| # taz.de -- Erdoğan in Berlin: Zwei-Staaten-Lösung im Kanzleramt | |
| > Der türkische Präsident kritisiert einseitig Israels Angriffe in Gaza. | |
| > Doch was Visionen in der Region angeht, sind sich er und Olaf Scholz | |
| > einig. | |
| Bild: Horchen auf die Journalistenfragen: Erdogan und Scholz | |
| Berlin taz | Recep Tayyip Erdoğan möchte anscheinend das Kameralicht im | |
| Kanzleramt nicht verlassen. Er ist mit einer Botschaft im Gepäck angereist, | |
| die er mangels anderer Bühnen in Deutschland bei seinem diesmaligen Besuch | |
| zumindest im Beisein von Olaf Scholz loswerden möchte. „Zum heutigen Tag | |
| gibt es den Ort Gaza nicht mehr“, sagt der türkische Präsident am | |
| Freitagabend im Kanzleramt und [1][verweist auf die mehr als 10.000 Toten | |
| in dem Küstenstreifen.] | |
| Die Angriffe der Hamas auf Israel erwähnt er nicht, Scholz an seiner Seite | |
| tut es dafür direkt. „Herr Präsident, dass wir zu dem aktuellen Konflikt | |
| sehr unterschiedliche Haltungen haben, ist ja kein Geheimnis.“ Damit sind | |
| die unterschiedlichen Standpunkte direkt in den ersten Minuten der | |
| Begegnung ausgetauscht. Doch so unterschiedlich die Bewertung der aktuellen | |
| Lage im Nahen Osten ist, teilen beide Politiker überraschenderweise die | |
| Vision einer 2-Staaten-Lösung in der Region. | |
| Es ist der erste Besuch des türkischen Staatspräsidenten in Berlin [2][seit | |
| seiner Wiederwahl im Mai.] Das Arbeitstreffen ist für Scholz und Erdoğan | |
| gleichermaßen ein diplomatischer Drahtseilakt: Für Deutschland und die | |
| Türkei gibt es in guten gegenseitigen Beziehungen viel zu gewinnen, | |
| wirtschaftlich aber auch gesellschaftlich. Doch der Kitt ist längst dahin. | |
| Zuletzt war es nochmal Erdoğan, der sich mit Lobpreisungen für die Hamas | |
| als Gesprächspartner in Deutschland in Verruf brachte. | |
| Worte, in denen er die Hamas lobte [3][und Israel als „Terrorstaat“ | |
| kritisierte], wiederholte der türkische Präsident in Berlin nicht. Er | |
| schlug dagegen deutlich gemäßigtere Töne an. „Wir machen keinen Unterschied | |
| zwischen Muslimen, Christen und Juden“, sagte Erdoğan. Er fordere eine | |
| sofortige Waffenruhe in der Region. Scholz wiederholte, dass Israel das | |
| völkerrechtlich verbriefte Recht habe, sich gegen die andauernden Angriffe | |
| aus dem Gaza-Streifen zu wehren, wollte aber auch gegenüber dem türkischen | |
| Präsidenten das verbindende nennen: „Gleichzeit sagen wir, jedes Leben ist | |
| gleich viel wert. Seit Jahrzehnten gehört Deutschland zu den größten | |
| Finanzierern palästinensischer Belange.“ | |
| ## Vieraugengespräche für Erdoğan | |
| Es sind eine ganze Reihe von Themen, die der türkische Präsident und der | |
| Bundeskanzler bei einem etwa zweistündigen Arbeitsessen ansprechen wollen. | |
| Beide betonten dabei durchaus auch gemeinsame Interessen: So lobt Scholz | |
| ausdrücklich die türkische Vermittlerrrolle im | |
| Schwarzmeer-Getreideabkommen. Erdoğan sagt, es gebe eine Reihe | |
| „wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und militärischer Themen“ zu | |
| besprechen und stellt gegenüber dem Kanzler auch die Forderung auf, den | |
| EU-Beitritt der Türkei voranzubringen. | |
| Erdoğan kehrt in seiner Rede nach einem Ritt durch die unterschiedlichen | |
| Fragen, von dem Nato-Beitritt Schwedens über ein Migrationsabkommen wieder | |
| zurück zum Nahost-Konflikt. Er wünsche sich, dass „Israel und Palästina | |
| nebeneinander in Frieden leben können“, sagt er. Nur das sei für die Region | |
| eine „nachhaltige Lösung“. Zuvor hatte auch Scholz noch einmal die | |
| Zwei-Staaten-Lösung als „erklärtes Ziel“ bezeichnet. Die | |
| Zwei-Staaten-Lösung für den Nahen Osten scheint auch eine Arbeitsgrundlage | |
| für die beiden Staaten Deutschland und Türkei zu sein. | |
| Inwieweit es wirklich gelungen ist, im Kanzleramt über all diese Fragen zu | |
| sprechen, kann bezweifelt werden. Dorthin zogen sich Erdoğan und Scholz zu | |
| Gesprächen unter vier Augen zurück, nachdem der türkische Präsident mit | |
| einer halben Stunde Verspätung vom Besuch bei Präsident Frank-Walter | |
| Steinmeier angekommen war, mit dem er auch unter vier Augen gesprochen | |
| hatte. | |
| Den ganzen Tag über war das Berliner Regierungsviertel dabei weiträumig | |
| abgesperrt. Der Besuch Erdoğans lief unter dem gleichen | |
| Sicherheitsprotokoll wie der eines US-amerikanischen Präsidenten oder des | |
| israelischen Ministerpräsidenten. Die S-Bahn war gesperrt, Gullideckel | |
| versiegelt. | |
| ## Kein öffentlicher Auftritt für Erdoğan | |
| [4][Die kleine Protestgruppe am Schloss Bellevue] erregte dagegen keine | |
| Aufmerksamkeit. Auch im Kanzleramt war eine andere Demonstration gegen den | |
| Besuch nicht wahrzunehmen. Es scheint, als wäre die deutsche | |
| Zivilgesellschaft anderweitig beschäftigt – zu anderen Zeitpunkten war sie | |
| bekanntlich nicht zu bremsen in Erdoğan-Fanatismus auf der einen und | |
| Ablehnung gegen den türkischen Präsidenten auf der anderen Seite. | |
| Dabei ist auch das Verhalten der türkischen Seite durchaus bemerkenswert. | |
| Zu anderen Zeiten spielte Erdoğan nur zu gern mit den Befindlichkeiten der | |
| Türkeistämmigen in Deutschland, kostete die Debatten hierzulande für seine | |
| nationale Politik aus. Diesmal hat er die Absage, die seinem Besuch des | |
| Länderspiels Türkei gegen Deutschland am Samstag im Berliner Olympiastadion | |
| erteilt worden sein muss, hingenommen. Auch eine Weiterreise Erdoğans nach | |
| Köln, die zeitweilig kolportiert wurde, findet nicht statt. | |
| Der türkische Präsident reist nach dem Menü im Kanzleramt brav wieder nach | |
| Ankara zurück. Entweder hat dies nur mit strikten Vorgaben zum | |
| Arbeitsbesuch aus Berlin zu tun, oder die türkische Regierung war selbst an | |
| einem geräuschlosen Ablauf des Besuchs interessiert. Dass Erdoğan nicht | |
| öffentlich über dieses Rein und Raus in Berlin gemurrt hat, lässt Zweiteres | |
| zumindest vermuten. | |
| 17 Nov 2023 | |
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