# taz.de -- Die Wahrheit: Die gute alte Ware Humanität | |
> Ähnlich der Idee der Emissionszertifikate sollen Migrationszertifikate | |
> die Zuwanderung in die EU steuern. Der Markt wird es, so will es die FDP, | |
> richten. | |
Es ist sonnig in der Bundespressekonferenz, FDP-Chef Christian Lindner ist | |
braungebrannt und gut gelaunt. Nicht einmal das Knöllchen, das er nachher | |
an der Windschutzscheibe vorfinden wird, weil er seinen Porsche mal wieder | |
diagonal auf dem Frauen- und Behindertenparkplatz abgestellt hat, kann ihm | |
heute die Stimmung verderben. Denn er hat die Lösung. | |
„Hier wird heute die europäische Migrationspolitik auf völlig neue Füße | |
gestellt“, jubelt Lindner, während neben ihm Nicola Beer, Vizepräsidentin | |
des EU-Parlaments, eifrig nickt. „Und diese Füße taugen was“, fährt Lind… | |
fort, „denn diese Füße sind aus Geld.“ | |
Dritter auf dem Podium ist Prof. Dr. Jobst von Hankel, | |
Wirtschaftswissenschaftler am FDP-nahen Jürgen W. Möllemann-Institut für | |
Fallzahlen und pfiffige Ideen sowie Leiter des parteieigenen Thinktanks | |
FutureLab Migration. | |
„Wir wollen das unwürdige Schachern unter den EU-Staaten zum Ende bringen“, | |
hebt von Hankel an, doch Lindner fällt ihm ins Wort, den markigen Spruch | |
will er selbst abgreifen: „Und zwar wollen wir das unwürdige Schachern | |
ersetzen durch ein würdiges Schachern.“ In Lindners Kunstpause will kein | |
Applaus erklingen, aber das kann dem FDP-Chef an diesem Tag nicht die Laune | |
verderben. | |
## Christian Lindner grinst wie ein Honigkuchenpferd | |
„Die Idee ist so einfach wie genial. Wir machen es wie beim Klima. Wir | |
geben Flüchtlingszertifikate, also Migrationszertifikate aus. Den Rest | |
regelt der Markt.“ Christian Lindner grinst wie ein Honigkuchenpferd, das | |
soeben von der GQ zum Mr Silverdaddy 2023 gewählt wurde. Wie aber soll das | |
denn funktionieren? Wir sind nicht die einzigen Medienvertreter, die etwas | |
skeptisch dreinblicken. | |
„Der Professor wird es Ihnen erklären“, sagt Nicola Beer, um auch mal etwas | |
zu sagen. Dann erklärt der Professor. Er ist ausgewiesener Fachmann, Ökonom | |
mit zeitweiligem Harvard-Lehrstuhl, 2017 ausgezeichnet mit dem Nobelpreis | |
der Wirtschaftswissenschaften für seine bahnbrechenden Forschungen zum | |
angewandten Zynismus in der Moralwirtschaft. | |
„Wir müssen die Migration mit dem Auge des Markes betrachten“, doziert er | |
höchst professoral. „Der Mensch an sich hat ja keinen Marktwert. Es sei | |
denn, er ist Konsument, aber das sind ja zum Glück die meisten – | |
ausgenommen die armen Schlucker, die wir an den EU-Außengrenzen aus dem | |
Wald oder dem Meer ziehen. Die sind keine Marktteilnehmer und, seien wir | |
ehrlich, werden es auch nicht so schnell.“ | |
Durch die Bundespressekonferenz geht ein ungläubiges Zischen, wie es | |
entsteht, wenn rund 60 Journalisten beinahe gleichzeitig die Atemluft | |
zwischen den Zähnen einziehen. Selbst Christian Lindner senkt kurz seinen | |
Blick zur Tischplatte, als überlege er, wann die mal wieder abgeschliffen | |
werden muss und wer das bezahlen soll. | |
„Und da kommt der Zertifikatshandel ins Spiel“, beeilt sich von Hankel zu | |
erläutern. „Denn wir schreiben jedem Flüchtling einen Wert zu.“ Das | |
Auditorium atmet kollektiv aus. Der Gedanke, den der freidemokratische | |
Ökonom nun ausbreitet, ist tatsächlich einfach: Für jeden anlandenden | |
Flüchtling gibt die EU ein Zertifikat aus. Dieses Zertifikat hat einen noch | |
zu bestimmenden Wert. Jedes Land, das keine Flüchtlinge aufnehmen möchte, | |
muss dies nicht mehr bei tagelangen EU-Gipfeln aushandeln, sondern kauft | |
