| # taz.de -- NGO-Aktivistin über Gewalt gegen Frauen: „Die humanitäre Hilfe … | |
| > Das Auswärtige Amt löse den Anspruch feministischer Außenpolitik nicht | |
| > ein, sagt Anica Heinlein von CARE anlässlich des Tages gegen Gewalt gegen | |
| > Frauen. Der Ansatz aber sei trotzdem richtig. | |
| Bild: Feministische Mission: Außenministerin Baerbock im August 2023 | |
| wochentaz: Frau Heinlein, die Angriffe der terroristischen Hamas am 7. | |
| Oktober haben sich [1][explizit gegen Frauen], Aktivist*innen, Mütter und | |
| Kinder gerichtet. Auch unter den Verschleppten sind überproportional viele | |
| Frauen. Was bedeutet das? | |
| In Konflikten weltweit steigt geschlechtsspezifische Gewalt erschreckend | |
| an. Trotzdem wird über die Lage von Mädchen und Frauen in Kriegen bislang | |
| viel zu wenig gesprochen. Durch die Videos von Vergewaltigungen, die nun | |
| verbreitet wurden, hat die Öffentlichkeit das sehr direkt mitbekommen. Dass | |
| bewaffnete Gruppen Social Media in dieser Form einsetzen, ist neu. Ich | |
| verurteile das zutiefst. Aber jetzt wird sehr sichtbar, was die Realität | |
| für viele Frauen und Mädchen in Konflikten ist. | |
| Was folgt aus dieser Sichtbarkeit? | |
| Erschreckend wenig. Wir müssen weg von der Symptombetrachtung, wir müssen | |
| an die Ursachen ran. | |
| Geschlechtsspezifische Gewalt in Konflikten stärker in den Blick zu nehmen, | |
| hat sich auch Außenministerin [2][Annalena Baerbock] zum Ziel gesetzt. Sie | |
| selbst haben sich für CARE jahrelang für eine feministische Außenpolitik | |
| und darin auch für geschlechtersensible humanitäre Hilfe stark gemacht. Ist | |
| die Tatsache, dass es seit einiger Zeit Leitlinien für feministische | |
| Außenpolitik gibt, ein Erfolg? | |
| Das war ein wichtiger erster Schritt: Mit der Vision einer | |
| gleichberechtigten Welt für alle Menschen, auch mit dem Vorbildcharakter, | |
| den Deutschland international bei einer konsequenten Umsetzung hätte, | |
| könnten wir einen großen Schritt weiter sein. | |
| Könnten? Merken Sie in der Praxis nichts davon? | |
| Viel zu wenig. Der Wille ist da, aber jenseits des Bekenntnisses hat sich | |
| bisher nicht viel getan. Was zum Beispiel immer wieder betont wird, ist, | |
| dass das Auswärtige Amt auf Reisen jetzt paritätisch besetzte Delegationen | |
| habe. Das reicht natürlich nicht. | |
| Was müsste passieren? | |
| Mein erster Kritikpunkt ist, dass die Leitlinien zur feministischen | |
| Außenpolitik nur vom Auswärtigen Amt und BMZ stammen. Wesentliche Ressorts, | |
| die auch Außenpolitik machen – Wirtschaft, Umwelt, Verteidigung – tauchen | |
| da nicht auf. Diese fehlende Verankerung ist offensichtlich. | |
| Was fehlt Ihnen genau? | |
| Feministische Außenpolitik stellt zivilgesellschaftliche lokale Kräfte in | |
| den Mittelpunkt. Aber ich sehe zum Beispiel im Nahostkonflikt gerade nicht, | |
| dass der lokalen Bevölkerung zugehört wird, die die Folgen des Ganzen | |
| tragen – explizit auf keiner Seite. | |
| Sie engagieren sich mit CARE nicht nur für feministische Außenpolitik, | |
| sondern leisten auch humanitäre Nothilfe. Sie versorgen die Menschen mit | |
| dem Notwendigsten wie sauberem Wasser, Unterkünften, medizinischer | |
| Versorgung, aber auch sicheren Räumen für Frauen und Mädchen. Bekommen Sie | |
| momentan Hilfe in den Gazastreifen? | |
| Nein. Die Einfuhr von Hilfsgütern über Ägypten in den Gazastreifen | |
| gestaltet sich derzeit noch schwierig. Unsere lokalen CARE Kolleg:innen | |
