# taz.de -- Krieg im Gazastreifen: Mission impossible | |
> Der Wille, die Hamas zu zerstören, ist nach dem 7. Oktober verständlich. | |
> Aber ist das überhaupt ein realistisches Kriegsziel? Und was passiert | |
> danach? | |
Bild: Bomben auf Gaza, Bewohner verlassen ihre Wohnungen am 30.10.2023 | |
[1][Nach dem Horror des 7. Oktober], nach 1.400 brutal getöteten und über | |
230 verschleppten Israelis, ist der Ruf verständlich groß, die Täter, die | |
Hamas, zu zerstören. Erreicht werden soll das durch ein massives, nun schon | |
seit Wochen andauerndes Bombardement von Gaza und mit einer Bodenoffensive, | |
ohne die eine Kontrolle des Küstenstreifens unmöglich ist. Aber ist die | |
Vernichtung der Hamas überhaupt ein realistisches Kriegsziel? Und wie soll | |
es mit dem Gazastreifen langfristig weitergehen? | |
Israel könnte es schaffen, die Führung der Hamas und einen Großteil ihrer | |
Kämpfer zu eliminieren. Der israelischen Armee könnte es auch gelingen, | |
[2][die Tunnel- und Waffensysteme] und Strukturen der Hamas zu zerstören. | |
Doch selbst dann bliebe die Hamas bestehen. | |
Sie ist mehr als eine Organisation, sie ist [3][eine Ideologie der | |
Militanz] gegen Israel. Die Hamas ist die radikalste und brutalste Form der | |
Palästinenser, sich gegen ihre Lebensbedingungen, gegen die israelische | |
Besatzung und gegen die Belagerung des Gazastreifens zu wenden – auch mit | |
Terror. | |
Das Grundproblem ist: Selbst wenn es tatsächlich gelingen sollte, den | |
physischen Teil der Hamas auszuschalten, wird die Idee des gewalttätigen | |
Widerstands mit jeder Bombe, die auf Gaza fällt, mit jedem Menschen, der | |
dort aus den Trümmern geholt wird, weiter gestärkt. „Die Hamas hat uns eine | |
Falle gestellt“, sagt der ehemalige französische Premier Dominique de | |
Villepin, „eine Falle des maximalen Schreckens, der maximalen Grausamkeit. | |
Und so besteht die Gefahr einer Eskalation des Militarismus, von mehr | |
militärischen Interventionen, als ob wir mit Armeen ein so ernstes Problem | |
wie die palästinensische Frage lösen könnten.“ | |
## Erinnerungen an die US-Besetzung im Irak | |
Die Folge wird nicht weniger, sondern mehr Radikalisierung sein – und das | |
nicht nur im Gazastreifen. Auch unter den Palästinensern im Westjordanland | |
und mit israelischer Staatsbürgerschaft würde die Wut steigen. Genauso in | |
der weiteren arabischen Welt, in der die Palästinenserfrage zuletzt kaum | |
mehr auf der Tagesordnung stand. In diesem Sinne ist der derzeitige Krieg | |
in Gaza kein Hamas-Bekämpfungsprogramm, im Gegenteil: Er stärkt sie. | |
Es stellt sich auch die Frage nach dem Tag danach. Was passiert, wenn die | |
israelische Armee tatsächlich zumindest einen Teil des Gazastreifens | |
kontrolliert? Kehren wir zurück zu den Zeiten direkter israelischer | |
Besatzung, die sich schon in der Vergangenheit für beide Seiten als | |
Albtraum erwiesen hat? Eine von der israelischen Armee durchgeführte | |
„Ent-Hamasifizierung“ hätte wohl ähnliche Folgen wie die einstige | |
[4][amerikanische De-Baathifizierung], den Maßnahmen gegen die Baathpartei | |
Saddam Husseins im Irak in den 1990ern, die den Widerstand gegen die | |
US-Besatzung erst so richtig angeheizt haben. | |
Oder soll jemand anderes den Gazastreifen verwalten und ruhig halten: eine | |
Art von Israel diktierte palästinensische Selbstverwaltung? Es ist schwer | |
vorstellbar, dass irgendeine Organisation, beispielsweise die Fatah des | |
Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas, quasi auf der Luke israelischer | |
Panzer in den Gazastreifen einzieht und dann unter den 2,3 Millionen | |
Einwohnern noch einen Funken Legitimität besäße. Der Premierminister der | |
Palästinensischen Selbstverwaltungsbehörde (PA) im Westjordanland, Mohammad | |
