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# taz.de -- Soziologe über Schuldenpolitik: „Globalen Süden im Stich gelass…
> Sri Lanka steckt tief in der Schuldenkrise. Soziologe Ahilan Kadirgamar
> sieht die Hauptschuld beim neoliberalen Entwicklungspfad von IWF und
> Weltbank.
Bild: Ein Land in der Schuldenfalle: Marktverkäufer in Colombo
taz: Herr Kadirgamar, wie geht es Sri Lankas Bevölkerung in der
gegenwärtigen Wirtschaftskrise?
Ahilan Kadirgamar: In den letzten zwei Jahren ist Sri Lankas
Wirtschaftskrise immer schlimmer für die einfachen Menschen geworden.
Anfang 2022, als der Krieg in der Ukraine begann und die Rohstoffpreise
weltweit stiegen, bekam Sri Lanka ein Zahlungsbilanzproblem. Wir hatten
nicht genug Devisen für Importe von Treibstoffen, Weizenmehl, Milchpulver.
So kam es zu großen Engpässen und langen Warteschlangen. Das war der Grund
für [1][Massenproteste, der Präsident musste fliehen]. Anfangs gab es
Hilfskredite aus Indien und die Preise begannen langsam zu sinken. Aber man
begann, die [2][Empfehlungen des IWF umzusetzen], etwa Marktpreise für
Energie einzuführen. Die Elektrizitätskosten haben sich für die Ärmsten
verdrei- oder vervierfacht. Die meisten Importwaren wurden um 80 Prozent
teurer, weil die Rupie von 200 pro Dollar auf 360 abgewertet wurde. Es gibt
dann keine Engpässe mehr, aber die Menschen können sich die Waren nicht
mehr leisten. Dies ist Sri Lankas schlimmste Wirtschaftskrise seit den
1930er Jahren.
Wer ist für die Krise verantwortlich?
Ich führe die Krise bis auf die späten 1970er Jahre zurück, als wir zur
Liberalisierung des Handels, der Landwirtschaft und des Finanzsektors
gedrängt wurden. In den 2010er Jahren wurde dann viel internationales
Kapital in Zement versenkt, also viel Infrastruktur und Hotels gebaut. Wir
erhielten hohe Kredite vom IWF und gaben immer mehr Staatsanleihen aus.
Damals schrieb ich, dass dies nicht nachhaltig ist und wir auf eine Krise
zusteuern. 2020 brachen mit der Covidkrise plötzlich unsere
Tourismus-Einnahmen ein. Auch die Überweisungen der Arbeitsmigranten aus
dem Ausland gingen zurück. Dann kam der Krieg in der Ukraine und wir wurden
zahlungsunfähig. Unsere Regierungen haben schlecht gewirtschaftet. Aber ich
sehe die Hauptschuld beim neoliberalen Entwicklungspfad, der vom IWF und
der Weltbank vorgegeben wurde und wird.
China hatte einen Teil des Baubooms finanziert. Welchen Anteil hat Peking
an der Krise?
Nach Ende des Bürgerkriegs 2009 erhielt Sri Lanka Unterstützung von den
USA, Indien und China. Doch die damalige Regierung von Mahinda Rajapaksa
wandte sich mehr und mehr China zu, um leichter an Finanzmittel zu kommen …
… ohne Bedingungen?
Ja. Die Amerikaner erhöhten den Druck auf Sri Lanka etwa im
UN-Menschenrechtsrat. Und die Rajapaksas, Ende 2019 wurde Gotabaya
Rajapaksa Präsident, wandten sich stärker China zu. Zu der Zeit gaben
westliche Länder keine bilaterale Hilfe mehr. Aber es gab Mittel der
Weltbank und der Kapitalmärkte. China spielte bei bestimmten Projekten eine
wichtige Rolle. Aber ich möchte Chinas Rolle nicht überbewerten, denn es
gab auch Autobahn- und Straßenprojekte der Weltbank und der Asiatischen
Entwicklungsbank (ADB), die genauso unproduktiv waren wie chinesische
Projekte. Auch sie wurden von der Regierung kofinanziert, die sich Geld bei
kommerziellen Banken lieh.
War es für Sri Lanka ein Vorteil, dass mit China ein weiterer Akteur
hinzukam, nach dem Motto, Konkurrenz belebt das Geschäft?
