# taz.de -- Christliche „Konversionstherapie“: Wer braucht hier Heilung? | |
> Queers von ihrem Begehren abbringen war Ziel einer internationalen | |
> Konferenz in Warschau. Undercover zwischen Nonnen, Erzieherinnen und | |
> Psychologen. | |
Bild: Sie wähnen sich auf Gottes Seite, die Pläne rechter Homo-Heiler wirken … | |
WARSCHAU taz | Auf das Eingangsgebet folgt ein Flaggenmarsch. 32 Menschen | |
ziehen mit Nationalfahnen durch die Stuhlreihen, sie tragen die | |
US-amerikanische, die englische, slowakische, norwegische, ungarische, | |
polnische und die deutsche Flagge. Die wehen stellvertretend für alle | |
Länder, die auf der Veranstaltung repräsentiert sind. Aus Lautsprechern | |
tönt ein Kinderchor. Ein Einmarsch wie bei Olympia. Nur dass sich hier | |
nicht der internationale Spitzensport trifft, sondern die ideologische | |
Führungsriege im Kampf gegen Homosexualität. | |
Es ist Freitag, der 27. Oktober, kurz nach 18 Uhr, ein fensterloser Saal in | |
einem Hotel am Rand von Warschau. 200 Personen haben auf rot gepolsterten | |
Stühlen Platz genommen und applaudieren den Flaggenträger*innen. Es sind | |
Christ*innen, Evangelikale, Katholik*innen aus der ganzen Welt. Was sie | |
eint, ist ihr Kampf gegen sexuelle und körperliche Selbstbestimmung. Sie | |
verachten die Ehe für alle und die Pride Parade. Nach Warschau sind sie | |
gekommen, weil sie lernen wollen, wie Homosexualität, trans und nichtbinäre | |
Identitäten „heilbar“ oder veränderbar sind. | |
Die Veranstaltung ist die neunte jährliche Konferenz der International | |
Foundation for Therapeutic and Counselling Choice. Die IFTCC ist eine | |
christliche Lobbyorganisation mit Sitz in London. Hinter ihr steht der Core | |
Issues Trust, eine Organisation, die in Nordirland gemeinnützigen Status | |
hat. Offiziell gibt sich die IFTCC als Hilfsorganisation aus. Ihr erklärtes | |
Ziel ist es, Menschen zu unterstützen, die den „LGBT-Lifestyle“ verlassen | |
wollen. Wer sich genauer mit der IFTCC beschäftigt, merkt: Es geht nicht um | |
Unterstützung. Es geht um Umerziehung. | |
Die IFTCC arbeitet so intensiv wie keine andere evangelikale Organisation | |
daran, ihre Methoden im Kampf gegen queere Menschen unter ein europäisches | |
Publikum zu bringen. Sie trifft Politiker*innen in Großbritannien, | |
organisiert online Kampagnen und veranstaltet internationale Konferenzen. | |
## Dreitagesticket für 145 Euro | |
Die Konferenz in Warschau trägt das Motto: „Das Blatt wenden: | |
Fachübergreifende Ansätze zu den Themen Sexualität und Geschlecht.“ Hier | |
treffen sich polnische Psychologen, britische Erzieherinnen, slowakische | |
Nonnen, norwegische Pornografiegegner und deutsche Mediziner. Angekündigt | |
sind 23 Speaker*innen und Gäste aus 32 Ländern. Ein Dreitagesticket für | |
die Konferenz kostet 145 Euro, 200 Euro die Übernachtung im Hotel. „Wir | |
stehen gemeinsam gegen die progressive Ideologie“, heißt es im Vorwort des | |
Konferenzprogramms. | |
Zuständig dafür, dass alle Fahnenträger*innen in der richtigen | |
Reihenfolge einmarschieren, ist Janine F. Die 39-jährige Frisörin aus | |
Berlin gehört zum Organisationsteam hinter den Kulissen. Janine F. ist aber | |
auch vor den Kulissen wichtig. Auf Instagram und Youtube präsentiert sie | |
