| # taz.de -- Nach den Wahlen in Polen: Moment der unverfälschten Freude | |
| > In Polen hat die Opposition die rechtspopulistische PiS besiegt. Das ist | |
| > ein wichtiger Erfolg im globalen Kampf für die liberale Demokratie. | |
| Bild: Jubel bei der polnischen Opposition und bei Donlad Tusk nach der Wahl am … | |
| Beginnen wir mit einem kurzen Ausflug in die politische Ideengeschichte. Im | |
| Palazzo Publico in Siena [1][kann man Fresken bewundern, die von Ambrogio | |
| Lorenzetti im 14. Jahrhundert gemalt wurden]. Auf der rechten Seite hat der | |
| Künstler die Früchte des guten Regierens dargestellt. Hier finden wir | |
| Personifikationen der Kardinaltugenden wie Tapferkeit, Besonnenheit und | |
| Gerechtigkeit. | |
| Aber etwas anderes ist noch viel interessanter. In einer gut regierten | |
| Stadt gibt es Lebendigkeit und Freude. Hier wird Kleidung hergestellt und | |
| verkauft, dort werden Schafe gehütet, woanders wiederum baut eine Gruppe | |
| von Menschen ein Haus. Eine Reihe von Figuren tanzt mitten auf der Straße. | |
| Lorenzettis politische Abhandlung in Gemäldeform ist eine Reflexion über | |
| kollektive Gefühle – und sie hat auch wichtige Erkenntnisse für unser Hier | |
| und Jetzt in Polen. Für die Freunde der liberalen Demokratie ist das | |
| Ergebnis der polnischen Wahl vom Sonntag – das nun bestätigt und offiziell | |
| bekannt gegeben wurde – ein Grund zur Freude. Die Wahlbeteiligung übertraf | |
| alle Erwartungen. [2][Mit fast 75 Prozent ist sie sogar höher als 1989,] | |
| als die Polen über das erste freie Parlament nach dem Kommunismus | |
| entschieden. | |
| Obwohl die bisher regierende populistische Partei Recht und Gerechtigkeit | |
| (PiS) mit fast 36 Prozent das beste Ergebnis erzielte, hat die potenzielle | |
| Koalition der liberaldemokratischen Parteien (Bürgerplattform, Dritter Weg, | |
| Linke) eine Mehrheit, die es ihr ermöglicht, eine Regierung zu bilden. | |
| Zusammen kommen sie auf fast 54 Prozent. | |
| ## „Polen ist zurück!“ | |
| Schon lange nicht mehr haben die Menschen in unserem Land in den Geschäften | |
| und in den öffentlichen Verkehrsmitteln gejubelt und Kommentare über den | |
| Wahlsieg ausgetauscht. Auch Freunde aus dem Ausland schicken uns Kommentare | |
| voller Freude. „Polen ist zurück!“ – „Ihr habt es wieder geschafft“, | |
| schreiben sie. | |
| Das ist wichtig. In der demokratischen Praxis gibt es nur wenige Momente | |
| der unverfälschten Freude. Vielmehr ist der Alltag durchzogen von | |
| Spannungen, ausfransenden Kompromissen und dem Abwägen von Argumenten und | |
| Rechten verschiedener Gruppen. Es mangelt nicht an Frustration, die durch | |
| die charakteristische Langsamkeit des Handelns verursacht wird. | |
| Umso wertvoller ist dieser Moment des Innehaltens und der Zufriedenheit – | |
| vor dem Alltagstrott der Koalitionsverhandlungen, den unvermeidlichen | |
| Streitigkeiten, der Ungeduld der Wähler und den Fehden mit den Gegnern. | |
| Dieser Moment des Innehaltens kann auch genutzt werden, um einen etwas | |
| breiteren Blick auf das zu werfen, was in den kommenden Monaten und Jahren | |
| vor uns liegt. Polens Wahlen sind von nationaler Bedeutung, aber sie sind | |
| auch aus europäischer und globaler Perspektive wichtig. Schauen wir uns an, | |
