# taz.de -- Defizite im Tierschutz: „Das geht auf Kosten der Pferde“ | |
> Im Spitzensport spielen Schmerzen und Angst der Pferde kaum eine Rolle, | |
> sagt die Autorin Marlitt Wendt. Auch Ponyhofbesucher sollten skeptisch | |
> sein. | |
Bild: Der dänische Reiter Andreas Helgstrand beschert der Dressurszene gerade … | |
wochentaz: Frau Wendt, nach all den Berichten über misshandelte Dressur- | |
und Springpferde in diesem Jahr – dürfen wir noch über Spitzensport mit | |
Pferden berichten? | |
Marlitt Wendt: Natürlich, das ist sogar dringend nötig. Die Berichte | |
sollten nur nicht davon handeln, wer was gewonnen hat. Das Miteinander | |
zwischen Mensch und Pferd sollte im Vordergrund stehen, sowohl im Sport als | |
auch in den Berichten darüber. Wer eine Dressurprüfung im Fernsehen schaut, | |
muss erfahren, ob das Pferd darin glücklich und zufrieden ist. | |
Wie erkennt man das? | |
An der Mimik, am aktiven Ohrenspiel: Spitzt das Pferd mal die Ohren, dreht | |
es sie mal zum Reiter? Trägt es seinen Schweif ruhig oder peitscht es | |
hektisch seine Flanke? Öffnet es seine Nüstern normal, oder weitet es sie | |
panisch? Kaut es sanft auf der Trense in seinem Maul? Auch wie viele | |
Schritte das Pferd pro Minute macht, gibt Auskunft darüber, ob es Schmerzen | |
empfindet. Das kann man alles sehen. In diesem Bereich ist in den | |
vergangenen zehn Jahren viel geforscht worden. Es gibt auch eine Fraktion | |
in der Reiterschaft, die das zur Kenntnis nimmt und sich weiterbildet, aber | |
so richtig angekommen ist die Schmerzerkennung bei Tierärzten, Trainern und | |
Richtern noch nicht. Abgesehen davon reicht es nicht, dass etwa die | |
Richterinnen Anzeichen für Schmerzen beim Pferd erkennen, sie brauchen auch | |
Handlungsspielräume. Bislang spielt das Wohlbefinden der Pferde bei der | |
Bewertung in Dressurprüfungen kaum eine Rolle. | |
Wieso nicht? | |
Heute ist es bei Dressurprüfungen so: Reiter und Pferd starten zu Beginn | |
der Prüfung mit 100 Prozent, für jeden Fehler gibt es Abzüge. Man könnte | |
das doch umgekehrt machen: Man beginnt bei 0 und die Richter verteilen | |
Punkte nicht nur für gelungene Lektionen, sondern auch dafür, dass das | |
Pferd sich wohlfühlt. Wessen Pferd klar im Takt geht, mit den Ohren spielt | |
und genüsslich kaut, der bekommt hohe Punktwertungen. | |
Das geht also, pferdefreundlicher Leistungssport? | |
So wie er derzeit organisiert ist, nicht. Man müsste schon alles auf den | |
Kopf stellen. In Zeiten von Internet und Klimakrise ist es ja sowieso ein | |
Unding, Pferde ständig um die Welt zu großen Championaten zu fliegen oder | |
jedes Wochenende auf ein Turnier zu fahren. Und auch für die Pferde ist das | |
purer Stress. Stattdessen könnte man zum Beispiel mehr Onlineprüfungen | |
ausschreiben. Auch die Prüfungsanforderungen müssten angepasst werden. | |
Heute sind im Spring- und Vielseitigkeitsport die Hindernisse zu hoch. Und | |
im Dressur- und Westernsport werden schwierige Lektionen in zu rascher | |
Abfolge abgefragt. Das führt zu Verletzungen und Gelenkkrankheiten der | |
Pferde. Wir müssen die Prüfungsanforderungen herunterschrauben, weg von | |
