| # taz.de -- Geschlechtersensible Forschung: Gender-Gap auf dem OP-Tisch | |
| > Viele Krankheiten äußern sich bei Frauen und Männern unterschiedlich. Das | |
| > ist zwar bekannt, aber in der deutschen Forschungswelt tut sich wenig. | |
| Bild: Das weibliche Herz wird notdürftiger versorgt – das zeigen Daten zu He… | |
| Männer und Frauen erkranken unterschiedlich. Das ist schon lange bekannt. | |
| Symptome unterscheiden sich. Beim Herzinfarkt etwa, der sich bei Frauen | |
| meist durch Oberbauchschmerzen und Übelkeit statt durch einen in den linken | |
| Arm ausstrahlenden Brustschmerz äußert. Aber auch Medikamente und Therapien | |
| können geschlechterspezifisch wirken. Trotzdem sind Beipackzettel und | |
| Behandlungskonzepte bis heute immer noch [1][vorwiegend auf den männlichen | |
| Paradepatienten genormt]. | |
| Um jedem die bestmögliche Behandlung anbieten zu können, braucht es | |
| medizinische Forschung, die biologische und soziokulturelle Unterschiede | |
| berücksichtigt. Im Moment gleicht [2][der sogenannte Gender-Daten-Gap] | |
| hierzulande aber noch dem Marianengraben. | |
| „Wir hinken rund 20 Jahre hinterher“, sagt Gertraud Stadler, Professorin | |
| für geschlechtersensible Präventionsforschung an der Berliner Charité. | |
| „Deswegen fehlen uns viele Daten, die eine gezielte Prävention, Diagnostik, | |
| Behandlung und Nachsorge von Männern, Frauen und nicht-binären Personen | |
| ermöglichen.“ | |
| Vor 20 Jahren gründete die Charité das interdisziplinäre Zentrum Gender in | |
| Medicine und blieb damit in der deutschen Forschungslandschaft lange Zeit | |
| völlig allein. Seit September verstärkt nun die Universität des Saarlandes | |
| den Forschungsbereich mit ihrem Centrum für geschlechtsspezifische Biologie | |
| und Medizin an der medizinischen Fakultät in Homburg. Vor zwei Jahren wurde | |
| außerdem eine 50-prozentige Professur für geschlechtersensible Medizin in | |
| Bielefeld besetzt, und 2022 gründeten acht nordrhein-westfälische | |
| medizinische Fakultäten das Netzwerk Geschlechtersensible Medizin NRW. | |
| ## Woher der Rückstand? | |
| Und für das Jahr 2025 ist vorgesehen, geschlechtsspezifische Unterschiede | |
| im Lehrplan des Medizinstudiums zu verankern. Das wirkt nicht unbedingt wie | |
| ein Masterplan für die Gendermedizin im sonst so gefragten | |
| Forschungsstandort Deutschland. | |
| Ursachen für den Rückstand gegenüber Vorreiterländern gibt es viele: In den | |
| USA, dem Ursprungsland der Gendermedizin, wurde geschlechtssensible Medizin | |
| schon Mitte der 80er Jahre, unter anderem von der Nationalen | |
| Gesundheitsbehörde, institutionalisiert und 1990 mit einer staatlichen | |
| Forschungseinrichtung für Frauengesundheit verstärkt. Seit 1993 sind | |
| Forschende in den nordamerikanischen Staaten zudem gesetzlich verpflichtet, | |
| Frauen und ethnische Minderheiten in sämtliche Studien miteinzuschließen. | |
| Auch in Kanada müssen sich Wissenschaftler:innen rechtfertigen, wenn | |
| sie nur Männer oder nur Frauen untersuchen. Stadler findet es auch | |
| bemerkenswert, dass Kanada ein eigenes nationales Institute of Gender and | |
| Health innerhalb der wichtigsten Bundesbehörde für die Finanzierung der | |
| medizinischen Forschung hat. | |
| „Es hat sich gezeigt, dass es Institutionalisierungen und Gesetzgebungen | |
| braucht, um zügig voranzukommen“, sagt Gertraud Stadler und kritisiert, | |
| dass diese in Deutschland bis heute fehlen. In der Grundlagenforschung | |
| werde oft nicht einmal festgehalten, ob weibliche oder männliche Zellen | |
| beobachtet wurden. Gleichzeitig sind Frauen in klinischen Studien nach wie | |
| vor unterrepräsentiert, was sogar auf weibliche Versuchsmäuse zutrifft, da | |
| der weibliche Organismus mit seinen Hormonschwankungen und wegen möglicher | |
| Schwangerschaften als zu kompliziert gilt. | |
| „Außerdem fällt natürlich auf, dass es vor allem Frauen und Menschen mit | |
| diversem Hintergrund sind, die gendermedizinische Forschung vorantreiben.“ | |
| In Amerika setzte sich etwa die Kardiologin und Direktorin der Nationalen | |
| Gesundheitsbehörde Bernadine Healy für die Institutionalisierung ein. In | |