sich als „Ex-Gay“ – als eine, die mit ihrem Leben als verheiratete | |
lesbische Frau gebrochen hat. Gott habe sie geheilt. Die | |
Helfer*innentruppe auf der Konferenz in Warschau besteht aus mehreren | |
„Ex-Gays“. Sie tragen schwarze T-Shirts, auf ihren Rücken steht: „Once g… | |
– not anymore“, in Regenbogenfarben: „Einst gay – aber nicht mehr.“ | |
Sie sind das hippe Gesicht der ansonsten eher grauhaarigen Organisation: | |
jung, modebewusst und Social-Media-affin. Sie sind der scheinbar lebende | |
Beweis dafür, dass es nicht nur möglich, sondern auch befreiend sei, die | |
eigene sexuelle Orientierung oder das Geschlecht zu unterdrücken. | |
Online gibt sich die IFTCC professionell. Auf ihrer Webseite steht, die | |
Organisation setze sich für „Therapiefreiheit“ ein. Was sie damit meint, | |
verrät eine von ihr veröffentlichte Petition, die sich gegen Verbote von | |
sogenannten Konversionsbehandlungen richtet. Konversionsbehandlungen sind | |
Praktiken, die darauf abzielen, die sexuelle Orientierung oder das | |
Geschlecht von Personen zu verändern. Ihre Verfechter*innen behaupten, | |
damit Menschen von Homosexualität oder trans Identität „heilen“ zu könne… | |
Dafür, dass das möglich ist, fehlt jede wissenschaftliche Grundlage. In | |
immer mehr Ländern sind Konversionsbehandlungen verboten, in Deutschland | |
für bestimmte Personengruppen. | |
## Mitleid und Vernichtungsfantasien | |
Offiziell will die IFTCC nichts mit therapeutischen Konversionsbehandlungen | |
an sich zu tun haben. Aber wer sich unter ihren Mitgliedern und Verbündeten | |
umhört, stößt schnell auf ein breites Spektrum an Ablehnung von queerem | |
Leben. Es reicht von Mitleid bis zu Vernichtungsfantasien. | |
Wer verstehen will, wie die Anhänger*innen der Organisation ticken, | |
muss sich hinter die professionelle Fassade begeben. Die Veranstaltung in | |
Warschau wird im Vorfeld nicht öffentlich beworben – nur auf Nachfrage | |
erfährt man das Wo und Wann. Im Newsletter wird gebeten, Infos zur | |
Konferenz nicht in sozialen Medien zu teilen. Journalist*innen sind | |
unerwünscht. Also verbergen wir unser journalistisches Interesse. Wir | |
melden uns als normale Gäste an, mit leicht veränderten Namen. | |
Auf der Konferenz sind wir als eine besorgte Pädagogin, eine | |
Sozialarbeiterin und als ein angehender Doktorand, der zu | |
„Therapiefreiheit“ forschen will, unterwegs. Wir werden oft gefragt, woher | |
wir von der Veranstaltung wissen. Unsere Antworten überzeugen, sobald die | |
szenetypischen Stichworte fallen: von einer Demo gegen Abtreibung, von | |
einer Kollegin in einem christlichen Familienzentrum, wegen eigener | |
Erfahrungen mit „ungewollter gleichgeschlechtlicher Anziehung“. | |
So öffnet sich ein Zugang zu diesem „geschützten Rahmen“, wie es eine | |
Teilnehmerin vor Ort nennt. Die drei Tage sind straff durchgeplant, ein | |
Vortrag folgt auf den nächsten. Die Speaker*innen sprechen frei, man | |
kennt sich, man vertraut sich. Ein Pastor referiert über eine | |
„glaubensbasierte Reise aus dem LGBT“ hinaus. Ein Mann, der sich selbst als | |
Sexsuchttherapeut bezeichnet, spricht über „Homosexualität als Symptom | |
sexualisierter Bindung“. | |