sich entsprechende Zertifikate. | |
Kommen immer mehr Flüchtlinge an und wollen zu viele europäische Länder | |
keine oder zu wenige davon, steigt der Preis. „Unter Umständen steigt er | |
sogar so hoch, dass es selbst für Ungarn oder Polen lukrativer sein könnte, | |
Menschen aufzunehmen, statt sich freizukaufen!“, frohlockt der Ökonom. „Der | |
Markt selbst regelt die Willkommenskultur!“ | |
Auch Christian Lindners Augen glänzen: „Sie sehen, meine Damen und | |
Herren, wir berechnen hier Mitmenschlichkeit gerade völlig neu! Humanität | |
wird erst dann möglich, wenn wir Flüchtlinge als Ware betrachten.“ Der | |
Professor ergänzt: „Na, und wenn plötzlich weniger Migranten kommen oder | |
alle EU-Staaten linksliberal regiert werden, sinkt automatisch der Preis | |
der Zertifikate“. Lindner unterbricht ihn sofort: „Dieses Szenario | |
betrachten wir besser nicht.“ | |
„Nein nein“, widerspricht von Hankel. „Das ist schon wichtig. Denn ohne n… | |
eintreffende Migranten sänke natürlich der Preis der Zertifikate, sie | |
würden wertlos. Es ist also im Interesse aller, dass der Zustrom von | |
Flüchtenden nie ganz abreißt.“ | |
## Ein höchst joviales Lachen | |
Die versammelte Journaille schüttelt ungläubig den Kopf. „Und das | |
funktioniert?“, fragt der Korrespondent der FAZ. „Das funktioniert“, ist | |
Jobst von Hankel überzeugt. „Zumindest solange die Zahl der in der EU | |
unerwünschten Flüchtlinge höher ist als die Zahl der tatsächlich | |
eintreffenden Menschen. Aber da können wir in der EU wohl immer von | |
ausgehen.“ Er lacht jovial. | |
Und was geschieht mit den Gewinnen aus dem Handel? „Ein sehr guter Punkt“, | |
ergreift die Vizepräsidentin des EU-Parlaments Beer das Wort: „Die EU kann | |
damit finanzieren, was die geflüchteten Menschen am dringendsten brauchen: | |
Unterbringung, Qualifizierung, Abschiebung, so was halt.“ | |
Eine Kollegin vom Evangelischen Pressedienst fragt, ob es nicht zynisch | |
wäre, auf eine solche Weise mit Menschen zu handeln. Auf die Frage scheint | |
Christian Lindner nur gewartet zu haben. „Nein, meine Dame. Zynisch ist, | |
was die Schleuser tun. Wir handeln hier ja gar nicht mit Menschen. Der | |
ganze Zertifikatshandel geht ja um keine Menschen. Also kann er gar nicht | |
menschenfeindlich sein.“ | |
Wir sind noch dabei, den Ansatz zu durchdenken. Gäbe es in einem Land | |
beispielsweise öffentliche Naziaufmärsche gegen Geflüchtete, wüsste alle | |
Welt: Besagtes Land muss jetzt dringend Zertifikate kaufen. Der Preis würde | |
steigen, weswegen auch die EU mehr für den Migrations-Etat einnähme. Aber | |
könnte es nicht Missbrauchsmöglichkeiten geben? Kein Finanzderivat, an dem | |
sich nicht Menschen schon unmoralisch bereichert hätten. | |
„Ja, der Kollege von der taz bitte?“, werden wir aufgerufen. Wenn diese | |
Flüchtlingszertifikate dann frei an den Börsen handelbar sind, dann könnten | |
findige Trader ja auf die Idee kommen, auf steigende oder fallende Kurse zu | |
wetten, „mit Termingeschäften und allem Pipapo“, geben wir zu bedenken. | |
„Oder kriminelle Insidergeschäfte: Ich bin Schleuser und wette auf sinkende | |
Kurse …“ – „… und dann gehen plötzlich ein paar Ihrer Boote unter“… | |
der Professor unseren Gedanken zu Ende. „Kann ich nicht empfehlen, dafür | |
gibt es ein saftiges Bußgeld von der EZB.“ | |
„Sie sehen, auch das regelt der Markt“, freut sich Christian Lindner | |
stellvertretend für die FDP und schließt die Pressekonferenz so begeistert, | |
wie er sie eröffnet hat: „Vielen Dank für Ihr Interesse an einer gänzlich | |
neuen Grenzhumanität.“ | |
30 Sep 2023 | |
## AUTOREN | |
Volker Surmann | |
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