| # taz.de -- Ilse Aigner über Debattenkultur: „Diese moralische Attitüde ner… | |
| > Die Debattenkultur hat einen Tiefpunkt erreicht, findet Bayerns | |
| > Landtagspräsidentin Aigner. Die CSU-Politikerin plädiert für einen | |
| > anderen Umgang unter Politikern. | |
| Bild: Ralf Stadler (AfD) stört die Rede von Katharina Schulze (Grüne) währen… | |
| taz: Frau Aigner, freuen Sie sich schon auf die nächsten fünf Jahre mit den | |
| Freien Wählern? | |
| Ilse Aigner: Der Gedanke daran bereitet mir zumindest keine Bauchschmerzen. | |
| Wir haben ja mit den Freien Wählern gut zusammengearbeitet. Und ich wüsste | |
| nicht, warum wir das nicht weiterhin tun sollten. Die Schnittmengen | |
| zwischen CSU und Freien Wählern sind schon sehr groß. | |
| Aber Sie müssen doch eine Mordswut haben: [1][Da ist die CSU wegen | |
| Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger ohne ihr Zutun in eine Affäre | |
| hineingeschlittert] und stand plötzlich vor einer Situation, wo sie nur | |
| verlieren konnte. | |
| Es ist ja keine Frage, dass mir lieber gewesen wäre, wenn das Ganze nicht | |
| vorgefallen wäre. Aber ich finde gut, [2][wie Markus Söder mit der Sache | |
| umgegangen ist]. Er hat so entschieden, wie ich das auch erwartet habe. | |
| Andernfalls hätten wir im bürgerlichen Lager große Schwierigkeiten | |
| bekommen. | |
| Sie waren wirklich zufrieden, wie die Sache gelaufen ist? | |
| Ich hätte mir gewünscht, dass Hubert Aiwanger schneller reagiert und sich | |
| früher entschuldigt hätte, dann hätten wir die ganze Diskussion nicht | |
| gehabt. Aber [3][schließlich hat er sich entschuldigt], und damit ist das | |
| Thema jetzt auch durch. | |
| Aiwanger spricht von einer Schmutzkampagne gegen ihn. Sehen Sie die auch? | |
| Nein, eine Kampagne erkenne ich nicht. Aber ich frage mich schon, ob man | |
| diese Story zu einer Zeit hätte veröffentlichen sollen, wo die Faktenlage | |
| noch so dünn war, wo kein einziger Zeuge bereit war, sich namentlich nennen | |
| zu lassen oder eine eidesstattliche Versicherung abzugeben. Das hat dazu | |
| beigetragen, dass es für viele in der Bevölkerung wie eine Kampagne gewirkt | |
| hat. | |
| Es gab ja breite Zustimmung dafür, Aiwanger im Amt zu belassen – [4][bis | |
| hin zu Leuten, die mit ihm sehr hart ins Gericht gegangen sind wie | |
| Charlotte Knobloch und Josef Schuster]. Oft wurde argumentiert, andernfalls | |
| hätte man Aiwanger zum Märtyrer gemacht. Ein Argument, das Sie teilen? | |
| Ich teile zumindest die Befürchtung. Dieser Opfermythos wäre sicherlich in | |
| weiten Teilen der Bevölkerung verfangen. Da, wo es ohnehin schon den | |
| Verdacht gibt, dass die veröffentlichte Meinung von oben gesteuert wird. In | |
| den Augen solcher Leute wäre das natürlich nur der Versuch gewesen, | |
| jemanden mundtot zu machen. | |
| Wie haben Sie Aiwanger während der vergangenen Legislatur im Landtag | |
| wahrgenommen? | |
| Definitiv nie als Antisemiten. Natürlich ist nicht jede Aussage von ihm auf | |
| mein Wohlwollen gestoßen, manches war auch grenzwertig. Es hat sich ja in | |
| Sachen Debattenkultur in den letzten Jahren ohnehin viel verändert. Das hat | |
| aber nicht nur mit einer Person zu tun, sondern mit einer ganz neuen | |
| Konstellation: Wir haben mittlerweile sechs verschiedene Parteien im | |
| Landtag, die alle versuchen, in der öffentlichen Wahrnehmung vorzukommen, | |
| was nicht immer der Qualität der Auseinandersetzung zugute kommt. Und vor | |
| allem hat das mit dem Einzug einer Partei in den Landtag zu tun. | |