| und Mitarbeiter:innen unserer Partnerorganisationen sind genauso | |
| Binnenflüchtlinge wie im Moment die Mehrheit der Menschen im Gazastreifen. | |
| Die Kommunikation mit ihnen reißt immer wieder ab. In Gaza selbst sind | |
| immer weniger Hilfsgüter verfügbar. Und was über die Grenze kommt, kann | |
| kaum verteilt werden, weil es zu wenig Benzin gibt, die | |
| Straßeninfrastruktur zerstört ist und die Sicherheitslage den Zugang zu den | |
| Menschen in Not erschwert. Entsprechend sind uns im Moment an vielen | |
| Punkten die Hände gebunden. | |
| Können Sie politisch Einfluss nehmen? | |
| Wir sprechen nonstop. Wir sprechen in Washington, New York, London, Paris, | |
| Brüssel und Berlin mit unseren politischen Ansprechpartner:innen, dass sie | |
| ihren Einfluss auf die Konfliktparteien nutzen. Wir benötigen sicheren | |
| Zugang für unsere Hilfsgüter. Wir brauchen ausreichend lange Feuerpausen, | |
| um die Menschen in Not verlässlich und sicher zu erreichen. Und wir | |
| erinnern immer wieder, dass auch Kriege Regeln folgen müssen. Die | |
| Zivilbevölkerung muss geschützt werden. Dazu gehört auch die Freilassung | |
| aller Geiseln. Das darf einfach nicht vergessen werden. | |
| Das Ziel feministischer Außenpolitik ist nachhaltiger Frieden. Aus | |
| westlicher Perspektive sieht es dafür momentan weltweit so schlecht aus wie | |
| lange nicht – oder? | |
| Eine Rekordzahl von Menschen ist im Moment auf humanitäre Hilfe angewiesen. | |
| CARE arbeitet derzeit in über 100 Ländern weltweit, davon in 67 aktiven | |
| humanitären Krisen. Neben dem Krieg in der Ukraine und dem bewaffneten | |
| Konflikt in Gaza gibt es die stillen Krisen, über die im Moment nur noch | |
| wenig gesprochen wird. Dazu zählen zum Beispiel Konflikte im [3][Jemen] | |
| oder in Syrien. Natürlich ist die weltweite Lage derzeit dramatisch. Aber | |
| Frieden und das Bekenntnis dazu beginnen immer mit dem ersten Schritt. | |
| Feministische Außenpolitik setzt auf Demilitarisierung, Deeskalation und | |
| Diplomatie. Ist diese Art der Politik zum Beispiel in der Ukraine und Gaza | |
| nicht schon gescheitert, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat? | |
| Nur weil Demilitarisierung und Deeskalation im Diskurs momentan kaum eine | |
| Rolle spielen, sind sie nicht weniger wichtig. Im Zentrum von | |
| feministischer Außenpolitik steht die menschliche Sicherheit. Die Situation | |
| in all diesen Konflikten ist für die Menschen, die dort leben, unhaltbar. | |
| Auch praktische humanitäre Hilfe ist oft nur sehr begrenzt möglich, damit | |
| müssen wir gerade in Gaza umgehen. Deswegen müssen wir darüber sprechen, | |
| wie die Hilfe zu den Menschen kommen kann. Wie sollte das passieren, wenn | |
| nicht in Feuerpausen, unter [4][Waffenruhen]? Dass Ziele schwer erreichbar | |
| scheinen, heißt nicht, dass man sie nicht verfolgen sollte. | |
| Zum Beispiel auf die Ukraine bezogen: Verhandlungen sind mäßig sinnvoll, | |
| wenn der Gesprächspartner wie im Fall von Russland nicht verlässlich ist, | |
| oder? | |
| Wenn in Phasen wie jetzt in der Ukraine vergessen wird, dass geredet werden | |
| muss, sind die Gesprächskanäle dann, wenn man sie braucht, nicht mehr da. | |
| So verhärtet die Fronten sind, so schwierig und enttäuschend die Gespräche | |
| sein mögen – es ist doch die älteste Weisheit der Welt, dass man im Krieg | |
| nicht mit Freunden spricht. | |
| Sondern eben mit Feinden? | |
| Ja, natürlich. Man spricht dort, wo es unangenehm ist. Wenn man die Kanäle | |