## Wege aus der Homosexualität | |
Das Publikum folgt gebannt. Es steht auf, wenn es Zeit für ein Gebet ist, | |
lacht, wenn ein Redner transfeindliche Witze macht. Fragen sind nach den | |
meisten Vorträgen nicht zugelassen. | |
Dabei wird es auf der Bühne zum Teil bizarr: Ein US-amerikanischer Berater | |
spricht von Methoden zur „Erholung“ von „gleichgeschlechtlicher Anziehung… | |
Eine Therapeutin sagt, sie behandle homosexuelle Patient*innen genauso | |
wie Personen mit Essstörungen. Die Frau eines britischen Pastors sagt im | |
Gespräch, es bräuchte dringend Forschung zu den Ursachen von | |
Homosexualität. Sie sagt auch, warum: „Ich meine, diese LGBT-Freaks, lassen | |
wir sie kastrieren? Was sollen wir tun?“ | |
Doch bei aller Vertrautheit unter den Anwesenden ist in Warschau auch | |
Vorsicht spürbar. Zwar sprechen die Referent*innen offen über Wege aus | |
der Homosexualität – wie sie es nennen – „ungewollte | |
Nicht-Heterosexualität“. Doch das Wort „Konversionstherapie“ fällt nich… | |
Eine US-amerikanische Familientherapeutin plädiert zwar dafür, die „Mauern | |
der gleichgeschlechtlichen Anziehung niederzureißen“. Sie warnt aber vor | |
dem Gebrauch des „K-Worts“. Sie weiß, wie schlecht sein Ruf ist. | |
## Das Suizidrisiko kann steigen | |
Die taz hat die IFTCC nach der Konferenz in Warschau offiziell zu ihrer | |
Position zu Konversionsbehandlungen befragt. Die Organisation hat keine der | |
Fragen beantwortet, stattdessen verweist sie auf den Text auf ihrer | |
Webseite, in dem sie sich gegen Verbote von Konversionsbehandlungen | |
ausspricht. | |
Der EU-Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres hat im | |
vergangenen Sommer Konversionspraktiken in der EU untersuchen lassen. Dazu | |
zählen psychotherapeutische, medikamentöse und religiös motivierte | |
Konversionsversuche. Die Forscher*innen warnen vor dem | |
„diskriminierenden, entwürdigenden, schädlichen und betrügerischen | |
Charakter“ solcher Praktiken. Sie könnten psychische und physische | |
Erkrankungen zur Folge haben und das Suizidrisiko von Betroffenen erhöhen. | |
Menschenrechtsorganisationen bezeichnen Konversionspraktiken als Folter. In | |
immer mehr Ländern sind sie deshalb verboten. In Deutschland gilt seit 2020 | |
das [1][„Gesetz zum Schutz vor Konversionsbehandlungen“]. Demnach macht | |
sich strafbar, wer sie an Minderjährigen und Menschen, deren Einwilligung | |
erzwungen wurde, durchführt. | |
Kurz vor Inkrafttreten verlegte „Wüstenstrom“, der bis dato bekannteste | |
deutsche Verein, dem Konversionsbehandlungen vorgeworfen wurden, seinen | |
Sitz in die Schweiz. Man fühle sich in Deutschland durch das Gesetz | |
„diskriminiert“. Eine Nachfrage der taz bei 16 Generalstaatsanwaltschaften | |
bundesweit ergibt allerdings: Bisher ist kein Strafverfahren auf Grundlage | |
des Gesetzes bekannt. Bedeutet das, dass seitdem keine | |
Konversionsbehandlungen mehr stattfinden? Oder bringt sie niemand zur | |
Anzeige? | |
Belastbare Zahlen dazu gibt es nicht. Doch Klemens Ketelhut hat Hinweise | |
gesammelt. Ketelhut arbeitet bei [2][Mosaik Deutschland], einem Verein für | |
politische Bildung in Heidelberg. Im Auftrag des Gesundheitsministeriums | |
