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# taz.de -- Nachbarschaftsgärten in Kolumbien: Ein Stück konstruktives Chaos
> In Bogotá kämpfen Nachbarschaftsgärten für Zusammenhalt. Sie wollen
> ökologisches Bewusstsein in der Stadt schärfen und Klassismus abbauen.
Bild: Wollen ihr kleines Fleckchen Grün für alle: Francisco Suárez und Isaur…
Bogotá taz | Francisco Suárez steht auf einem Flecken Durcheinander und
pfeift eine fröhliche Melodie. Zwischen sonst sehr ordentlichen Vorgärten,
in denen der Rasen wie geleckt aussieht, liegt der Jardín Utópico, der
utopische Garten im öffentlichen Park von La Esmeralda, einem
kleinbürgerlichen Viertel in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá. Suárez, 62 Jahre
alt, trägt einen knallgrünen Gärtner-Overall und eine große Plastiktüte
über der Schulter. Sie ist gefüllt mit Schoten des Chachafruto-Baumes,
dessen große Bohnen in den Anden Südamerikas wie Kartoffeln gegessen werden
und ein wenig nach Esskastanien schmecken.
Mit den Pflanzen dieser Bäume hat Suárez hier vor gut 13 Jahren den
utopischen Garten gegründet, der heute fast so groß wie der benachbarte
Bolzplatz ist. Eigentlich wollte er sie in seinem eigenen Garten pflanzen,
hier in La Esmeralda, wo er viele Jahre lang wohnte. Doch er entschied sich
dagegen, denn für die großen Korallenbäume, die 25 Meter hoch wachsen
können, reichen kleine Vorgärten hinter Mauern nicht aus. Also setzte er
die Pflänzchen vor der Mauer, hier im öffentlichen Park.
„Es ist für das Viertel hier in erster Linie ein Pilotprojekt der sozialen
Integration, der Gemeinschaft“, erklärt Francisco Suárez. Eine formelle
Organisationsform wie einen Verein gibt es nicht. Jeden Sonntag kommen aber
Bewohner*innen des Viertels, die meisten davon ältere Frauen, an dem
Tisch zusammen, der jetzt unter dem Berg Chachafruto-Schoten begraben ist.
Hier kann man bei einem Kaffee seine Probleme besprechen, Konflikte mit
Nachbar*innen lösen oder sich einfach nur über den Alltag austauschen.
Die zentrale Idee: miteinander reden, das Gemeinschaftsgefühl im Viertel
stärken. „Wir kommen hierher, friedlich und ohne im Verteidigungsmodus zu
sein. Wir sind eine Gesellschaft, die 50 Jahre brutalen Bürgerkrieg
überlebt hat. Aber hier kommen wir her, um uns wieder als Gleichgesinnte,
Verbündete, Brüder zu begegnen. Und nicht immer mit dem Gedanken, wir
müssten uns gegenseitig an den Kragen“, erklärt Suárez.
Der bewaffnete Konflikt in Kolumbien begann offiziell in den 1960er Jahren,
Gewalt und auch Morde gab es aber schon zwei Jahrzehnte früher, zwischen
Liberalen und Konservativen. Seit den 1960er Jahren kämpften bäuerliche und
kommunistische Guerillagruppen gegen Landraub und Übergriffe der
kolumbianischen Armee. Großgrundbesitzer antworteten mit dem Einsatz
paramilitärischer Gruppen. 2016 hat die Regierung mit der größten Guerilla,
der Farc, [1][einen Friedensvertrag unterzeichnet]. Guerillas,
Paramilitärs, Drogenbanden und die Gewalt bestehen aber in einigen Regionen
weiter. Immer noch werden [2][jährlich hunderte Aktivist*innen
ermordet].