Shtayyeh, hat bereits eine Rückkehr der PA in den Gazastreifen kategorisch | |
ausgeschlossen, solange es kein umfassendes Abkommen für einen | |
palästinensischen Staat gibt, das das Westjordanland und den Gazastreifen | |
einschließt. | |
Die Alternative wäre, dass Israel den gesamten Norden des Gazastreifens, wo | |
es die Palästinenser seit Wochen dazu aufruft, in Richtung Süden zu | |
fliehen, zu einer gigantischen menschenleeren Pufferzone erklärt. Das | |
hieße, dass 2,3 Millionen Palästinenser dauerhaft im Süden des | |
Gazastreifens zusammengepfercht würden, um vom Rest der Welt „humanitär“ | |
versorgt zu werden. In einem Gebiet, welches schon heute als eines der | |
dichtestbesiedelten der Welt gilt. Damit hätte man einen Dampfkochtopf | |
geschaffen, der noch mehr unter Druck steht als der bisherige gesamte | |
Gazastreifen. | |
## Ägypten spielt nicht mit | |
Das letzte mögliche Szenario wäre eins, das die Palästinenser aus ihrer | |
Geschichte nur zu gut kennen: ihre Vertreibung, der palästinensische Exodus | |
aus dem Gazastreifen nach Ägypten in den Nordsinai. Wenn immer | |
Palästinenser in ihrer Geschichte in ein anderes Land geflüchtet sind, | |
konnten sie nicht wieder zurückkehren. Auf der anderen Seite, im | |
Westjordanland, träumt die rechte Siedlerbewegung schon seit Jahrzehnten | |
davon, die Palästinenser in Richtung Jordanien schicken zu können. Es ist | |
möglich, dass Israels Rechte glaubt, mit dem gegenwärtigen Rückenwind aus | |
den USA und Europa, ein solches Szenario tatsächlich durchsetzen zu können. | |
Zumal sich damit die „Idee“ Hamas etwas weiter wegschieben ließe. | |
[5][Der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi weigert sich allerdings | |
bisher strikt], Teil eines Szenarios der Palästinenservertreibung zu | |
werden. Selbst wenn seinem hochverschuldeten Land, hypothetisch gedacht, | |
von den USA oder Europa finanzielle Anreize geboten würden, wäre es für | |
al-Sisi innenpolitisch gegen die öffentliche Meinung in Ägypten kaum | |
durchsetzbar. Zudem würden sich die USA und Europa in einem solchen Fall zu | |
Komplizen einer ethnischen Säuberung des Gazastreifens machen. Damit | |
könnten sich die USA und Europa in weiten Teilen der Welt von der | |
Vorstellung verabschieden, irgendeine moralische Vorreiterrolle zu spielen. | |
Ohnehin würde die „Idee“ Hamas so im Nordsinai weiterleben. Ägypten wäre | |
fortan Teil des Konflikts zwischen den Palästinensern und Israel und | |
anfällig für allerlei militante Aktionen in Richtung Israel von ägyptischem | |
Boden aus, vielleicht sogar mit Unterstützung aus Teilen der ägyptischen | |
Bevölkerung. Ähnlich dem Libanon mit der Hisbollah würde Ägypten zur Geisel | |
von Gruppierungen, die militant gegen Israel vorgehen. Das wäre ein | |
sicheres Rezept zur Destabilisierung des bevölkerungsreichsten arabischen | |
Landes mit seinen 105 Millionen Einwohnern. | |
Keines der obigen Szenarien wird die Situation im Nahen Osten verbessern. | |
Militärisch lässt sich der Ideologie der Hamas nicht beikommen, auch wenn | |
der Ruf danach in Folge des 7. Oktober verständlicherweise laut ist. Die | |
einzige wirksame Methode ist, der Hamas politisch das Wasser abzugraben. | |
Dazu müssten aber echte Alternativen für die Palästinenser geschaffen | |
werden, eine Perspektive ohne Militanz. Das bedarf eines völligen Umdenkens | |
auch in der israelischen Gesellschaft. Die Prämisse müsste lauten: Ohne | |
Einbezug der Rechte der Palästinenser wird es für Israel keine Sicherheit | |
geben. Erst wenn dieser Punkt erreicht ist, wird die „Idee Hamas“ im | |
Mülleimer der Geschichte landen. | |
31 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Karim El-Gawhary | |
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