hat er eine Studie zu Konversionsbehandlungen durchgeführt. Er und sein | |
Team haben knapp 3.500 queere Personen nach ihren Erfahrungen befragt. | |
## Unter Legalität getarnt | |
Ein Ergebnis: 20 Prozent der Befragten, die aufgefordert wurden, ihre | |
sexuelle Orientierung zu ändern oder zu verbergen, machten diese Erfahrung | |
in religiösen Kontexten, etwa in der Gemeinde. Fast ein Drittel der | |
Befragten, die aufgefordert wurden, ihre Geschlechtsidentität zu ändern | |
oder zu unterdrücken, machten diese Erfahrung in einer Psychotherapie. | |
Für Ketelhut sind diese Ergebnisse alarmierend. Er sagt, besonders | |
gefährdet, auf Konversionsversuche hereinzufallen, seien Menschen, die sich | |
in der frühen Phase ihres Coming-outs befinden und gleichzeitig unter hohem | |
Druck durch ihr soziales Umfeld stehen. „Besonders wenn die Anforderungen | |
umfassend sind, wie in evangelikalen Sekten oder Neonazicliquen, die ja das | |
ganze Leben bestimmen, sind Leute besonders anfällig“, sagt Ketelhut im | |
Gespräch mit der taz. Zudem hätten die Angebote für Konversionsbehandlungen | |
einen immer professionelleren Anstrich. „Heute gibt es durchorchestrierte | |
Programme, die so gebaut sind, dass sie die Legalität behalten“, sagt | |
Ketelhut. | |
Diese Professionalität erkennt Ketelhut in den Aktivitäten des Core Issues | |
Trust und der IFTCC. Einerseits ermögliche die internationale Vernetzung | |
der Organisationen einen flexiblen Umgang mit Restriktionen, sagt der | |
Forscher: „Werden in einem Land gesetzliche Verbote erlassen, können die | |
Aktivitäten schnell und geräuschlos an andere Orte verlegt werden.“ | |
In Großbritannien, dem Sitz der IFTCC, [3][ließ Premierminister Rishi Sunak | |
das jahrelang debattierte Vorhaben, ein Gesetz zum Schutz vor | |
Konversionsbehandlungen zu erlassen, Ende Oktober fallen]. Zudem, sagt | |
Ketelhut, habe es die IFTCC optimiert, unterschiedliche Zielgruppen auf | |
unterschiedlichen Wegen zu erreichen, von Social Media bis zu Treffen wie | |
der Konferenz. | |
## Horte der religiösen Rechten | |
Dass die IFTCC ihre diesjährige Konferenz in Warschau veranstaltet, ist | |
kein Zufall. Was die Organisation verbreitet, könnte andernorts als | |
Straftat gelten. In Deutschland ist auch die Werbung für | |
Konversionsbehandlungen verboten, sie gilt als Ordnungswidrigkeit. In Polen | |
allerdings, wo die rechtskonservative PiS-Partei in den vergangenen Jahren | |
die Rechte auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung stark beschnitten | |
hat, muss die IFTCC kaum Gegenwind fürchten. In den vergangenen Jahren fand | |
die Konferenz in Ungarn statt, davor in Bratislava: Die Horte der | |
religiösen Rechten in Osteuropa. | |
Das erste Treffen der Gruppe, aus der sich die IFTCC entwickelt hat, hat | |
nach Angaben der Organisation 2015 in Deutschland stattgefunden. Eine, die | |
damals dabei war, steigt neun Jahre später, am Samstag, gegen 19.30 Uhr in | |
Warschau auf die Bühne. Hinter dem Publikum liegen mehr als zehn Stunden | |
Programm. Vor ihnen steht jetzt [4][Christl R. Vonholdt], eine pensionierte | |
Medizinerin aus Hessen. Von 2017 bis 2020 war sie im Vorstand der IFTCC. | |
Während der Vorträge in Warschau sitzt sie in der vierten Reihe. Doch wenn | |