## Aus einer Müllhalde wird ein Garten
Die erste Helferin fand Suárez in Isaura Forero. Die ältere Dame hat das
Gärtnern auf dem Bauernhof ihrer Mutter gelernt, in einer ländlichen
Gemeinde unweit von Bogotá. Auch an diesem Tag ist sie zum utopischen
Garten gekommen, wie jedes Wochenende. Als sie den Tisch mit
Chachafruto-Bohnen sieht, schlägt sie die Hände zusammen. „Wer hat denn die
alle mitgebracht? Wie schön die sind!“ Forero hilft ihrem alten Freund
dabei, den großen, schweren Plastiksack auf einem selbstgezimmerten Tisch
auszuleeren. „Wer will, kann die mit nach Hause nehmen“, sagt Suárez. Die
40 Zentimeter langen, grünen Schoten purzeln auf den Tisch. Manche der
großen, braunen Bohnen haben sich schon herausgelöst.
Forero sah Francisco Suárez zum ersten Mal, als sie vor 13 Jahren vom
Einkaufen nach Hause kam. „Damals war hier noch überall Müll. Aber
dazwischen war dieser Mann, der sich um ein paar Pflanzen kümmerte.“ Sie
kamen ins Gespräch. Suárez, der selbst Agrarwissenschaften studiert hat,
fragte, ob sie gerne gärtnere. „Ich habe ihm gesagt, dass mir das nicht nur
gefällt, es fasziniert mich!“ Isaura Forero, die hier alle nur Doña Isaura
nennen, zieht ihre beige Steppjacke aus und einen mit Blumen verzierten
Sonnenhut an. „Sonntags, früh um sieben, haben wir dann angefangen
aufzuräumen. Es kamen immer mehr Nachbarn dazu und nach und nach entstand
hier der Jardín Utópico.“
Zuerst wurden die Beete angelegt, sternförmig um die zwei Chachafruto-Bäume
herum, dessen Kronen heute alle anderen Bäume des Parks überragen. In den
Beeten wachsen Kräuter und Heilpflanzen, Himbeeren, Kaffee und
Lulo-Pflanzen. Von oben hängen noch grüne Baumtomaten und Passionsfrüchte
herab. Im Boden stecken selbstgemalte Schilder mit den Namen der Pflanzen,
Anleitungen zum Ernten und kleinen Gedichten über den Garten und seine
tierischen Bewohner. Dutzende Kaninchen, Meerschweinchen, Enten und Hühner
leben in Ställen aus Hasendraht. Auf einem kleinen Baum hocken bunte Hähne
und dösen in der Sonne. Die Polizisten aus dem Revier nebenan kümmern sich
auch um die Tiere, erzählt Forero. An diesem Tag sitzt neben dem
Kaninchenstall ein kleiner Junge und macht seine Hausaufgaben.
Ein Nachbar kommt vorbei und Francisco drückt ihm ein paar
Chachafruto-Schoten in die Hand. Alles für alle, bis alles alle ist.
Solidarische Landwirtschaft im Kleinen. Den Sinn für Gemeinschaft teilen
aber nicht alle Menschen, die im Park vorbeikommen. Schon oft sind Tiere
verschwunden. Deshalb hängt am Kaninchenstall ein Schild: Bitte nehmt die
Tiere nicht mit nach Hause. Sie sollen allen gehören. „Ich glaube, das
Problem ist, dass hier viele Menschen Privateigentum für sehr wichtig
halten“, meint Suárez. Man sieht auf den ersten Blick, dass der utopische
Garten diesen Gedanken aufbrechen soll. Die offene Fläche steht im Kontrast
zu den Gärten des Viertels, die mit hohen Mauern, Stacheldraht,
Glasscherben und Elektrozäunen abgesichert sind.
## Wissensaustausch und ökologische Bildung
Bis auf ein paar von der französischen Botschaft gespendete Bänke ist hier
alles selbstgemacht, darauf sind Forero und Suárez sehr stolz. Die Pflanzen
und Tiere bringen Menschen aus dem Viertel mit: Setzlinge, die nicht mehr
in den eigenen Garten gepasst haben, Kaninchen, die sie nicht mehr als
Haustiere halten wollten oder für den Garten gekauft haben. Auf einer der
gespendeten Bänke sitzt ein junger Mann und malt rote Blüten in einen
Zeichenblock. Neben ihm sitzt eine junge Frau mit einem kleinen Hund auf
dem Schoß. Es ist ihr erstes Mal im Jardín Utópico. Angelockt haben sie die
Hühner, die hier zwischen den Beeten frei herumlaufen. „Hühner, hier mitten
in Bogotá? Das musste ich mir anschauen“, sagt sie und lacht.
