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# taz.de -- Deutschlands Türkeipolitik: Vorsichtige Annäherung am Bosporus
> Scholz und Erdoğan leiten mit ihrem Treffen eine Wende in der
> deutsch-türkischen Politik ein: von Distanz zu engerer Kooperation.
Bild: Olaf Scholz und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu Beginn…
Istanbul taz | Als der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz am
Samstagnachmittag gemeinsam mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip
Erdoğan den Pressesaal des Dolmabahçe-Palastes betrat, sah er sehr
zufrieden aus. Hier, am letzten Sitz der Sultane des Osmanischen Reiches
direkt am Bosporus, hat sich Erdoğan ein Präsidentenbüro in Istanbul
einrichten lassen, wo er den deutschen Kanzler zu einem „Arbeitsbesuch“
empfangen hat. Was dann Scholz wenig später vor der Presse verkündete, ist
nicht weniger als eine Nahezu-180-Grad-Wende der deutschen Türkeipolitik.
[1][Wo in den letzten Jahren Distanz, Misstrauen und offene
Auseinandersetzung geherrscht hatte, scheint nun aller Ärger vergessen].
Statt um Pressefreiheit, Rechtsstaat und Menschenrechte geht es jetzt um
gute Zusammenarbeit und eine Reintegration der Türkei in „den Westen“.
Schon in seinem Eingangsstatement stellte Erdoğan zufrieden beim Thema
Waffenverkäufe fest, dass sich die Beziehungen beim Rüstungsexport
normalisiert hätten. Bereits zwei Wochen vor dem Besuch von Scholz in
Istanbul berichtete der Spiegel, dass der Bundessicherheitsrat
Waffenexporte an die Türkei im dreistelligen Millionenbereich genehmigt
habe. Die Bundesregierung dementierte diesen Bericht nicht.
Beziehung beim Rüstungsexport normalisiert
Auf Nachfragen sagte Scholz dazu: „Die Türkei ist Mitglied der Nato. [2][Es
ist ganz normal, dass wir an unseren Nato-Bündnispartner Waffen liefern].“
Tatsächlich geht es nicht nur um ein paar Ersatzteile für Kriegsschiffe
oder U-Boote wie in den letzten Jahren, sondern auch um ein Juwel der
europäischen Rüstungsindustrie: den Eurofighter. Das Kampfflugzeug wird von
Großbritannien, Italien, Spanien und Deutschland gebaut und kann auch nur
mit Zustimmung aller vier Länder exportiert werden. Frühere Anfragen der
Türkei scheiterten schon im Vorfeld, weil Deutschland klargemacht hatte,
dass es auf keinen Fall zustimmen werde. Das ist jetzt anders. Den Verkauf
von insgesamt 40 Eurofightern an die Türkei verhandelt zwar Großbritannien,
doch Scholz machte klar, dass Deutschland dem nicht mehr im Weg stehen
würde. „Wir warten die Verhandlungen mit Interesse ab“, sagte er.
Auch sonst waren sowohl von Scholz wie von Erdoğan bislang ungewohnte Töne
zu hören. „Unsere bilateralen Beziehungen sind sehr gut“, stellten beide
fest, was auch durch die bekannten Meinungsverschiedenheiten über Israel
und den Krieg im Nahen Osten offenbar nicht beeinträchtigt wurde. Obwohl
Erdoğan mehrfach den israelischen „Völkermord“ im Gazastreifen beklagte,
begnügte Scholz sich damit, festzuhalten, das Deutschland da bekanntermaßen
eine andere Position habe und man sich trotzdem gemeinsam darauf
konzentrieren wolle, für einen Waffenstillstand und längerfristig eine
Zweistaatenlösung zu werben. Erdoğan wiederum wollte deutsche
Waffenlieferungen an Israel nicht kommentieren und redete stattdessen
lieber darüber, welche furchtbare Zerstörung die von den USA an Israel
gelieferten modernen F-35 Kampfbomber im Gazastreifen und im Libanon
anrichten würden.