sich die 71-Jährige durch die Hotellobby bewegt, wird sie gegrüßt, grüßt | |
zurück, nickt, unterhält sich. „Es macht mir Freude zu sehen, wie die IFTCC | |
wächst“, sagt Vonholdt in das Mikrofon. | |
Die Ärztin ist eine bekannte Stimme in der deutschsprachigen | |
Konversions-Szene. Vonholdt leitete bis 2021 das Deutsche Institut für | |
Jugend und Gesellschaft (DIJG), ein Thinktank der evangelikalen Kommunität | |
Offensive Junger Christen (OJC) im Odenwald. Die OJC ist Teil der | |
Evangelischen Kirche. | |
Vonholdt scheut die Presse, sie veröffentlicht aber eigene Texte im | |
Internet. Sie schreibt gegen das Adoptionsrecht für homosexuelle Paare an | |
und warnt vor der gleichgeschlechtlichen Ehe. Trans Identitäten führt sie | |
in einem Text auf „soziale Ansteckung“ zurück. In einem älteren Text wurde | |
sie in Sachen Konversionstherapie sogar expliziter: Jugendliche sollten | |
über „die Möglichkeiten der Veränderung einer homosexuellen Neigung hin zur | |
Heterosexualität“ informiert werden, hieß es da. Der Text ist mittlerweile | |
gelöscht. Auf eine offizielle Anfrage der taz, wie sie heute zu | |
Konversionsbehandlungen steht, reagierte Vonholdt nicht. | |
## Sie sagt, Gott habe ihr den Weg gezeigt | |
Dafür lässt sie sich in Warschau auf ein persönliches Gespräch ein – in d… | |
Glauben, vor ihr stehe eine interessierte Pädagogin. Sie deutet an, dass | |
sie in der IFTCC inoffiziell aktiv geblieben sei, sie solle in der | |
Organisation eine neue Position bekommen. Zudem halte sie Vorträge und | |
reise zu Treffen nach Ungarn. Vonholdt wirbt auch für neue Mitglieder: „Wir | |
brauchen Verstärkung in Deutschland.“ Sie empfiehlt ein Buch. Vonholdt | |
beschreibt es so: Es gehe darin um die „Verrohung“, die hinter lesbischem | |
Begehren stecke. Und dass der Grund dafür „entwicklungsnachteilige | |
Kindheitserfahrungen“ sein könnten. Amazon verkauft dieses Buch nicht. Es | |
sei „hervorragend“, sagt Vonholdt. | |
Was in Warschau unter dem Deckmantel der Wissenschaft zusammenkommt, hat | |
seine ideologische Quelle in den USA. Als Vater der Konversionsbehandlung | |
gilt der Psychologe Joseph Nicolosi, der mit seiner sogenannten reparativen | |
Therapie seit den 1990er Jahren für die „Heilung“ von Homosexualität warb. | |
Gesundheitsorganisationen warnten: Seine Theorie habe keinen | |
wissenschaftlichen Halt. Später packten ehemalige Patient*innen und | |
Schüler*innen Nicolosis aus, berichteten von den Schäden, die die | |
Behandlung bei ihnen angerichtet hatte. | |
Nach der medizinischen Diskreditierung Nicolosis gründete sein Sohn, Joseph | |
Nicolosi Jr., 2018 die Reintegrative Therapy Association in Kalifornien. | |
Patient*innen sollen sexuelle Schlüsselfantasien besprechen, die | |
angeblich durch Traumata in der Kindheit entstehen. Dies erzeuge einen | |
Aha-Moment, der „spontane“ Heterosexualität auslöse, sozusagen als | |
unintendierten Nebeneffekt der Traumatherapie. | |
Nicolosi Jr. beruft sich auf wissenschaftliche Untersuchungen. Die taz hat | |
einige der Wissenschaftler*innen, auf die er sich bezieht, gefragt, ob sie | |
Nicolosis Lesart ihrer Studien zustimmen. Der Psychologieprofessor Ritch | |
Savin-Williams von der Cornell-Universität im Bundesstaat New York verwehrt | |