Ihr Blick fällt auf die Chachafruto-Bohnen. „Kann man die essen?“, fragt
sie, und sofort beginnen Forero, Suárez und zwei andere Frauen, begeistert
durcheinanderzureden. Es ist ein konstruktives Chaos, eine Expertise
ergänzt die andere: „Die wirfst du einfach mit in die Suppe, oder kochst
sie wie Kartoffeln.“ „Wenn jemand mal ernsthaft versuchen wollte, den
Hunger dieser Welt zu besiegen, dann sollte er es mit dieser Bohne tun, die
hält auch Dürren aus.“
Kolumbien ist nach Brasilien das Land mit der artenreichsten Flora und
Fauna, es gibt fünf verschiedene Klimazonen, aber in der Hauptstadt bekommt
man davon nicht viel mit. Der Garten soll das ändern. Er ist auch ein Ort
der ökologischen Bildung, hier tauschen Nachbar*innen ihr Wissen aus,
oft kommen Kinder und fragen nach den Pflanzen und Tieren. „In der Schule
wird ihnen so was oft nicht beigebracht“, sagt Forero.
Anfangs waren sie im benachbarten Gemeindehaus nicht gerade begeistert,
dass sie nicht um Erlaubnis für das Projekt gefragt wurden. Doch
mittlerweile hat der Garten viel Aufmerksamkeit bekommen, auch das
Fernsehen war schon ein paar Mal da. „Irgendwann kam dann auch die
Stadtverwaltung vorbei, hat Fotos von uns gemacht, uns beglückwünscht und
ihre Hilfe angeboten. Aber die wollten wir nicht“, sagt Isaura Forero und
schnalzt verächtlich mit der Zunge. Sogar eine Drohne habe die
Stadtverwaltung geschickt, um einen Imagefilm zu drehen. „Die haben mich
gefragt, was ich hier in dem kleinen Wald treibe, warum ich mich hier
aufhalte.“ Das ist einfach: „Dem Zwitschern der Vögel lauschen und die gute
Luft atmen.“
## Autos und Lkws zurückdrängen
Gute Luft ist nicht selbstverständlich in Kolumbiens Metropole mit knapp
acht Millionen Einwohner*innen und nur wenigen grünen Inseln in einem
Meer aus Beton. Dieses Jahr gab die Stadt schon mehrmals öffentliche
Warnungen wegen schlechter Luftqualität aus, als die Feinstaubbelastung
über 150 Mikrogramm pro Kubikmeter stieg. Zum Vergleich: Der EU-Grenzwert
liegt lediglich bei 50 Mikrogramm pro Kubikmeter. In Berlin wurde der laut
Umweltbundesamt in diesem Jahr drei Mal überschritten.
Greenpeace spricht sogar von tausenden [3][Toten durch die
Luftverschmutzung] in Bogotá. Vor drei Jahren hat die Stadtverwaltung
erklärt, sich für eine bessere Luftqualität einzusetzen. Bisher gibt es
allerdings lediglich neue Messtationen und eine sogenannte
Auspuff-Patrouille, die besonders schlimme Umweltsünder auf den Straßen
identifizieren soll.
Mit zu vielen Autos und Lastwagen hat auch ein weiterer Gemeinschaftsgarten
der Stadt zu kämpfen, zu dem Suárez die übriggebliebenen
Chachafruto-Schoten bringt. Er schlängelt sich durch die Autos und
Motorroller, die die zweispurigen Straßen verstopfen. Nach zehn Minuten
erreicht er einen schmalen Grünstreifen. Eine Gruppe Mitte 20-Jähriger
stochert hier mit Holzlatten in einer einen Quadratmeter großen Kiste
herum.