Wie man aus Kreisen der Kanzlerdelegation hören konnte, hofft Scholz sehr
darauf, dass Erdoğan bei der Vorbereitung echter Verhandlungen zwischen
Russland und der Ukraine eine wichtige Rolle spielen könnte. Bei aller
Beteuerung über die ungebrochene Unterstützung der Ukraine durch
Deutschland hat Scholz doch in den letzten Wochen auch mehrfach anklingen
lassen, dass es Zeit würde, sich auch um Verhandlungen ernsthaft zu
bemühen. Das Thema dürfte auch bei seinem Gespräch mit US-Präsident Joe
Biden in Berlin unmittelbar vor seinem Abflug nach Istanbul eine Rolle
gespielt haben. Es scheint so, dass Deutsche und Amerikaner sich einig
sind, dass man Erdoğan da in Zukunft noch brauchen wird.
Der Schwenk in der deutschen Türkeipolitik ist enorm
Obwohl die Frage der Abwehr und Abweisung von Flüchtlingen einer der
Hauptgründe gewesen sein dürfte, warum Scholz gerade jetzt unbedingt für
ein paar Stunden nach Istanbul kommen wollte, hielten sich doch beide
Seiten darüber sehr bedeckt. Scholz sagte, dass Deutschland und die EU
insgesamt die Türkei bei der Unterbringung von bald 4 Millionen syrischen
Flüchtlingen weiterhin finanziell unterstützen würden, von einem neuen oder
auch nur erneuerten EU-Türkei Flüchtlingsdeal war aber nicht die Rede.
Lediglich als Scholz gefragt wurde, ob er sich bei der Abschiebung
syrischer Flüchtlinge die in Deutschland kriminell geworden sind, Hilfe von
der Türkei erwartet, ließ er durchschimmern, dass Abschiebungen nach Syrien
ohne die Nachbarländer kaum vorstellbar sind. Auch, wenn beide Seiten bei
diesem Thema vage blieben kann sich das bald ändern, sie wollen nämlich
wieder regelmäßige Regierungskonsultationen gemeinsam mit diversen
Ministern aufnehmen. Die Flüchtlingspolitik wird sicher eine wichtige Rolle
spielen.
Der Schwenk in der deutschen Türkeipolitik ist zwar enorm, ganz
überraschend kommt er aber nicht. Scholz hatte sich vor seiner
Istanbul-Reise in diesem Jahr schon zweimal mit Erdoğan am Rande
internationaler Veranstaltungen, zuletzt bei der UNO in New York getroffen.
Außerdem war ja schon Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im April
dieses Jahres zu seinem „Döner-Gipfel“ in der Türkei. Erdoğan ist so
beeindruckt davon, dass er nun Steinmeier seinen Freund nennt. [3][Kurz vor
Scholz besuchte dann noch der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil das Land].
Während Scholz sein Verhältnis zu Erdoğan verbesserte, traf sich Klingbeil
mit der Oppositionspartei CHP. Die CHP ist nicht nur die
sozialdemokratische „Schwesterpartei“ der SPD, sondern könnte auch nach den
nächsten Wahlen den Präsidenten und/oder den Ministerpräsidenten stellen.
Die beiden Parteien wollen zukünftig enger zusammenarbeiten. Zumindestens
dort soll weiterhin über die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und insgesamt
über die Stärkung einer „regelbasierten Weltordnung“ geredet werden. Die
SPD- Spitze hofft jedenfalls, dass die CHP, sollte sie an die Macht kommen,
wieder für eine unabhängige Justiz sorgen wird. Und die jetzigen
politischen Gefangenen wie den früheren Vorsitzenden der kurdischen Partei
Selahattin Demirtaş und den Menschenrechtler Osman Kavala auf freien Fuß
setzen wird.
20 Oct 2024
## LINKS
[1] /Erdoan-in-Berlin/!5973647
[2] /Erdoan-Besuch-in-Berlin/!5969781
[3] /Migrationsabkommen-mit-der-Tuerkei/!6040554
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
## TAGS
Recep Tayyip Erdoğan
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Türkei
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