sich dagegen. Es sei „unglaublich“, schreibt er, dass „die Rechten“ sei… | |
Untersuchungen als Evidenz für Konversionsversuche verdrehen. „In der Tat | |
halte ich Konversionstherapie nicht nur für fehlgeleitet, sondern auch für | |
einen Ausdruck böser Absicht“, sagt Savin-Williams. Seine Forschung zeige: | |
Sexualität bewege sich zwar auf einem Spektrum. Aus seiner Sicht sei sie | |
jedoch angeboren. | |
## Gottes Influencer*innen | |
Bei der IFTCC ist Nicolosi Jr. weiterhin gern gesehen. Auf ihrer Webseite | |
bietet die IFTCC Kurse zu Nicolosis Thesen an, für 9,99 Euro pro Video. Bei | |
der Konferenz im vergangenen Jahr stand Nicolosi Jr. auf der Bühne. | |
Den Konversionslobbyist*innen reicht es nicht, sich in abgelegenen | |
Hotels zu treffen. Für mehr Reichweite nutzen sie die sozialen Netzwerke. | |
Auf Instagram betreibt der Core Issues Trust, die Trägerorganisation der | |
IFTCC, die Kampagne „X-Out-Loud“. Die Berlinerin Janine F., die in Warschau | |
den Flaggenmarsch koordiniert, ist Teil der Kampagne. | |
Sie und andere „Ex-LGBT“ dokumentieren dort, wie es angeblich gelingen | |
kann, die eigene Sexualität zu unterdrücken. Etwa in einem Video, | |
hochgeladen im September. Janine F. sitzt auf einer Couch, das Licht ist | |
schummrig. Janine F. sagt, Gott habe ihr den Weg aus ihrer lesbischen | |
Beziehung gezeigt. Sie führt die Gefühle zu ihrer Ex-Frau auf Verletzungen | |
in ihrer Kindheit zurück. Ihr Vater sei abwesend gewesen, ihre Mutter habe | |
nicht die traditionelle Rolle erfüllt, sie sei Pornografie „ausgesetzt“ | |
gewesen. In ihrer Geschichte reiht sie dieselben Buzzwords aneinander, die | |
auch auf der Konferenz in Warschau fallen. 4.000-mal wurde das Video auf | |
Youtube angeschaut. | |
Die IFTCC braucht Janine F. und die anderen „Ex-LGBT“. Was wäre die Theorie | |
ohne die Geheilten? Auf Instagram posten sie Gruppenfotos von Reisen, | |
Treffen und Protesten. Vor zwei Jahren veröffentlichten sie ein Buch, in | |
dem 44 Personen erzählen, wie sie ihre queeren Identitäten „verlassen“ | |
haben. Sie wollen zeigen: Wir sind laut, wir sind viele. Doch wer genauer | |
hinsieht, merkt: Es sind kaum mehr als ein Dutzend Aktive. | |
## Sie ziehen sogar Holocaust-Vergleiche | |
Die gemeinnützige US-Organisation GAPHE (Globales Projekt gegen Hass und | |
Extremismus) hat die digitalen Wortführer der Konversionstherapien | |
untersucht, darunter auch die X-Out-Loud-Kampagne. Deren | |
Protagonist*innen gehen taktisch vor, heißt es in dem Bericht: „XOL | |
vereinnahmt und verdreht die Sprache der LGBTQ+-Bewegung für ihre eigenen | |
Zwecke.“ Der Bericht betont, wie „extrem schädlich“ diese Praktiken für | |
Betroffene sind und warnt Techfirmen, diese Inhalte zu verbreiten. | |
Teilweise haben Social-Media-Unternehmen die Kampagnen im Blick. Instagram | |
blockierte kürzlich ein Profilbild mit dem Logo der Kampagne, vor zwei | |
Jahren löschte Facebook das Profil des Core Issues Trust. In Malta läuft | |
derzeit ein Strafverfahren gegen ein Mitglied der XOL-Kampagne. Der | |
Vorwurf: Werbung für Konversionsbehandlungen. | |
Doch die persönlichen Accounts der XOL-Mitglieder sind auf Instagram weiter | |