Sie sind Teil des Gartenprojekts Abuela Bagüe. Der Name kommt von den
indigenen Muiscas, die in diesem Teil des Landes wohnten, erklärt Elizabeth
Díaz Muñoz, die auch eine Holzlatte in der Hand hält. In den Kisten werden
Laub, Garten- und Küchenabfälle zusammengepresst, damit Hitze entsteht. Die
Bestandteile fermentieren und werden zu nährstoffreicher Komposterde. „Der
Prozess produziert keine Flüssigkeit, keinen Gestank, zieht keine Tiere
an“, der Vorteil gegenüber dem herkömmlichen Komposthaufen, meint sie.
Die Kompostwürfel bleiben am Rand des Grünstreifens stehen. Darin pflanzen
Helfer*innen Kräuter, Tomaten und Lupinen an. „Das Ziel dieses Projekts
ist es, die Grünfläche zurückzuerobern. Dieser sieben Meter breite
Grünstreifen war vorher eine Wüste, hier ist nichts gewachsen, genau wie da
drüben.“ Sie zeigt auf die Schotterpiste ein paar Meter weiter. Hier haben
früher die Menschen des Viertels ihren Bauschutt abgeladen, und so wurde
aus dem Platz nach und nach ein Parkplatz für Taxis und Lkws. Damit soll
jetzt Schluss sein. Quadratmeter für Quadratmeter drängen Elizabeth Díaz
Muñoz und die anderen Nachbar*innen mithilfe der Kompostblöcke die Autos
weg, schaffen Platz für die Natur und die Menschen.
## Zurück zu den indigenen Wurzeln
Der Garten Abuela Bagüe wurde 2015 von Nachbar*innen und
Student*innen der Universidad Nacional de Colombia gegründet. Sie wollen
sich auf indigenes Wissen zurückbesinnen und so mit Pflanzen Erde und
Menschen heilen, sagt Díaz Muñoz. Ein kleines Mädchen mit runder Brille und
dicken Locken steigt in die Kiste und tritt mit ihren Gummistiefeln kräftig
auf dem Kompost herum. Sie komme regelmäßig hierher, erzählt sie
schüchtern: „Ich mag es, mit der Natur in Verbindung zu sein. Ich mag die
Tiere und Pflanzen.“
Sich wieder mit der Erde verbinden, das ist auch Francisco Suárez und
Isaura Forero wichtig. „Wir sind Millionen Binnenflüchtlinge“, sagt Suáre…
Eine Metapher für all die Menschen vom Land, die in den letzten Jahrzehnten
nach Bogotá gekommen sind, um dem bewaffneten Konflikt in den ländlichen
Regionen zu entfliehen oder sich eine bessere Zukunft aufzubauen. „Hier in
der Stadt herrscht eine Angst vor den Bauern, eine Angst davor, wieder
Diener zu sein, wegen unserer Kolonialgeschichte. Deswegen haben viele
Menschen wenig Wertschätzung für die Bauern“, eine Art Klassismus, der sehr
weit verbreitet sei, erzählt er und rückt seinen Strohhut zurecht.
Sein Traum: den Jardín Utópico zu einem Epizentrum urbaner Landwirtschaft
zu machen. Und langfristig ein Netzwerk mit Bauern aus anderen Regionen
aufzubauen. Isaura Foreros Traum für die Zukunft des Gartens ist etwas
bescheidener. Sie wünscht sich eine Zeltplane, die die Besucher des Gartens
vor Regen schützt. Und was wird jetzt aus den übrigen Chachafruto-Bohnen?
Sie zeigt auf eine Kiste mit kleinen schwarzen Blumentöpfen, in denen sie
ein paar Bohnen eingepflanzt hat. Manche haben schon ausgetrieben.
26 Oct 2023
## LINKS
[1] /Farc-Waffenstillstand-in-Kolumbien/!5962308
[2] /Morde-an-Umweltschuetzerinnen/!5960141
[3] /Toedliche-Luftverschmutzung/!5927393
## AUTOREN
Marie Zinkann
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