spektakulären Lektionen hin zu scheinbar langweiligen: Zum Beispiel ist es | |
sehr anspruchsvoll, am langen Zügel einen taktreinen Schritt zu zeigen. Das | |
ist wirklich eine große Leistung, die eine gründliche Ausbildung erfordert, | |
doch diese Übung wird heute gar nicht mehr abgefragt. Ich könnte mir auch | |
die Lektion „Stehenbleiben und absteigen“ vorstellen. Dann zeigt sich, ob | |
das Pferd ruhig stehen bleibt oder aufgeregt um den Reiter herumrennt. Das | |
stellt Reiter und Pferd als ein Team vor. | |
Also, was würden Pferd und Reiter:in in einer pferdefreundlichen | |
Grand-Prix-Kür bei Olympischen Spielen zeigen? | |
Sie würden einen gelassenen Schritt zeigen; der Reiter würde einmal ab- und | |
wieder aufsteigen und die klassischen Elemente vorführen: [1][Das Pferd | |
soll in verschiedenen Haltungen völlig unbefangen gehen.] Es würde in stark | |
versammelnden Lektionen wie Piaffe und Passage … | |
… bei denen das Pferd sehr langsam und erhaben oder gar auf der Stelle | |
trabt … | |
… eine etwas höhere Spannung im Pferd sein. Danach müsste sich das Pferd | |
entspannen können, sich dehnen, den Hals ausstrecken. In der Ausbildung der | |
Pferde strebt man zunächst Takt und Losgelassenheit an, das heißt, das | |
Pferd läuft gleichmäßig mit entspannten Muskeln. Erst später kommt die | |
Versammlung dazu, in der das Pferd die Muskeln anspannt, den Hals | |
aufrichtet und die Hinterbeine beim Laufen weiter unter den Bauch greifen. | |
Diese verschiedenen Ausbildungsstufen müssten in der Prüfung jederzeit | |
abrufbar sein. Das sieht man aber kaum. Stattdessen werden Lektionen | |
abgefragt wie starker Trab, in der die Pferde die Vorderbeine stark | |
anheben. Es werden extra Pferde gezüchtet, die das besonders gut können, | |
wie der Wunderrappe Totilas. Solche Pferde leiden häufig unter | |
Gelenkschäden und Arthrose. Das ist fast schon Qualzucht. Für Laien ist | |
diese Art von Trab ästhetisch und spektakulär, aber es schadet den Pferden. | |
Welcher Fernsehsender würde eine Dressurprüfung übertragen, bei der Isabell | |
Werth fünf Minuten Schritt am langen Zügel reitet und danach einmal auf- | |
und absteigt? | |
Keiner, schon klar. Das Spektakuläre rückt immer mehr in den Vordergrund, | |
nicht nur beim Reitsport. Schauen Sie sich mal eine Gymnastikprüfung von | |
vor 100 Jahren an, das war Handstand, abrollen und Rolle rückwärts. Heute | |
haben Turnerinnen mit Mitte 20 Bandscheibenvorfälle, Fußballer Knieprobleme | |
mit Mitte 30, und Radsport wäre ohne Doping wohl nicht vorstellbar. Wir | |
müssten bei sämtlichen Sportarten aufhören, nur in Extremen zu denken. | |
Sport soll die Gesundheit erhalten und das Wohlbefinden steigern, bei | |
Menschen und bei Pferden. Da bin ich eine Träumerin. | |
Sind das gerade gute Zeiten für Träumer:innen, angesichts der ganzen | |
Skandale? | |
Schon. Die Reiterwelt wird sich bewegen müssen, [2][denn zu Recht machen | |
Tierschutzvereine und Bürger Ärger]. Wenn die Reformen nicht aus der | |
Reiterei selbst kommen, wird sie aus dem Spitzensport herausfliegen oder | |
irgendwann verboten. | |
Was müssten die Reiter:innen ändern? | |
Sie müssen das richtige Pferd für sich auswählen, ein gesundes, vitales, | |