| Sie reden von der AfD, die seit 2018 im Parlament sitzt. Würden Sie denn | |
| sagen, dass die Debattenkultur auf einem Tiefpunkt angelangt ist? | |
| Leider ja. Die aktuelle Situation macht mir große Sorgen. Das betrifft | |
| nicht nur den bayerischen Landtag. Wir sehen das auch im Bundestag und | |
| anderen Parlamenten, wie da das System verächtlich gemacht wird, Kollegen | |
| diskreditiert und herabgesetzt werden. Deshalb müssen wir uns schon über | |
| den Stil unterhalten. Das Bild, das wir da teilweise nach außen abgeben, | |
| ist nicht gut. | |
| Was waren für Sie die schlimmsten Vorfälle während der vergangenen | |
| Legislatur? | |
| Der absolute Tiefpunkt war [5][die Sache mit der Gasmaske]. Dass in einem | |
| deutschen Parlament einer mit einer Gasmaske am Rednerpult steht, um gegen | |
| die Maskenpflicht zu demonstrieren – das ist doch unfassbar. Auch [6][dass | |
| große Teile der AfD-Fraktion während der Rede von Charlotte Knobloch den | |
| Saal verlassen haben], hat mich wirklich schockiert. Dazu kommt aber auch, | |
| dass aus der Mitte des Landtags heraus Fake News produziert wurden. Einmal | |
| war ich ja selbst betroffen, als ein AfD-Abgeordneter ein Foto kursieren | |
| ließ, [7][auf dem ich vermeintlich mit Kindern AfD-Luftballons steigen | |
| lassen habe]. Natürlich war das eine Fotomontage. | |
| Wo wir gerade bei der AfD sind: [8][In Thüringen hat Ihre Schwesterpartei | |
| CDU jetzt mit den Stimmen der AfD eine Steuersenkung durchgesetzt.] Ein | |
| Tabubruch? | |
| Ich sehe das als keinen Tabubruch. Die CDU-Fraktion im Thüringer Landtag | |
| hat einen eigenen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, dem andere | |
| Fraktionen zugestimmt haben. Die sehr instabile Minderheitsregierung hätte | |
| sich ja im Vorfeld bewegen und auf die demokratische Opposition zugehen | |
| können – das tat sie aber nicht. Die AfD ist im Osten leider ein großer | |
| Player, und die CDU muss unabhängig von ihr Politik machen können. Man kann | |
| nicht aus lauter Angst vor einer Zustimmung durch die AfD in eine | |
| politische Lähmung verfallen. Das wäre für die Demokratie fatal und würde | |
| der AfD in die Hände spielen. Übrigens haben auch andere Parteien schon wie | |
| die AfD abgestimmt. | |
| Zurück nach Bayern: Sie haben während der vergangenen fünf Jahre über zwei | |
| Dutzend Rügen ausgesprochen – ein absoluter Rekord. | |
| 27 waren es genau. 23 davon allein an Abgeordnete der AfD. Aber was mich so | |
| nachdenklich stimmt: Es hat überhaupt keine Wirkung gezeigt. Teilweise | |
| tragen die ihre Rügen wie Trophäen vor sich her. Nach dem Motto: Jetzt habe | |
| ich’s denen mal richtig gezeigt. Deshalb denken wir jetzt auch über | |
| Verschärfungen nach. | |
| Sie wollen einen „Demokratiekodex“ einführen. | |
| Bei dem „Demokratiekodex“ geht es um Fälle, in denen sich Abgeordnete | |
| außerhalb des Parlaments komplett daneben benehmen – sei es bei | |
| Veranstaltungen oder in Sozialen Medien. Da haben wir vom Landtag aus bis | |
| jetzt überhaupt keine Handhabe. Ich habe vor allem die sozialen Medien im | |
| Kopf, weil da geht es sehr schnell mit Verschwörungstheorien, mit Fake News | |
| und technischen Manipulationen los. Die Grundidee ist, dass sich | |
| Abgeordnete freiwillig mit ihrer Unterschrift verpflichten, auf so etwas zu | |
| verzichten. Und wenn dann jemand ganz offensichtlich gegen diesen Kodex | |
| verstößt, hat das vielleicht doch eine entsprechende Außenwirkung. | |
| Aber auch den Rügen wollen Sie etwas Nachdruck verleihen. | |
| Das wirksamste Mittel dürften hier wohl Geldstrafen sein, wie es sie | |
