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# taz.de -- Ukraine-Krieg und Georgien: Blick zurück, um Neues zu schaffen
> Die georgische Künstlerin Tamuna Chabashvili macht auch den
> georgisch-abchasischen Krieg zum Thema. Bis Dezember stellt sie ihre
> Werke aus.
Bild: Die durchlässige und gleichzeitig schützende Struktur von Tarnnetzen in…
Berlin taz | Ich war 16 Jahre alt, als ich zum ersten Mal zu Gast bei einer
Freundin war, die mit mir in die selbe Klasse ging. Das kleine klapprige
Holzhaus, das nach dem ersten [1][armenisch-aserbaidschanischen Krieg von
1991 bis 1994] als vorübergehende Unterkunft für Flüchtlinge dienen sollte,
war für etwa 30 Jahre das Zuhause dieser Familie. Das Haus war fast leer,
aber an der Wand hing eine Flickendecke, die die Familie wie ihren Augapfel
hütete.
Die Familie meiner Freundin hatte in der Region Schaumjan in Bergkarabach
gelebt, die während des Krieges unter die Kontrolle der Aserbaidschaner
geriet. Der Vater war an der Front. Um meine Freundin, ihre beiden
Schwestern und die kranke Großmutter kümmerte sich die junge Mutter. Als
sie mit ihrer älteren Tochter wieder einmal in ein Nachbardorf ging, um
ihre Mutter zu besuchen, erhielt sie die Nachricht, dass die
Aserbaidschaner ihr Heimatdorf besetzt hätten.
Die Mutter machte sich mit ihrer ältesten Tochter und ihrer kranken Mutter
sofort auf die Suche nach den jüngeren Töchtern. Doch es war nicht möglich,
ins Dorf zu gelangen. Menschen, die ihnen unterwegs begegneten, sagten,
dass es im Dorf ein Massaker gegeben habe.
Die Frau versteckte sich im Wald und versuchte, jemanden zu finden, der
etwas über ihre Töchter wusste. Am dritten Tag bemerkte sie unter einem
Baum zwei Häufchen, die mit einer von ihr genähten Decke bedeckt waren. Es
war diese Decke, die die kleinen Mädchen vor kalten Nächten und schlechten
Träumen bewahrt hatte. Sie wurde in der Familie weitergegeben – von der
Mutter an die Tochter – sie war der größte Reichtum.
## Alltagsgegenstände wie Decken aus Sowjetzeiten
Auch für die georgische Künstlerin Tamuna Chabashvili sind
Alltagsgegenstände wichtig. Aus diesem Grund verwendet sie in ihren
Kunstprojekten oft Dinge, die Menschen gehörten und die deren Erinnerung
und Geschichte repräsentieren.
„Ich gehöre zu den Künstlern, die zurückblicken. Für mich ist die
Erinnerung ein einzigartiges Archiv, das mein Weltbild beeinflusst. Dies
ist auch der Ausgangspunkt, um Neues zu schaffen. Andererseits ist unser
Gedächtnis oft verzerrt. Es ist sehr schwer zu sagen, welche unserer
Erinnerungen Realität und welche Fiktion sind. Aber hier sind die
Gemeinsamkeiten mit der Kunst – auch in der Kunst erschaffen wir aus dem
Realen das Unwirkliche“, sagt Tamuna Chabashvili, die bis zum Ende Dezember
bei der [2][Ausstellung „All the Dots Connected Form an Open Space Within“]
mitwirkt.
Die Umwandlung von Archivmaterial, persönlichen Geschichten und
Erinnerungen in visuelle und greifbare Erzählungen ist für die Künstlerin
eine Möglichkeit, das Erbe der Vergangenheit zu interpretieren und Wege zu
finden, wie „Anti-Erinnerungen“ oder „Anti-Geschichten“ das Schweigen
füllen können.
Als Tamuna Chabashvili das Angebot erhielt, ein Projekt zu machen, das über
eines der schwierigsten Ereignisse in der modernen Geschichte Georgiens –
[3][den Konflikt mit Abchasien] – erzählt, dachte sie, dass daraus
greifbares Material werden könnte. Dieses hätte einerseits historische
Resonanz und wäre andererseits Träger einer sehr persönlichen Erinnerung.
## Ein Konflikt, aus persönlicher Sicht erzählt
Die Künstlerin räumt ein: Es sei sehr schwierig, eine Geschichte ohne ein
vollständiges Narrativ zu erzählen, in der es um einen Konflikt geht, an
dem die Parteien sich immer noch gegenseitig die Schuld geben.
„Mir war es wichtig, dieses Projekt nicht aus der Sicht einer der Parteien,
sondern aus meiner ganz persönlichen Perspektive zum Leben zu erwecken. Mir
wurde klar, dass ich nur eine Beobachterin bin, die die Entwicklung der
Ereignisse in den Medien verfolgt. Und als ich mich noch einmal den Fotos
von der Massenvertreibung aus Abchasien zuwandte, sah ich, wie Menschen in
Decken gehüllt versuchten, über die Berge zu fliehen. Mir wurde klar, dass
diese Decken für viele ein Zuhause waren“, sagt Tamuna Chabashvili.
Als Haupt-„Leinwand“ für das Projekt „The Corridors of Conflict, Abkhazia
1989–1995“ wählte sie eine Decke aus, auf der später Archivbeweise,
Fotografien und verschiedene andere Schichten Platz fanden, die spezifische
menschliche Geschichten erzählen. Rot-weiß, blau-weiß karierte Decken sind
ein einzigartiges Symbol der Sowjetunion und der postsowjetischen Realität.
Sie waren in jeder sowjetischen Familie vorhanden.
Die Künstlerin erinnert sich: Sie habe etwa 30 Decken gesammelt und diese
in einer Ausstellungshalle platziert. Jeder, der vorbeikäme, sollte sofort
seine eigenen Erfahrungen machen und eigene Assoziationen mit ihnen
verbinden. Erst danach würde eine Person versuchen, die durch jede Decke
übertragenen Informationen zu analysieren.
„Persönliche Erfahrungen sind mir sehr wichtig. Binnenflüchtlinge verbinden
möglicherweise ganz unterschiedliche Assoziationen mit diesen Decken – ganz
anders als diejenigen, die diese Ereignisse im Fernsehen verfolgt haben.
All diese Erfahrungen treffen aufeinander und treten in einen Dialog –
mithilfe von Decken“, sagt sie. Jede Decke erzähle eine einzigartige
Geschichte und werde zu einem tragbaren Zuhause. Diese Idee spiegelt sich
in einem Werk der Künstlerin wider. Auf einer gelb-roten Tagesdecke sticht
ein wunderschönes Bild aus Linien und Zahlen hervor: Anweisungen zum Bau
eines tragbaren Hauses oder Zeltes.
Aus dem Russischen: Barbara Oertel
30 Nov 2023
## LINKS
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[3] /Konflikt-in-Georgien-um-Suedossetien/!5794125
## AUTOREN
Sona Martirosyan
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