| # taz.de -- Krieg in der Ukraine: Im Schatten von Gaza | |
| > Die öffentliche Aufmerksamkeit schwenkt weg vom Krieg in der Ukraine. Im | |
| > Schatten von Gaza darf das Engagement aber auf keinen Fall nachlassen. | |
| Seit dem Terrorangriff der islamistischen Hamas auf Israel und dem Massaker | |
| mit 1.400 Todesopfern dominiert der Nahe Osten die öffentliche Debatte in | |
| den westlichen Ländern. Auch in Deutschland. Angesichts der Dimension des | |
| Terrors und der Befürchtung, dass andere aggressive Akteure wie die | |
| Hisbollah oder der Iran eingreifen, ist das nachvollziehbar. In der Ukraine | |
| und unter ihren Unterstützern wächst dennoch die Sorge, aus dem Blick zu | |
| geraten. | |
| Natürlich ist der individuelle Aufmerksamkeitsvorrat begrenzt. Deshalb wird | |
| bewusst oder unbewusst priorisiert. Was neu ist, unbekannt oder bedrohlich, | |
| wird erst mal mehr beachtet. Es wird schneller reagiert, wenn etwas | |
| kurzfristigen Handlungsbedarf herausfordert. Langfristige, strategische | |
| Fragen verschiebt man eher. | |
| Erkennbar ist das an der medialen Vermittlung. Es kann eben nur ein Thema | |
| geben, das als Erstes in der „Tagesschau“ behandelt wird, Zeitungen haben | |
| einen begrenzten Umfang. Und selbst wenn Seiten oder Sendezeit unbegrenzt | |
| wären: Wer sollte das alles konsumieren? Tatsächlich hat die Aufmerksamkeit | |
| für Russlands Krieg gegen die Ukraine auch schon vor dem Hamas-Angriff auf | |
| Israel nachgelassen. | |
| Ein Text im jüngsten Time Magazine beschreibt Wolodimir Selenskis Besuch in | |
| [1][Washington] im September. Er zeichnet das Bild eines ermatteten | |
| ukrainischen Präsidenten, der sich mit Kriegsmüdigkeit in Partnerländern | |
| konfrontiert sieht. Hört man sich unter Ukrainer:innen um, sind sie | |
| nicht überrascht. Sie wissen, dass Menschen in den EU-Ländern und erst | |
| recht in den USA weit weg sind von Bombardierungen und Luftalarmen und dass | |
| der Alltag dort weitergeht. | |
| ## Vom Sondervermögen ist noch nichts zu merken | |
| Klar ist in der Ukraine aber auch, dass man keine Alternative zur | |
| Selbstverteidigung hat, egal wie viel oder wenig Unterstützung aus dem | |
| Westen kommt. Eine breite Mehrheit lehnt territoriale Zugeständnisse für | |
| einen potenziellen Waffenstillstand ab. Denn es geht nicht um | |
| Quadratkilometer, sondern um Menschen. Jeder kennt die Verbrechen, die | |
| Russland in Butscha, Isjum und vielen weiteren Orten verübt hat und | |
| weiterhin verübt. | |
| Putin negiert die Existenz der Ukraine und der Ukrainer:innen, und seine | |
| Helfer setzten das physisch um, wo sie nur können. Je länger es dauert, sie | |
| zu stoppen, desto mehr Menschen sterben. Mit Blick auf den Westen stellt | |
| sich die Frage: Sind die USA und Europa in der Lage und willens, auf zwei | |
| Krisenherde adäquat zu reagieren, wo sie doch schon mit einem | |
| Schwierigkeiten hatten? Die Rückschau legt nahe, dass Zweifel nicht | |
| unberechtigt sind. | |
| Schließlich hat man sich im Vorlauf der russischen Invasion 2022 ein Ausmaß | |
| an Wunschdenken und Blindheit geleistet, das zu erklären eine schöne | |
| Aufgabe für die Historiker:innen sein dürfte. Das gilt besonders für | |
| Deutschland, das die Krimannexion noch mit einem milliardenschweren | |
| Pipelineprojekt belohnte. | |
| Vor 20 Monaten, unmittelbar nach Beginn der groß angelegten Invasion | |
| Russlands in der Ukraine, hat Bundeskanzler Olaf Scholz von einer | |
| [2][Zeitenwende] gesprochen. Je mehr Zeit vergeht, desto eher wirkt das wie | |
| eine Phrase. Zwar wurde für die Ausrüstung der Bundeswehr das sogenannte | |
| Sondervermögen beschlossen. Bei der Truppe angekommen ist davon allerdings | |
| noch nichts. Und in der Etatplanung ist [3][das 2-Prozent-Ziel der Nato] | |
| nicht gesichert. | |
| ## Zögerliches Abwägen | |
