien westlicher Staaten beim Thema Migration vor allem
rhetorisch unterscheiden.
Die tatsächliche Migrationspolitik hat sich demnach unabhängig von der
Regierungsmehrheit immer weiter liberalisiert. Doch seine Empirie reicht
nur bis ins Jahr 2012. Man hätte gern erfahren, ob sich dieser Befund auch
für das letzte, jedenfalls gefühlt migrationspolitisch stark umkämpfte
Jahrzehnt noch bewahrheitet.
Beim Thema Klimaflucht tritt der Niederländer der populären These einer
bevorstehenden Massenmigration entgegen. Diese sei aus
naturwissenschaftlichen und soziologischen Gründen nicht haltbar. Seine
zahlreichen Ausführungen hierzu klingen zwar meist schlüssig, sind aber
teilweise auch in sich widersprüchlich.
So schreibt er, dass auch der Klimaschutz selbst Menschen vertreibe, ganz
so, als folge daraus, dass der Klimawandel gerade nicht die Fluchtursache
sei. Sein Beispiel: China begegne dem Klimawandel durch den Bau von
Stauseen. Der Staat verdränge dadurch, also durch Klimaschutz selbst,
Millionen von Menschen.
## Mittelbare Klimaflucht
Man fragt sich: Was soll das anderes als mittelbare Klimaflucht sein? Die
Tatsache, dass Menschen teils auch aus sekundären Gründen fliehen müssen
und nicht wegen des Klimawandels an sich, erscheint als Argument gegen die
Gefahr von Klimafluchtbewegungen arg haarspalterisch.
De Haas gefällt sich stilistisch auch in anderen Kapiteln teilweise etwas
zu gut in der Rolle des Oberhaupts der migrationswissenschaftlichen
Rationalität; die Lektüre des Werks lohnt dennoch: Die Kapitel sind kompakt
und lassen sich isoliert ebenso gut lesen. Das Buch taugt so auch als
Nachschlagewerk.
20 Dec 2023
## LINKS
[1] /Verlogene-Migrationsdebatte/!5974114
[2] /Migrationspolitik-im-Bundestag/!5973295
## AUTOREN
Julian Sadeghi
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