| nicht offen hält, gibt es sie irgendwann nicht mehr. Und wenn man die | |
| zivilgesellschaftlichen Kräfte nicht unterstützt, dann gibt es auch die | |
| irgendwann nicht mehr. Das gilt besonders für frauengeführte- und | |
| Frauenrechtsorganisationen. | |
| Fast 90 Prozent dieser Organisationen weltweit haben laut dem Women’s Peace | |
| and Humanitarian Fund ohnehin permanent Angst, pleite zu gehen und ihre | |
| Arbeit einstellen zu müssen. Gerade in Kriegen und Konflikten heißt es dann | |
| ganz oft: jetzt vergesst doch mal eure Geschlechtergerechtigkeit – wir | |
| müssen Leben retten! Aber wer Geschlechtergerechtigkeit an diesem Punkt | |
| vergisst, rettet eben keine Leben. | |
| Gar keine? | |
| Doch, aber die Bedarfe von Männern und Frauen, Jungen und Mädchen in | |
| Krisensituationen sind sehr verschieden. Wenn die Bedürfnisse der Hälfte | |
| der Menschen ignoriert werden, schafft man längerfristig Probleme, die nur | |
| noch schwer zu lösen sind. Und man leistet keine bedarfsgerechte Hilfe. | |
| Haben Sie ein Beispiel? | |
| Wenn sanitäre Anlagen nicht beleuchtet und abschließbar sind, ist das ein | |
| Problem für Frauen und erhöht das Risiko für sexualisierte Gewalt. Wenn die | |
| Tatsache, dass Frauen schwanger werden und Kinder bekommen können, in der | |
| Gesundheitsversorgung nicht mitgedacht wird, was machen die dann in den | |
| Camps? Laut UN ist die Müttersterblichkeit in humanitären Krisen fast | |
| doppelt so hoch wie der Weltdurchschnitt. Mehr als die Hälfte aller Frauen, | |
| die während oder in Folge einer Geburt sterben, sind in humanitären Krisen | |
| zu beklagen. | |
| Und die Mehrheit dieser Todesfälle sind vermeidbar – weil man vergessen | |
| hat, dass Frauen auch in Krisen Kinder bekommen. Oder eben Versorgung in | |
| diesen Fällen als zweitrangig sieht und auf später verschiebt. In einer | |
| Krise braucht man Flüchtlingscamps vielleicht von einem Tag auf den | |
| anderen. Aber Kriege dauern heute im Schnitt über neun Jahre, die Camps | |
| bestehen teils Jahrzehnte. Etwas im Nachhinein zu verändern, ist schwierig, | |
| wenn sie erstmal aufgebaut sind. Und das kostet im Zweifel eben Leben. | |
| Können Sie beziffern, inwiefern Mädchen und Frauen in der humanitären Hilfe | |
| mitgedacht werden? | |
| Seit langem ist klar, dass Kriege und Konflikte die sowieso ungleiche | |
| Situation von Mädchen und Frauen verschärfen. Aber in dem, wie diese | |
| Bereiche finanziert werden, wird das überhaupt nicht gespiegelt. Derzeit | |
| liegt der weltweite Anteil von geschlechtsspezifischer humanitärer Hilfe | |
| bei 2,1 Prozent. Das ist weder bedarfsgerecht noch feministisch. | |
| Das Auswärtige Amt hingegen bekennt sich in seinen Leitlinien zu | |
| feministischer Außenpolitik zu hundert Prozent zu geschlechtersensibler | |
| und, wie die Leitlinien es ausdrücken, wo immer möglich | |
| geschlechterspezifischer humanitärer Hilfe. Das ist zwar grundsätzlich gut | |
| – aber bisher steht das nur auf dem Papier. Was genau hinter diesen | |
| Begriffen steckt, was die künftigen Minimum-Anforderungen für alle sind, | |
| ist noch nicht definiert. | |
| Wir als CARE erwarten uns, dass sehr bald klar ist, was sich praktisch | |
| verändert und was das finanziell bedeutet. Denn bisher ist humanitäre Hilfe | |
| männlich. Solange das so bleibt, tragen die Konsequenzen davon Frauen und | |
| Mädchen in Konflikten. | |
| 25 Nov 2023 | |
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