aktiv. Dort werben sie nicht nur für den „Ex-LGBT Lifestyle“. Ein | |
20-jähriges Mitglied schreibt in einem Beitrag von der vermeintlichen | |
Gefahr durch den „Kulturmarxismus“. Dazu postet er ein Foto von der | |
KZ-Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau und den Hashtag #endwokeism, also etwa: | |
Beendet die woke Ideologie. Der Beitrag soll wohl nahelegen, dass | |
Forderungen nach einer gleichberechtigten Gesellschaft und der Holocaust in | |
Verbindung gebracht werden können. Es sind das Vokabular und ein Vergleich, | |
die auch die selbsternannte Neue Rechte gern verwenden. | |
Auch die IFTCC hat schon ähnlich argumentiert, um Gesetze zum Schutz vor | |
Konversionsbehandlungen zu verhindern. Diese Sprache wird auch auf der | |
Konferenz in Warschau gesprochen. Sie steht auf Präsentationen an der Wand | |
und gellt von der Bühne. Ein US-amerikanischer Redner diagnostiziert | |
LGBTIQ, Black Lives Matter und der Antifa „dasselbe Problem“: Ihre | |
„marxistischen Herzen“. | |
## Sie warnen vor einem Kulturkampf, den sie selbst befeuern | |
Eine polnische Psychologin erklärt, warum die „Agenda“ von LGBTIQ einer | |
kommunistischen Revolution gleiche. Neben queeren Menschen werden die | |
Medien, der Staat, und Linke zu Widersacher*innen erklärt. Die | |
Anwesenden raunen dann. Augenscheinlich wissen sie, wer gemeint ist, wenn | |
die Speaker*innen sagen: „diese Leute“, „unsere Gegner“. Sie warnen vor | |
einem Kulturkampf, den sie selbst befeuern. | |
Manche nehmen diesen Kampf so ernst, dass sie das Publikum aufrufen, ihn | |
auf die Straße zu tragen. Eine britische Anwältin spricht vor einem | |
„ideologischen Tsunami“ und breitet eine „Langzeitstrategie gegen die | |
LGBT-Ideologie“ vor dem Publikum aus: Die Anwesenden sollen Forschung | |
betreiben, sich in die Politik einbringen, ihre Positionen öffentlich | |
vertreten, wenn es sein muss, bis vor Gericht. Sie sollen in den sozialen | |
Medien aktiv sein und sich in Ethikkommissionen einschleusen. Dann | |
vergleicht sie Schwangerschaftsabbrüche mit den Kriegen in der Ukraine und | |
in Nahost. | |
Die Anwältin sagt es mehr oder weniger deutlich: Wenn es nach ihr ginge, | |
gehörte Homosexualität verboten. Weil sie Strategin ist und Christin und | |
eher in Jahrzehnten denkt, als in den schnellen Schritten des irdischen | |
Lebens, sagt sie auch, wann es so weit sein soll: in rund 60 Jahren. Ihre | |
Präsentation zeigt einen Zeitstrahl mit Jahren, in denen | |
Antidiskriminierungsgesetze in Großbritannien erlassen wurden. Sie | |
präsentiert sie als eine Reihe von Unglücken. | |
Diese Recherche ist in Kooperation mit der britischen Byline Times und dem | |
russischen Exilmedium [5][istories media] entstanden. Sie wurde ermöglicht | |
durch eine Förderung von [6][Journalismfund Europe]. | |
13 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Vermeintliche-Heilung-von-Homosexualitaet/!5638113 | |
[2] https://mosaik-deutschland.de/ | |
[3] https://bylinetimes.com/2023/12/09/these-lgbt-freaks-do-we-have-them-castra… | |
[4] /!674422/ | |
[5] https://istories.media/en/ | |
[6] https://www.journalismfund.eu/ | |
## AUTOREN | |
Antonia Groß | |
Rina Nikolaeva | |
Finbarr Toesland | |
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