| was die wichtigsten Punkte sind, über die wir in diesem Zusammenhang | |
| nachdenken sollten. | |
| ## Durch die Linse der PiS | |
| Erstens, um den oben bereits erwähnten Satz zu verwenden: „Polen ist | |
| zurück“ … aber das stimmt so nicht ganz. Ja, eine Opposition, die ihr | |
| Engagement für liberal-demokratische Werte betont, hat die Wahlen in Polen | |
| gewonnen. Die Chancen stehen gut, dass in den nächsten Jahren die | |
| Rechtsstaatlichkeit wiederhergestellt wird, insbesondere die Unabhängigkeit | |
| der Justiz und die Gewaltenteilung. | |
| Andererseits wird Polen entgegen der landläufigen Meinung, vor allem | |
| außerhalb des Landes, nicht einfach dorthin zurückkehren, wo es vor 2015 | |
| stand. | |
| Was bedeutet das? Fast ein Jahrzehnt lang wurde Polen von außen durch die | |
| Linse der PiS betrachtet. Was in dem Land geschah, vor allem wenn es gegen | |
| den europäischen Mainstream ging, wurde oft als Folge des Charakters der | |
| PiS als antieuropäische und populistische Partei interpretiert. So wurde | |
| zum Beispiel die allgemeine Stimmung in Polen gegenüber Deutschland | |
| gedeutet. Die kritische Einschätzung dieses Landes wurde auf die von der | |
| PiS verbreitete antideutsche Propaganda zurückgeführt. | |
| Bei einigen Forderungen, zum Beispiel in Bezug auf die Reparationen für | |
| den Zweiten Weltkrieg, wurde darauf gewartet, dass die PiS-Regierung die | |
| Wahlen verliert, in dem Glauben, dass die Forderungen sich nach den Wahlen | |
| einfach in Luft auflösen würden. Das muss aber gar nicht der Fall sein. | |
| Tatsächlich gab es in Polen zwei parallele Prozesse des Nachdenkens über | |
| Deutschland. | |
| ## Polen will nicht mehr Juniorpartner sein | |
| Der erste wurde in der Tat [3][durch antideutsche Propaganda angetrieben], | |
| die von den nationalen Medien verbreitetet wurde. Der zweite, parallel | |
| verlaufende Prozess war und ist jedoch mit dem harten Urteil über die | |
| tiefgreifenden Fehler verbunden, die Deutschland mit Wladimir Putins | |
| Russland gemacht hat. Und mit dem deutschen Ignorieren der Bedrohung, die | |
| Russland für die kleinen Länder in Ost- und Mitteleuropa darstellt. | |
| Gleichzeitig will Polen, wie auch andere Länder in der Region, nach mehr | |
| als 30 Jahren des demokratischen Übergangs nicht länger die Rolle des | |
| Juniorpartners spielen. Daher könnten Themen wie Reparationen, | |
| Geschichtspolitik und Ostpolitik von einer möglichen neuen Regierung ganz | |
| anders und weniger nachsichtig gestaltet werden als noch vor 10 Jahren. | |
| Zweitens: In Polen wird derzeit tatsächlich Geschichte geschrieben. Aber | |
| dies ist nicht nur die Geschichte der Dritten Republik, wie die Polen ihren | |
| Staat nach dem Fall des Kommunismus 1989 nennen. Und es ist auch nicht nur | |
| die Geschichte der polnischen Demokratie. Es ist auch die Geschichte des | |
| globalen Kampfs zwischen liberaler Demokratie und nationalem Populismus. | |
| Bisher hatte es den Anschein, als würde Polen das von Viktor Orbán | |
| entworfene Szenario einfach wiederholen. Jetzt scheint es jedoch so, dass | |
| die Dinge ganz anders liegen. Die nächsten Jahre werden zeigen, welchen Weg | |
