# taz.de -- Museen und riskante Provenienz von Kunst: Wenn die Lücke zur Lähm… | |
> Ein Porträt des Anarchisten Erich Mühsam kommt doch nicht in die Sammlung | |
> der Neuen Nationalgalerie Berlin. Liegt es an der Provenienz? | |
Bild: „Portrait Erich Mühsam“, 1907 von Auguste Herbin in Paris gemalt (Au… | |
Unschuldsvermutung ist ein hohes Gut. Dies sollte auch für ein Kunstwerk | |
gelten, das in den Fokus der Provenienzforschung geraten ist – | |
routinehalber, denn es haftet ihm zunächst einmal nichts Negatives an. Es | |
geht um ein verblüffend lebensnahes Porträt. Der 25-jährige französische | |
Künstler Auguste Herbin hat es 1907 vom deutschen Schriftsteller, [1][dem | |
späteren Anarchisten und Antimilitaristen], Erich Mühsam gemalt. | |
Das großformatige Bild war bis letzten Sonntag in der Ausstellung „Die | |
Kunst der Gesellschaft – 1900–1945 – Sammlung der Nationalgalerie“ und | |
damit zwei Jahre lang in Berlin zu sehen. Eigentlich sollte es für die | |
Nationalgalerie angekauft werden und dauerhaft in Deutschland bleiben. Doch | |
jetzt wird die Leihgabe an seine Besitzerin zurücktransportiert, die | |
Galerie Lahumière in Paris. | |
Das Bild stammt aus der Zeit der Wanderjahre Mühsams. Er hatte sich 1907 | |
entschlossen, für einige Zeit nach Paris zu fahren. Dort widerfuhr dem | |
29-jährigen Literaten und Journalisten das, wovon junge deutsche Maler wie | |
Paula Modersohn-Becker oder August Macke geträumt hätten: Am Montmartre | |
stieß Mühsam im düsteren Bohème-Lokal „Lapin Agile“ auf die Clique der | |
Avantgarde um Pablo Picasso. Und zu der gehörte Auguste Herbin. | |
Herbin war gerade dabei, sich vom farbintensiven, wilden Stil des Fauvismus | |
zu lösen und dem Kubismus zu nähern. Diesen künstlerischen Zwischenschritt | |
spiegelt das Porträt von Erich Mühsam. Gut zwanzig Jahre später wird sich | |
der Schriftsteller in einem Artikel in der Vossischen Zeitung an die | |
Episode mit seinem Bildnis erinnern, das in Paris geblieben war. Da war er | |
längst zu einem unerbittlich kritischen und unbequemen Beobachter in der | |
Weimarer Republik geworden. | |
Einem Seismographen gleich, hatte er schon 1921 begonnen, den kometenhaften | |
Aufstieg Hitlers und der Nationalsozialisten in seinem Tagebuch mit Sorge | |
zu kommentieren. In den fünf Monaten der Jahreswende von 1922/23 erwähnte | |
er allein den Namen Adolf Hitler 43 Mal. | |
## 1934 von der SS im KZ Oranienburg ermordet | |
Das sollte nicht ohne Folgen bleiben. Bei erster Gelegenheit wurde der | |
Freidenker jüdischer Herkunft 1933 verhaftet und eingesperrt. Es hieß dann | |
1934, man habe ihn erhängt aufgefunden. Doch das glaubte schon damals | |
niemand, erst recht nicht „Zenzl“, seine aus Oberbayern stammende Witwe | |
Creszentia. Mühsam wurde, da gibt es heute keine Zweifel, im KZ Oranienburg | |
von der SS ermordet, dabei ein Selbstmord inszeniert. Er gehörte damit zu | |
den ersten prominenten Opfern des Nationalsozialismus. | |
Heute, gut 100 Jahre später, sollte uns das nicht gleichgültig sein. Zwar | |
ruht der hellsichtige Denker und Warner, ein gebürtiger Berliner, in Dahlem | |
in einem Ehrengrab. Doch bestünde die Möglichkeit, Erich Mühsam heute für | |
eine größere Öffentlichkeit zu würdigen – mit dem Ankauf des auch | |
kunsthistorisch bedeutsamen Porträts von Auguste Herbin. Und zwar zugunsten | |
eines Berliner Museums, das wie kaum ein anderes dafür prädestiniert ist: | |
die Neue Nationalgalerie. Sie führt in ihrem Bau von Mies van der Rohe die | |
Kunst der Moderne im 20. Jahrhundert vor Augen. | |
Zwei Jahre war das Porträt jetzt dort zu sehen. Das hätte die Möglichkeit | |
geboten, den Ankauf des Bildes zu regeln. An Fürsprechern, wie dem Kurator | |
der Neuen Nationalgalerie, Dieter Scholz, mangelte es nicht. Doch der | |
Ankauf scheiterte schließlich an einem Dilemma, das als Kollateralschaden | |
der Provenienzforschung gelten kann. | |
Außer Frage ist Provenienzforschung wichtig. Es ist nötig herauszufinden, | |
woher die Bilder in unseren Museen stammen, wem sie etwa in den Jahren von | |
1933 bis 1945 gehörten, als jüdische Sammler und Galeristen unter Zwang | |