| Deutschland gilt die Kardiologin Vera Regitz-Zagrosek als Pionierin. Mitte | |
| der 80er Jahre war sie die erste Frau in der Kardiologie der Charité. | |
| Damals galt der Herzinfarkt noch als rein männliche Erkrankung – eine | |
| Fehleinschätzung, die zahlreiche Leben kostete. Regitz-Zagrosek erkannte | |
| die Versorgungslücke und schloss diese mit gezielter Forschung, so dass die | |
| Gewissheit über den weiblichen Infarkt heute Konsens ist. Im Jahr 2003 | |
| gründete die Forscherin dann eigeninitiativ das Zentrum für Gender in | |
| Medicine. Ein beeindruckender Alleingang. | |
| ## Fehlende Fördergelder | |
| Aber warum gab es so wenig Unterstützung? „Es fehlt hier seit jeher an | |
| Frauen in Entscheidungspositionen“, sagt Stadler und verweist auf die | |
| Statistik: Nur 13 Prozent aller Kliniken werden von Frauen geleitet, und | |
| nur 19 Prozent aller Führungspositionen in Krankenhäusern sind weiblich | |
| besetzt. „Mein Eindruck ist, dass die Hierarchien in der Medizin in | |
| Deutschland schon immer starrer gewesen sind als in den USA oder in | |
| Kanada.“ Ein Indiz dafür ist auch der Gender-Pay-Gap, der in der Medizin | |
| mit 30 Prozent besonders groß ist. Im Durchschnitt sind es 18 Prozent. | |
| Ein zentraler Faktor seien zudem Fördergelder, ergänzt Prof. Dr. Sandra | |
| Iden, eine der Initiator:innen des neuen Forschungszentrums im | |
| Saarland. „Jedes Forschungsvorhaben beginnt bei uns am Schreibtisch, damit, | |
| dass wir Förderanträge stellen.“ Sie planen aktuell 20 Forschungsprojekte: | |
| „Wir wollen zum Beispiel herausfinden, wie sich die männliche und die | |
| weibliche Bauchspeicheldrüse unterscheiden und welchen Einfluss diese | |
| Unterschiede auf die Entstehung und den Verlauf von Diabetes haben“, | |
| erzählt die Forscherin. | |
| ## Forschung auch zu trans Menschen | |
| Trans-Gender-Forschung sei den Wissenschaftler:innen ebenfalls | |
| wichtig: „Allerdings brauchen wir erstmal das Grundlagenwissen über die | |
| Unterschiede zwischen Männern und Frauen, um uns dann mit den zahlenmäßig | |
| kleineren diversen Gruppen zu befassen.“ | |
| Entsprechende Gelder werden derzeit vor allem vom Bundesministerium für | |
| Bildung und Forschung und vom Bundesgesundheitsministerium vergeben. | |
| Allerdings erschwere die zeitliche Befristung der Projekte die Etablierung | |
| nachhaltiger interdisziplinärer Zusammenarbeit, kritisiert der | |
| Wissenschaftsrat. | |
| Er empfiehlt spezifische Maßnahmen zu treffen, um die Berücksichtigung von | |
| Geschlechterperspektiven in der medizinischen Forschung und Entwicklung zu | |
| erhöhen und dauerhaft zu verankern. Der Aufbau großer und nachhaltiger | |
| Förderprogramme sowie eine Verpflichtung für das Thema seitens der | |
| Hochschulen, Universitätskliniken, Ärztekammern sowie Kostenträger im | |
| Gesundheitswesen und in den Gesundheitsministerien seien ratsam. | |
| ## Grundlagenforschung vorantreiben | |
| In Homburg plant das Team um Sandra Iden und den Neurowissenschaftler Prof. | |
| Frank Kirchhoff nun, die Expertise rund um das Thema der | |
| geschlechtssensiblen Biologie und Medizin zu bündeln, Synergien zwischen | |
| Projekten zu schaffen und Kooperationen mit internationalen Forschenden zu | |
| erleichtern. „Wir wollen die Grundlagenforschung vorantreiben und | |
| erreichen, dass gewonnene Erkenntnisse schneller in die Klinik einfließen, | |
| also die Patientenversorgung verbessern“, sagt Iden. | |
| Gertraud Stadler hofft auch auf den medizinischen Nachwuchs: „Während | |
| ältere Kolleg:innen dem Fach teils skeptisch gegenüberstehen, empfinden | |
| junge Menschen die gendersensible Datenerhebung als selbstverständlich.“ | |
| Gendermedizin ist übrigens keine Frauensache. Denn auch bei Männern werden | |
| etwa Osteoporose, Depressionen oder Brustkrebs später diagnostiziert und | |
| schlechter therapiert. „Auch das wollen wir ändern“, sagt Stadler. | |
| 23 Nov 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Geschlechtersensible-Medizin/!5750217 | |
| [2] /Gender-und-Wissenschaft/!5685021 | |
| ## AUTOREN | |
| Verena Fischer | |
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