| Polen eher einschlagen wird. | |
| ## Verschiedene Wege | |
| Es könnte ein Weg sein, den wir als dänisch bezeichnen könnten. Polen würde | |
| dann eine populistische Agenda bis zu einem gewissen Grad in eine | |
| zentristische Politik und den Rechtsstaat integrieren. Das geschieht zum | |
| Beispiel in Dänemark, [4][wo die sozialdemokratische Ministerpräsidentin | |
| Mette Frederiksen die von den Populisten vorgeschlagene harte | |
| Migrationspolitik weitgehend übernommen hat.] | |
| Ein anderer möglicher Weg ist der venezolanische. Das würde bedeuten, dass | |
| Polen nach einer relativ kurzen Regierungszeit der Liberaldemokraten von | |
| der PiS-Partei in eine weitere lange populistische Ära gestürzt würde. | |
| Ein weiterer möglicher Weg wird von den USA vorgegeben – zumindest | |
| potenziell, denn wir wissen noch nicht, wie die Präsidentschaftswahlen 2024 | |
| in diesem Land ausgehen werden. In diesem Fall wird Polen alle ein bis zwei | |
| Wahlperioden [5][entweder von liberalen Demokraten oder von | |
| Nationalpopulisten übernommen]. Es stellt sich die Frage, ob Demokratie | |
| möglich sein wird, wenn das politische System nach jedem Sieg der | |
| jeweiligen Seite umgestaltet wird. | |
| Eng damit verbunden ist die Frage, wie es mit einer national-populistischen | |
| Partei wie der PiS weitergehen wird. Zugegeben, sie ist eine Partei, die | |
| eng mit der Person von Jarosław Kaczyński verbunden ist. Man kann sich | |
| jedoch vorstellen, dass die PiS im Falle seines Abgangs zu einer festen | |
| Größe in der polnischen politischen Landschaft werden würde. | |
| Vielleicht kommt es dann zu einer weiteren antiliberalen Radikalisierung | |
| dieser Gruppierung – oder, im Gegenteil, zu einer Aufweichung und einer | |
| Einbindung in den liberal-demokratischen Konsens. | |
| So oder so, unabhängig von der von der Opposition errungenen Mehrheit ist | |
| die Herausforderung durch die populistische Gruppierung in der Politik | |
| keineswegs geringer geworden. In Polen herrscht eine Atmosphäre, als ginge | |
| die Rivalität zwischen Donald Tusk und Jarosław Kaczyński auf Leben und | |
| Tod. Es wird davon ausgegangen, dass derjenige, der gewinnt, die Bewertung | |
| der Leistungen der Dritten Republik prägen wird. Das begünstigt das | |
| Fortbestehen einer starken Polarisierung. | |
| Auf dem Fresko von Ambrozio Lorenzetti aus dem 14. Jahrhundert tanzen | |
| einige der Figuren fröhlich, aber der aufmerksame Betrachter wird schnell | |
| bemerken, dass dies etwas abseits stattfindet. Die Figuren in der Mitte | |
| schauen den Betrachter mit einem ernsten Gesichtsausdruck an. Vielleicht | |
| entsteht wahre Demokratie genau an der Schnittstelle dieser beiden | |
| Emotionen. | |
| 22 Oct 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Ambrogio_Lorenzetti#Freskenzyklus_in_der_Sala… | |
| [2] /Wahlausgang-in-Polen/!5963726 | |
| [3] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/polen-wahlkampf-anti-deutsch-100.h… | |
| [4] /Neue-Regierungskoalition-in-Daenemark/!5902755 | |
| [5] /US-Repraesentantenhaus-sucht-Sprecher/!5967550 | |
| ## AUTOREN | |
| Jaroslaw Kuisz | |
| Karolina Wigura | |
| Jarosław Kuisz und Karolina Wigura | |
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