das den Reiter tragen kann. Sie sollten bestimmte Zuchten meiden, in denen | |
die Pferde Probleme mit dem Rücken oder den Knien haben. Außerdem sollten | |
sie Wert auf eine kleinschrittige Ausbildung legen. Ein Pferd braucht eine | |
jahrelange Aufbauarbeit, damit es das Reitergewicht schmerzfrei tragen | |
kann, da gibt es keine Abkürzung. Muskeln und Bänder kann man in einigen | |
Wochen oder Monaten trainieren, die Gelenke brauchen Jahre, um tragfähig zu | |
werden. | |
Viele Pferdefreunde sind empört über die Zustände im Spitzensport – und | |
schicken ihre Kinder in den Ferien auf den Ponyhof. Sie beschreiben in | |
Ihrem Buch, dass „mit Pferden draußen sein“ nicht gleich pferdefreundlich | |
ist. Woran kann ich erkennen, ob es einem Pony gut geht? | |
Unter anderem an der Haltungsform. Kinder sollten lernen, dass Ponys und | |
Pferde nicht gerne alleine in einer Box stehen wollen, sondern in einer | |
Gemeinschaft in Offenställen und Weiden. Die Tiere müssen gesund sein, | |
weder übergewichtig noch mager. Der wichtigste Punkt ist vielleicht, dass | |
die Menschen und die Pferde auf dem Hof positiv und neugierig auf die | |
Kinder zugehen. Wenn sich ein Pony nicht von der Weide holen lassen will | |
oder schnappt, wenn es gebürstet werden soll, dann stimmt etwas nicht. | |
Wie sieht guter Reitunterricht aus? | |
Erst mal sollte es gar nicht nur ums Reiten gehen, sondern auch darum, | |
welche Bedürfnisse Pferde haben. Wann und wie füttern wir sie? Wie pflegen | |
wir sie? Wie gehen Pferde und Ponys miteinander um? Und wie muss ich mit | |
dem Pony umgehen, damit es uns beiden gut geht? | |
Wer reitet, macht das in der Regel, weil er Pferde mag. Warum kommt am Ende | |
häufig Tierquälerei heraus? | |
Reiten hat viel mit Prestige zu tun. In vielen Reitställen geht es schon | |
früh viel um Leistung, darum, wer etwas besser kann, wer das teurere, | |
tollere Pferd hat. Das dreht das positive Miteinander zwischen Mensch und | |
Tier in eine negative Richtung: Man ist mehr wert, wenn man mehr Leistung | |
bringt. Junge Reiter:innen werden auf Erfolg gedrillt, und das geht auf | |
Kosten der Pferde. Im Spitzensport schließlich kann man häufig nicht | |
mithalten, wenn man sich dem Tier gegenüber immer fair verhält, und | |
irgendwann wird es salonfähig, dass das Pferd keine eigene Meinung hat. | |
Zugespitzt gefragt: Will ich als Reiterin wirklich auf einem Pferd sitzen, | |
das eine eigene Meinung hat? | |
Wieso denn nicht? Zum Beispiel kann man mit Reitanfängern so eine Art | |
Agility machen, das man etwa von Hunden kennt. Das Pferd oder Pony läuft | |
Slalom durch Hürden oder tritt auf befremdliche Gegenstände wie eine | |
Plastikplane. Wenn es etwas richtig macht, bekommt das Pferd eine | |
Belohnung, darum macht es das gern. Und der junge Reiter sitzt nur drauf | |
und lässt sich tragen, spürt die Bewegungen. Erst später wird er vom | |
Passagier zum Piloten und nimmt etwa Einfluss auf die Richtung. So kann | |
Partnerschaft entstehen – und Partnerschaft mit dem Pferd, das ist doch das | |
Wunderbare an der Reiterei. | |
3 Dec 2023 | |
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