verkaufen mussten oder – besonders kaltblütig – durch ihre Ermordung | |
Kunstwerke aus ihrem Besitz in die Hände der Nazis fielen. | |
Provenienzforschung begegnet heute diesem Unrecht. Die mittlerweile | |
international vernetzte Disziplin hat sich seit der 1998 in Washington | |
unterzeichneten Erklärung verpflichtet, nach Kräften Kulturgut zu | |
untersuchen, das zu Zeiten des Nationalsozialismus seine Besitzer | |
gewechselt hat und damit vielleicht Raubgut darstellt. Provenienzforschung | |
ist schließlich auch die Voraussetzung für finanzielle oder ideelle | |
Entschädigungen, die Erben beraubter Eigentümer zustehen. | |
## Das Gut der Unschuldsvermutung von Kunst? | |
Museen haben in der Vergangenheit allzu leichtfertig angekauft, [2][ohne | |
die Herkunft der Kunstwerke über Gebühr zu berücksichtigen]. Doch ist das | |
Extrem der Arglosigkeit mittlerweile in ein Extrem der Lähmung | |
übergeschlagen: Heute trauen sich Museen nicht mehr, Neues zu erwerben, | |
sobald es eben Provenienzlücken gibt. Das Gut der Unschuldsvermutung von | |
Kunstwerken zählt nicht mehr. | |
Auch nicht für das Mühsam-Porträt. Denn seine Historie kann für die | |
politisch problematischen Jahre 1940 bis 1944 nicht lückenlos nachgewiesen | |
werden. In dieser Zeit der deutschen Besatzung in Frankreich, als Juden | |
verfolgt und enteignet wurden, florierte der dortige Kunstmarkt. Auf | |
Beschlagnahme-Listen oder Auktionskatalogen konnte das Mühsam-Porträt aber | |
nicht nachgewiesen werden. | |
Das Bild befand sich in diesen Jahren an einem unbekannten Ort. Durch diese | |
Provenienzlücke wird das Kunstwerk heute jedoch sozusagen unter | |
Generalverdacht gestellt, es könnte ja das Risiko einer zukünftigen | |
Restitutionsforderung geben. Deswegen wurde das Mühsam-Porträt von Herbin | |
nicht von der Neuen Nationalgalerie aufgekauft. | |
## Geringes Risiko für dubiose Wege | |
Jeder Fall, jede Historie eines Bildes liegt anders, gestaltet sich oft | |
sogar sehr komplex, Generalverdacht ist keine Lösung. Für Auguste Herbins | |
Porträt von Erich Mühsam wurden mit jedweder Transparenz Recherchen um | |
seine Provenienz betrieben. Sie blieben für die Zeit zwischen 1930 und 1958 | |
ohne Befund – ohne positiven, aber auch ohne negativen. | |
Das Mühsam-Porträt wurde seit 65 Jahren international öffentlich | |
ausgestellt, vor allem in Frankreich, Italien, Deutschland und der Schweiz, | |
erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg übrigens 1958 in Freiburg im Breisgau. | |
Reproduktionen davon wurden über Ausstellungskataloge verbreitet, auch im | |
Internet ist das Bild schon lange aufspürbar – wir wissen, wie sehr die | |
Publikmachung von Bildern kriminell oder politisch belastete Kunst zu | |
enthüllen hilft. | |
Trotzdem ist keine negative Spur zu vernehmen. Auch nicht in den vielen | |
Datenbanken, die seit der Washingtoner Erklärung gespeist werden und | |
[3][wie diejenigen des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste,] Hinweise auf | |
vermisste oder belastete Kunstwerke enthalten. | |
Das Mühsam-Porträt könnte zwischen 1930 und 1958 dubiose Wege gegangen | |
sein, dieses Restrisiko besteht. Aber es ist sehr gering.Der Schriftsteller | |
Erich Mühsam verdient es, dass in dieser Sache eine Lösung gefunden wird. | |
Sein Fall bedarf Realitätssinn und auch die Courage, eine derzeitige | |
Lähmung in den Museen zu überwinden. Hier sind letztlich Juristen gefragt | |
und Politiker. In den letzten beiden Jahren müssten einige dem Porträt des | |
Freidenkers mit Dichtermähne und Binokel in der Berliner Ausstellung | |
begegnet sein. | |
Der Autor ist Kunsthistoriker in Köln und Paris. Er hat im Auftrag der | |
Neuen Nationalgalerie Berlin die Provenienz des Mühsam-Porträts von Auguste | |
Herbin erforscht und [4][2022 veröffentlicht]. | |
28 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Notizbuecher-Erich-Muehsams-von-19261933/!5937309 | |
[2] /Restitution-von-Kandinsky-Gemaelde/!5937579 | |
[3] /BGH-staerkt-Datenbank-zu-NS-Raubkunst/!5948805 | |
[4] https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/jbm/article/view/93128 | |
## AUTOREN | |
Peter Kropmanns | |
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