| beispielsweise auch im Bundestag gibt. Die Details, auch die Höhe, prüfen | |
| wir gerade noch. | |
| Ein Großteil des Problems liegt ja, wie Sie sagen, außerhalb der | |
| Parlamentsmauern: Haben wir da manchmal zu viel Stammtisch, zu viel | |
| Bierzelt, zu viel Twitter oder X, wie es sich jetzt nennt – und zu wenig | |
| Austausch? | |
| Beim Bierzelt bin ich eher großzügig – schon allein, weil es einfach zur | |
| bayerischen Lebensart dazugehört, und natürlich wird da zugespitzter | |
| formuliert. Viel gefährlicher finde ich die Sozialen Medien, wo sich in | |
| relativ geschlossenen Kreisen Fake News und Verschwörungstheorien | |
| unglaublich schnell ausbreiten. Das macht mir wesentlich mehr Angst, als | |
| wenn im Bierzelt mal ein bissl markant diskutiert wird. | |
| Bräuchten wir generell einen verbalen Abrüstungspakt? | |
| Zumindest sollten wir Politiker immer bedenken, welche Außenwirkung wir | |
| haben. Und dazu gehört natürlich, wie man mit den politischen Mitbewerbern | |
| umgeht. Ich spreche bewusst von Mitbewerbern, nicht von Gegnern. Mir muss | |
| deren inhaltliche Ausrichtung nicht gefallen. Trotzdem kann ich sie mit | |
| Respekt behandeln und in der Argumentation sachlich bleiben. | |
| Ihre Partei ist da ja auch kein Unschuldslamm. CSU-Chef Söder lässt kaum | |
| eine Gelegenheit aus, den Kulturkampf heraufzubeschwören. [9][Da geht es | |
| dann nur noch um Wokeness, Gendern, Fleischkonsum …] | |
| Die Themen haben wir ja nicht erfunden. Vielleicht sollte man sich da zum | |
| Beispiel auch bei den Grünen mal überlegen, ob es wirklich zwingend | |
| notwendig ist, die Leute zu belehren und zu erziehen, ihnen zu sagen, dass | |
| sie nicht so viel Fleisch essen sollen. Es ist diese moralische Attitüde, | |
| die die Leute einfach nervt. Und ich finde, dass es auch die Aufgabe eines | |
| Politikers ist, die Themen aufzugreifen, die die Leute bewegen. | |
| Ursula Münch, die Leiterin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, | |
| meinte jüngst in einem Interview, sie unterstelle Politikern wie Söder | |
| schon auch, „nicht nur eine Stimmung der Bevölkerung aufzugreifen, sondern | |
| diese Stimmung anzuschüren“. Wenn Sie zu einer Grünen-Veranstaltung gehen, | |
| werden Sie recht wenig über die angeblichen Pläne zur Zwangsveganisierung | |
| hören, im Wahlkampf Ihrer Partei dafür umso mehr. | |
| Ich muss gestehen, dass ich selten zu Grünen-Veranstaltungen gehe. Aber | |
| diese Themen werden durchaus auch in Berlin gespielt. Und es sind ja nicht | |
| nur die Grünen. Das Thema ist doch im Alltag präsent: Da gibt es die | |
| Schulkantinen, die ihren Speiseplan in puncto Fleisch reduzieren. Und | |
| natürlich spielen da auch die Medien eine Rolle. Gendert die taz nicht | |
| auch? | |
| Wir halten es da mit der Liberalitas Bavariae: Das machen die Autorinnen | |
| und Autoren, wie sie wollen. | |
| Sehen Sie: Mit der bayerischen Lebensart liegt man nie verkehrt. | |
| Es sind kaum mehr als zwei Wochen bis zur Wahl. Während Markus Söder immer | |
| die Latte möglichst tief hängen wollte, haben Sie gern mal durchklingen | |
| lassen, dass für die CSU 40 Prozent plus X schon drin sein sollte. Finden | |
| Sie das immer noch? | |
| Natürlich gefallen mir die aktuellen Umfragen unter dem Eindruck der | |
| Aiwanger-Affäre nicht. Aber ich glaube immer noch, dass eine Volkspartei | |
| wie die CSU großes Potenzial hat. Jetzt geht es darum, dieses bis zum 8. | |
| Oktober maximal auszuschöpfen. | |
| 28 Sep 2023 | |
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