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# taz.de -- Buch „3 – Ein Leben außerhalb“: Lob der Freundschaft
> Der Philosoph Geoffroy de Lagasnerie beschäftigt sich in seinem neuen
> Buch mit der Freundschaft. Paare und Familien dagegen seien reaktionär.
Bild: Signierstunde von Éduard Louis nach der Lesung in Berlin
Es sei ein „sehr französisches Buch“, das da über die Freundschaft
entstanden sei, sagt [1][Sonja Finck]. Was die Übersetzerin damit meint,
ist die Art, wie Geoffroy de Lagasnerie Philosophie und Soziologie mit
Alltagsleben in „3 – Ein Leben außerhalb. Lob der Freundschaft“ miteinan…
verwebt. [2][Der Autor und Soziologe] erzählt in seinem neuesten Buch vom
Pariser Leben im Triumvirat. Die Freundschaft zwischen ihm und seinen
Autorenkollegen Didier Eribon und Édouard Louis beschreibt er als integrale
Form, als „Dreh- und Angelpunkt, der unsere gesamte Existenz prägen würde�…
Jeder Tag beginne und ende mit Textnachrichten zwischen ihnen, de
Lagasnerie benennt die „Anwesenheit der Abwesenheit“ als charakteristisch
für ihre Beziehung; mit jemand anderem als Louis essen zu gehen bedeute
für Eribon oder ihn, nicht mit Louis zu essen.
Das Schreiben und das Sprechen darüber scheint jedoch mindestens ebenso
charakteristisch für ihre Freundschaft. Louis, der bei der Buchpremiere am
Dienstagabend auf der Bühne im Haus der Berliner Festspiele neben Eribon
und de Lagasnerie sitzt, sagt, ihre Bücher seien das Ergebnis von Arbeit in
Kollektiven. Wie sehr der fast 40 Jahre ältere Eribon ihn geprägt hat, gibt
Louis unumwunden zu.
Nach einer Lesung, die Eribon vor einigen Jahren im nordfranzösischen
Amiens gab, stand für den damals 17-jährigen Louis fest, er müsse auch
Autor werden. „Ich bin wie Sie“, hatte er ihm gesagt und auf ihrer beider
Abstammung aus ärmlichen, homophoben Verhältnissen angespielt, die Eribon
in „Rückkehr nach Reims“ analysiert.
## Der Impuls, Autor zu werden
Nachzulesen ist die Episode unter anderem [3][in Louis’ Buch „Anleitung ein
anderer zu werden]“, deren Vorgeschichte in seinem Debüt „Das Ende von
Eddy“. Man hat schon viel gelesen, Gutes, Ehrliches, von der Éducation
sentimentale des heute 31-jährigen Louis, die de Lagasnerie nun weiter
ausmalt, wenn er die Anfangstage des Trios Revue passieren lässt, seine
Sichtweise der Louis’ zugesellt.
De Lagasnerie erzählt Persönliches mit [4][Bourdieu], Barthes und Spinoza,
wählt gutklingende Zitate von Ralph Waldo Emerson zum Wesen der
Freundschaft aus. Die Gründe für eine Freundschaft, schreibt er in
Anlehnung an den Soziologen Graham Allan, kennen die Beteiligten dabei
nicht und müssten sie auch nicht kennen. Doch ist das das wirkliche
Alleinstellungsmerkmal der Freundschaft? Lässt sich in der romantischen
Liebe die Frage nach dem Warum nicht ebenso gut mit „darum“ beantworten?
Die drei Autoren sind kein reines Freundschaftsteam. De Lagasnerie und
Eribon sind seit über 20 Jahren ein Paar. In „3“ kommt dieser Umstand
praktisch nicht vor. Als Sonja Finck de Lagasnerie in Berlin nach dieser
Sonderstellung fragt, antwortet der bloß, er und Eribon lebten nicht
zusammen und bewahrten sich so ihre Unabhängigkeit.
## Liebe verbunden mit der „Idee des Verschließens“
Dabei wäre ein Einblick in die Beziehung der beiden Soziologen ungemein
interessant, macht de Lagasnerie die Paarbeziehung doch (normalerweise) als
Kern des Übels, als die Freundschaft verunmöglichende Kraft aus. Er führt
Zahlen an, die belegen, wie viel seltener Verheiratete ausgehen, schreibt,
das Konzept der Liebe sei mit der „Idee des Verschließens“ verbunden. Dass
jemand, der manifestartig an die Neuordnung zwischenmenschlicher
Beziehungen herangeht, noch nie etwas von alternativen Beziehungsformen wie
Polyamorie oder offenen Beziehungen gehört zu haben scheint, ist dabei mehr
als erstaunlich.
Noch reaktionärer als die Paarbeziehung ist de Lagasnerie zufolge nur noch
die Familie. Darauf angesprochen sagt der 42-Jährige, eine „alternative“
Familie sei wie grüner Kapitalismus – ein Widerspruch in sich. Während
seine (durch Wilhelm Reich inspirierte) Überlegungen zum autoritären
Charakter der Familie und der automatischen Reproduktion von
Herrschaftsstrukturen noch ganz interessant sind, mutet de Lagasneries auch
auf der Bühne vorgebrachtes Lamento der fehlenden Akzeptanz von
Freundschaft als Lebensform leicht infantil an.
Ein krankes Kind berechtige zum Fernbleiben von der Arbeit, ein Freund in
Not stoße hingegen auf wenig Verständnis beim Arbeitgeber, moniert er. Dass
das unbetreute Kind im Zweifel in der Wohnung Feuer legt oder das
Badezimmer nicht alleine erreicht, unterschlägt er so genauso, wie er die
realen, rechtlichen Probleme herabwürdigt, denen Beteiligte außerehelicher
Beziehungen ständig begegnen.
Zuletzt kommt bei der Buchpremiere auch der Altersunterschied zwischen den
drei Freunden zur Sprache. Eribon erzählt vom Zirkel Michel Foucaults, dem
neben ihm viele jüngere und ältere Freunde angehört hatten. Kreise dieser
Art habe es stets gegeben, sagt er und verweist auf die ebenfalls
homosexuellen Schriftsteller Oscar Wilde und André Gide.
Viel von dem, was Eribon noch sagt, ist allerdings nicht zu verstehen, hört
man dem simultan aus dem Französischen Übersetzenden seine Müdigkeit nach
knapp zwei Stunden doch deutlich an. Während der männliche Übersetzer de
Lagasnerie, Eribon und Louis ins Deutsche übertrug, war die Übersetzerin
bloß für die Fragen der Moderatorin zuständig. Damit war die Arbeitslast
jedoch höchst ungleich verteilt, ließ Sonja Finck den drei Autoren doch
reichlich Raum und Redezeit.
16 Nov 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Julia Hubernagel
## TAGS
Französische Literatur
Didier Eribon
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Buch
Freundschaft
Philosophie
Soziologie
Buchvorstellung
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024
Homophobie
Schwerpunkt Emmanuel Macron
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