Die Rajapaksas haben versucht, China gegen den Westen oder gegen Indien
auszuspielen. Doch meiner Meinung nach gewinnt ein Land wie Sri Lanka nie,
wenn es versucht, Großmächte gegeneinander auszuspielen. Wir werden am Ende
die Verlierer sein. So wurde zunächst Indien angeboten, den Hafen
Hambantota zu bauen. Dann bot Rajapaksa ihn China an. Jetzt fordert Indien
den Ost- und Westterminal des Hafens von Colombo.
Sie erwähnten den Hafen Hambantota. Nachdem Sri Lanka mit seinen Schulden
gegenüber China in Verzug geriet, wurde der Hafen für 99 Jahre an China
verpachtet. Ging Sri Lanka in [3][Chinas Schuldenfalle]?
Ich würde es nicht Schuldenfalle nennen. Schließlich wurde das Hafenprojekt
zunächst Indien angeboten. Wenn überhaupt, würde ich es IWF-Schuldenfalle
nennen; weil eine untragbare Verschuldung uns schließlich dazu bringt,
unsere strategischen Vermögenswerte zu verkaufen. Durch die
aufeinanderfolgenden IWF-Programme wurden wir auf den Weg gebracht, unsere
Schulden zu erhöhen und unsere kommerzielle Kreditaufnahme zu steigern. Die
Schulden bei China machen nur etwa 13 oder 14 Prozent unserer
Auslandsschulden aus. Etwa 52 Prozent sind kommerzielle Kredite. Jetzt, wo
wir unsere Schulden nicht mehr bedienen können, haben wir überhaupt keinen
Spielraum mehr. Wir haben keine Verhandlungsmacht. Wir können nicht einmal
vor dem IWF weglaufen, denn der IWF ist der Schiedsrichter für die
Umschuldung.
China wird immer wieder aufgefordert, sich an der Umschuldung zu
beteiligen.
China ist Gläubiger für Schulden im Wert von etwa 1 Billion Dollar in aller
Welt. Ein Schuldenerlass in Sri Lanka wäre für China ein Präzedenzfall, der
zu weiteren Verlusten führen könnte. Die meisten westlichen Länder vergeben
ihre Kredite über multilaterale Organisationen wie Weltbank und ADB. Auch
sie wollen diese Schulden nicht umstrukturieren. Im Rahmen des laufenden
IWF-Umschuldungsprozesses sind multilaterale Schulden ausgenommen. Aber
ohne einen Schuldenschnitt werden wir wohl in drei oder vier Jahren im
nächsten IWF-Programm sein.
Ist die lokale Elite nur eine Marionette des IWF?
Ob es die Rajapaksas sind, die 2005 an die Macht kamen, oder [4][der
aktuelle Präsident], der einst ihr Feind war und heute ihr Verbündeter ist,
sie alle sind dem Neoliberalismus verpflichtet und kommen mit dem IWF aus,
solange es ihre eigene soziale Basis nicht beeinträchtigt. Aber es geht
nicht nur um Sri Lanka. Die Entwicklungsfinanzierung in Form kommerzieller
Kredite und die Art von Projekten, die aus China oder von den
multinationalen Konzernen kommen, haben Länder im Globalen Süden im Stich
gelassen. Sri Lanka ist eines der ersten Länder, das diese Schuldenkrise
durchmacht. Was heute in Sri Lanka passiert, könnte in anderen Ländern
folgen. Ich frage mich, ob sich die 1970er Jahre wiederholen, in denen oft
soziale Errungenschaften wie auch kostenlose Bildung und
Gesundheitsfürsorge rückgängig gemacht wurden.
Die Weltbank will sich reformieren. Die Brics-Staaten wollen ein neues
Geldsystem. Wie sehen Sie die Entwicklungen dort?
Wir brauchen eine globale Ordnung, die viel mehr auf Zusammenarbeit
zwischen den Ländern des Globalen Südens beruht. Aber auch bei den Brics
bin ich nicht optimistisch. Auch Indien oder China sind einem neoliberalen
Weg verpflichtet, von dem wir abrücken müssen.
1 Nov 2023
## LINKS
[1] /Festnahmen-bei-Protesten-in-Sri-Lanka/!5880019
[2] /Schuldenkrise-in-Sri-Lanka/!5957097
[3] /Umstrittene-Kredite-von-der-Volksrepublik/!5528157
[4] /Nach-Praesidentenwechsel-in-Sri-Lanka/!5867752
## AUTOREN
Sven Hansen
Leila van Rinsum
## TAGS
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