| In Bezug auf die Unterstützung der Ukraine ist aus Berlin immer „S[4][o | |
| lange wie nötig]“ zu hören. Man stehe zur territorialen Integrität der | |
| Ukraine. Praktisch wird dann bei jeder Waffenlieferung monatelang | |
| diskutiert, obwohl der Bedarf offensichtlich ist. Der | |
| Argumentationskreislauf ähnelt sich dabei: Erst befürchtet man eine nicht | |
| näher beschriebene Eskalation, dann hat man angeblich selbst nicht genug, | |
| dann dauert die Ausbildung der Ukrainer an den komplizierten deutschen | |
| Waffen zu lange. | |
| Und schließlich heißt es, man wolle nur zusammen mit Verbündeten liefern. | |
| Jüngstes Beispiel ist die [5][Taurus-Debatte]. Der Marschflugkörper aus | |
| schwedisch-deutscher Entwicklung ist dem französisch-britischen Storm | |
| Shadow ähnlich, der bereits seit Monaten von der Ukraine gegen hochwertige | |
| Ziele der russischen Armee eingesetzt wird – nicht gegen Ziele in Russland | |
| selbst. | |
| Taurus wäre dank seiner Reichweite und Funktionsweise ideal, um die | |
| Krimbrücke anzugreifen und damit der russischen Armee im Süden ein riesiges | |
| Logistikproblem zu bereiten. Doch Berlin liefert nicht. | |
| Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) begründet das Zögern damit, | |
| dass Taurus eben so besonders wirksam ist. Entschlossen wirkt das alles | |
| kaum. | |
| Umgekehrt ist aber auch nicht ausgemacht, dass der Westen versagt. Das | |
| Ausmaß der politischen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt militärischen | |
| Unterstützung für die Ukraine trotz aller Unterschiede in der eigenen | |
| Betroffenheit und der früheren Bewertung der russischen Aggression zeigt, | |
| was die westlichen Länder zusammen leisten können. | |
| ## Tempo und Umfang sind entscheidend | |
| Deutschland ist nach den USA inzwischen der zweitgrößte Lieferant von | |
| Rüstungsgütern an die Ukraine. Mit Blick auf [6][die anfänglich gelieferten | |
| 5.000 Helme] erscheint das als weiter Weg. Allerdings ist Deutschland auch | |
| mit seiner Wirtschaftsleistung das zweitgrößte Nato-Land. Und gerade | |
| kleinere Länder wie die baltischen tun relativ gesehen deutlich mehr. Im | |
| zivilen Bereich ist die Bedeutung Deutschlands größer. Das weiß man bei | |
| aller Kritik im Detail vor Ort auch durchaus zu schätzen. | |
| Die EU hat sich verpflichtet, bis März eine Million [7][Artilleriegeschosse | |
| an die Ukraine] zu liefern. Bisher hinkt man bei der Erfüllung hinterher, | |
| aber es bewegt sich etwas. Entscheidungen werden getroffen, und die | |
| Richtung ist klar. Nur spielen Tempo und Quantität auch eine wichtige | |
| Rolle. Viele der Waffensysteme, die die ukrainische Armee im Laufe dieses | |
| Jahres erhalten hat und noch erhalten wird, hätte sie früher schon gut | |
| gebrauchen können. | |
| Die größte politische Unbekannte ist einstweilen Washington. Käme Donald | |
| Trump oder ein Nachahmer ins Weiße Haus, wäre die US-amerikanische | |
| Unterstützung der Ukraine mehr als in Gefahr. Allerdings gibt es in beiden | |
| Parteien in den USA bisher eine Mehrheit für die Ukraine. Wie stabil diese | |
| ist, wird sich möglicherweise bald zeigen: Die Wahl des Trump nahestehenden | |
| [8][Mike Johnson] zum Vorsitzenden des Repräsentantenhauses ist kein gutes | |
| Zeichen. | |
| Als eine der ersten Amtshandlungen hat er mitgeteilt, dass die Hilfen für | |
| die Ukraine und Israel getrennt voneinander bearbeitet werden. Präsident | |
| Joe Biden wollte das 106 Milliarden-Dollar-Paket für beide gemeinsam zur | |
| Abstimmung stellen. Aber auch in Europa zeigen sich Risse. Ungarns | |
| Ministerpräsident Viktor Orbán setzt seine Vetomacht in der EU ein, um | |
| Hilfszahlungen zu verzögern und Sanktionen aufzuweichen. | |
| Mit dem [9][Populisten Robert Fico] ist seit Kurzem auch in der Slowakei | |
| ein Politiker an der Macht, der sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine | |
| positioniert. Angesichts hoher Umfragewerte für kremlnahe Parteien in | |
| mehreren großen EU-Ländern ist keine Überheblichkeit beim Blick über den | |
| Atlantik angebracht. Wirtschaftlich dürften die USA und Europa die Kosten | |
| der Ukrainehilfe auch weiterhin – und trotz des Kriegs in Nahost – tragen | |
| können. | |
| ## Geld auf dem Papier | |
| Zumal ein großer Teil des Gelds auch in den Ländern bleibt: Wenn | |
| beispielsweise Deutschland vor Jahrzehnten gebaute Panzer an die Ukraine | |
| liefert, kostet das Geld auf dem Papier. Das Geld für die Ersatzbeschaffung | |
| wird aber in Deutschland ausgegeben. Allein die EU und Großbritannien haben | |
| eine Wirtschaftsleistung, die mehr als neunmal so hoch ist wie die | |
| Russlands. Die finanzielle und industrielle Kapazität der Europäer würde | |
| also auch ohne Hilfe aus Übersee ausreichen, um die Ukraine weiterhin zu | |
| unterstützen. | |
| Militärisch unterscheiden sich der [10][Krieg in der Ukraine] und der im | |
| Nahen Osten erheblich. In der Ukraine tobt seit 20 Monaten ein | |
| zwischenstaatlicher Krieg zu Land, zur See und in der Luft. Die Länge der | |
| Front und die Größe der beteiligten Armeen machen ihn zum größten Krieg in | |
| Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Im Nahen Osten hingegen hat es eine | |
| moderne, hochgerüstete Armee (bisher) mit einer Terrororganisation zu tun. | |
| Die Bedürfnisse der Ukraine und Israels unterscheiden sich dementsprechend. | |
| Viele Waffen, die die Ukraine benötigt, hat Israel bereits oder stellt sie | |
| sogar selbst her. In der [11][Luftverteidigung ist Israel technologisch an | |
| der Weltspitze]. Im Falle länger andauernder Kampfhandlungen oder falls | |
| beispielsweise die Hisbollah aus dem Libanon aktiver eingreift, könnte | |
| jedoch auch Israel Nachschub an Munition brauchen. Das könnte dann | |
| zumindest kurzfristig zulasten der Ukraine gehen. | |
| Wenn weniger Aufmerksamkeit für den Krieg in der Ukraine auch weniger | |
| Engagement des Westens bedeutet, wäre das ein schlechte Idee. Denn die | |
| Gründe, weshalb man damit angefangen hat, gelten schließlich noch heute. | |
| Unterwirft Russland die Ukraine, wäre das nicht nur eine Katastrophe für | |
| die Menschen dort. Sondern die Nato hätte ein aggressives Russland an | |
| seiner Ostflanke, das gerade einen Eroberungskrieg gewonnen hätte. | |
| Dass die Ambitionen in Moskau mindestens das Baltikum betreffen, aber auch | |
| gern mal bis zur Spree reichen, wird in Russland regelmäßig im Fernsehen | |
| diskutiert. Gewinnt Russland in der Ukraine Gebiet hinzu, ist das Prinzip | |
| territorialer Integrität dahin. Eine solche Welt wäre für alle unsicherer. | |
| Will man das verhindern, muss man sich entscheiden, so viel zu helfen, dass | |
| Russland nicht mithalten kann. Handelt der Westen konsequent, ist ein | |
| bisschen weniger Aufmerksamkeit verkraftbar. | |
| 5 Nov 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://time.com/6329188/ukraine-volodymyr-zelensky-interview/ | |
| [2] /Bundestags-Sondersitzung-zur-Ukraine/!5835039 | |
| [3] https://www.ifo.de/pressemitteilung/2023-08-09/verteidigungshaushalt-und-so… | |
| [4] /Baerbock-in-der-Ukraine/!5959202 | |
| [5] /Debatte-um-Marschflugkoerper-fuer-Ukraine/!5948088 | |
| [6] /Befuerchtete-Invasion-durch-Russland/!5832101 | |
| [7] /Munitionsbeschaffung-der-EU/!5928736 | |
| [8] /Neuer-Sprecher-im-US-Repraesentantenhaus/!5969009 | |
| [9] /Parlamentswahl-in-der-Slowakei/!5962963 | |
| [10] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150 | |
| [11] /Israelisches-System-Arrow-3/!5963108 | |
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| Marco Zschieck | |
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